Der Schuss aus der Pistole ging direkt neben ihrem Ohr los. Haisha B. (45) zuckte zusammen, hörte ein schrilles Pfeifen und dann ein langanhaltendes Piepen. Sie hält sich die Ohren zu – auch heute noch, während sie mit ihrem Hund spazieren geht und von der Silvesternacht vor zwei Tagen erzählt. „Ich hatte einen Hörsturz“, sagt die Berliner Erzieherin. Den ganzen ersten Januar habe sie in der Notaufnahme sitzen müssen. Noch immer könne sie auf dem einen Ohr nicht richtig hören.
In der High-Deck-Siedlung in Neukölln liegen auch am Dienstagnachmittag noch die Patronenhülsen der Schreckschusspistolen auf der Straße, immer wieder hört man das Krachen von Böllern, man sieht kleine Jungs, vielleicht dreizehn, vierzehn Jahre alt, mit bandagierten Fingern. Die Nachwehen der Silvester-Krawalle, hier sind zu sehen, an jeder Ecke.
Die vergangene Silvesternacht wird wohl als eine der brutalsten und chaotischsten in die Geschichte Berlins eingehen. Nicht nur in Neukölln, sondern im ganzen Stadtgebiet kam es zu erheblichen Ausschreitungen. Die Polizei beschreibt in ihrer Silvester-Bilanz derartig viele Fälle, dass es erschreckend ist: So schossen gegen 20 Uhr „eine Vielzahl von Jugendlichen am Bahnhof Gesundbrunnen mit Pyrotechnik und Schreckschusswaffen um sich“. Kurz nach Mitternacht explodierte auf der Suarezstraße in Charlottenburg ein „sprengstoffartiger Gegenstand“, dabei gingen die Scheiben zweier geparkter Fahrzeuge sowie umliegender Geschäfte und Wohnungen zu Bruch.
Auf dem Marktplatz warfen Jugendliche die Fenster eines Ladens ein
Die Neuköllner High-Deck-Siedlung, in den 70er-Jahren mit 2551 Wohnungen gebaut, war einer der Hotspots der Silvester-Nacht. Direkt hier an der Sonnenallee ging ein Reisebus in Flammen auf, nur einer der Schäden. Auf dem Marktplatz des Sonnencenters warfen Jugendliche die Fenster eines Ladengeschäfts ein und setzten es mit Raketen in Brand. Auch Wohnungen brannten.
Jugendliche hatten Feuerwerkskörper auf die Balkone geworfen, sagt ein junger Mann. Er fand es „cool“, habe aber auch einem Kumpel helfen müssen, die Möbel von seinem brennenden Balkon zu räumen, erzählt er. Und auch an anderen Orten in der Umgebung kam es zu heftigen Ausschreitungen. Nur ein paar Straßen weiter lockte eine größere Gruppe einen Feuerwehrwagen mit brennenden Barrikaden in einen Hinterhalt und attackierte die Rettungskräfte mit Pflastersteinen und Feuerwerkskörpern.
„Ich traue mich schon seit Monaten nicht mehr alleine auf die Straße, jetzt erst recht nicht mehr“, sagt Haisha B. Ihr kleiner Hund zittert nervös, sie beruhigt ihn. In der Nacht zum ersten Januar feierte sie in der Heinrich-Schlusnus-Straße gemeinsam mit ihrem Mann und ihren drei Kindern. Um Mitternacht seien sie kurz auf die Straße gegangen, sie wollten zu Bekannten auf der anderen Straßenseite, kamen aber gar nicht bis dahin durch. „Es war wie im Krieg, die Jugendlichen grölten, beschossen Passanten“, sagt sie. Dann feuerte jemand neben ihr die Schreckschusspistole ab.

Die 45-Jährige zuckt mit den Schultern. „Dass es hier kein angenehmes Pflaster ist, weiß ich seit Jahren. Aber inzwischen wird es immer schlimmer.“ Sicher fühle sie sich kaum noch. Vor zwei Wochen erst sei sie von einem jungen Mann attackiert worden. Er beschimpfte sie, trat nach ihr. Sie fragt: „Wann unternimmt die Stadt hier endlich was?“
Seit der Silvester-Nacht wird nicht nur wieder einmal über ein Böllerverbot in der Hauptstadt diskutiert. Es ist auch eine Debatte darüber entbrannt, was schief gelaufen ist, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Ob die Integrationspolitik versagt hat, weil die Täter nach allem, was man bisher weiß, wohl überwiegend einen Migrationshintergrund hatten. Es waren aber auch deutsche Jugendliche dabei.
Es gibt Vorwürfe über Vorwürfe: Dass gerade die High-Deck-Siedlung, seit Jahren ein Brennpunktviertel, in dem 70 Prozent der über 8000 hier lebenden Menschen einen Migrationshintergrund haben, und viele weitere Kieze auch, vernachlässigt worden seien. Dass dort in der Integrationspolitik ein völliges Versagen stattgefunden habe. Der Bezirk vom Land nicht genügend Mittel und Unterstützung für die Kinder- und Jugendarbeit im Kiez bekomme.
Die Berliner CDU spricht „von gewalttätigen Migranten-Gangs“, die für den Staat und seine Repräsentanten nur Verachtung übrig hätten, so CDU-Fraktionschef Kai Wegner. Er forderte, den Täterkreis klar zu benennen.
Ahmad Mansour, deutsch-arabischer Psychologe und Extremismus-Forscher, kommentierte die Lage eher nüchtern: „Am dringendsten braucht Berlin eine Debatte über Integration.“ Und Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey? Sie wünscht sich neben einem Böllerverbot eine bundesweite Debatte über die „neue Art der Gewalt“. Es wirkte beinahe hilflos – und das sechs Wochen vor der Nachwahl des Berliner Abgeordnetenhauses.
Neuköllner Integrationsbeauftragte spricht von „Dumpfbacken“
Andere spielen es runter, wie die Neuköllner Integrationsbeauftragte Güner Balci, die nur von einer kleinen Gruppe ausgeht, die für die Krawalle verantwortlich sind. „Einige der Täter kenne ich und weiß, um wen es sich handelt. Es sind die hoffnungslos Abgehängten, platt gesagt: absolute Loser“, sagte sie dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“. Es seien übrigens dieselben Jugendlichen und zum Teil Kinder, die das Jahr über ein ähnliches Verhalten zeigten, Ärger machten, dem ganzen Kiez das Leben schwer machten.
„Gehen Sie bei uns in die Sonnenallee. Jeder zweite Ladenbesitzer wird Ihnen sagen: Die muss man alle ins Gefängnis stecken. Die Mehrheit der Menschen in Neukölln wünscht sich ein härteres Durchgreifen, einen stärkeren Staat.“ Sie fügte mit Blick auf die Randalierer hinzu: „Das sind totale Dumpfbacken.“ Aber ist es damit getan, die Täter als Dumpfbacken abzustempeln, als ginge es allein um ein paar unverbesserliche Halodris, die die Sau rauslassen, als hätten die Ausschreitungen keine Signalwirkung für ein viel größeres gesellschaftliches Problem?
In dem Kiez-Kiosk im Sonnencenter steht Tamara S. (24) hinter dem Tresen. Zwei Teenager, der eine zwölf, der andere dreizehn Jahre alt, stehen vor der Theke und knacken Sonnenblumenkerne. Der 13-Jährige macht sich einen Tee, sie scheinen oft hier zu sein. Silvester haben sie alles beobachtet. Der eine grinst: „Ich habe es vom Balkon gefilmt, als der Bus brannte.“
Er zeigt das Video auf seinem Handy, als sei es eine Trophäe. Eine coole Trophäe. Videos wie diese würden jetzt überall auf TikTok, YouTube und Telegram herumgereicht, sagt er und freut sich: „Alle schauen sie.“ Die Ausschreitungen, die sie vom Balkon aus gesehen haben an jenem Abend, beschreiben die beiden Jungs, als seien ihre Ballerspiele auf der Playstation über Nacht Realität geworden. „Man muss es nicht übertreiben, aber man kann doch mal Spaß haben“, sagt der 12-Jährige, der sich seine Mütze tiefer ins Gesicht schiebt.
Kiosk-Verkäuferin: Die Jugendlichen rasten aus
Sie haben ihre eigene Sicht, warum es Silvester in ihrem Kiez eskaliert ist. „Unsere Gegend wird immer in den Dreck gezogen, wir werden hier schlecht behandelt – von der Politik, der Polizei, von allen. Und nur weil ein paar Leute mal Faxen machen, werden gleich alle abgestempelt. Die Menschen sind einfach wütend.“ Er hebt die Stimme, sagt: „Wir werden im Stich gelassen.“
Sie verabschieden sich. Tamara, die Kiez-Kiosk-Verkäuferin, nickt. Sie gibt den Jungen recht. „Ich bin hier im Kiez aufgewachsen, die Gegend war schon immer ein Brennpunkt. Zu Silvester, aber auch zwischen den Jahren. Die Jugendlichen sind alle nicht ausgelastet und rasten aus.“
Sie selbst habe kein Problem mit der Gegend, sei es gewöhnt und könne mit der wachsenden Aggression umgehen, sagt sie. „Aber die Integrationspolitik ist ein großes Problem. Daran ist auch der Staat schuld, die lassen immer mehr Geflüchtete ins Land, man baut Häuser und Wohnungen für sie, aber niemand kümmert sich. Und dann läuft alles aus dem Ruder.“ Sie selbst habe türkische Eltern, sie dürfe das so formulieren, sagt sie.

Für Tamara, die Kioskbesitzerin, gibt es aber auch die Erklärung, dass nach zwei Jahren Corona und Böllerverbot die Menschen es regelrecht krachen lassen wollten. Sie ist nicht die einzige, die diese Vermutung äußert.
Wer durch den Kiez geht, sieht viel Beton, einen kleinen Spielplatz, geschlossene Restaurants. Es ist eine Atmosphäre, gemischt aus Trostlosigkeit und Trotz. Etwa 50 Prozent der Kiezbewohner sind Transferleistungsempfänger. Ende 2020 waren 76 Prozent der Kinder arm. Dennoch ist es lebendig, die Menschen sind offen und freundlich, wenn sie angesprochen werden. Die meisten sind nicht glücklich, über das, was passiert ist. Aber verwundert ist keiner.
In dem Kinderladen „Waschküche“ sitzt ein kleiner Junge an einem Tisch und bastelt. Er schaut schüchtern zur Tür, die Erzieherin, die neben ihm sitzt, streichelt ihm über den Arm. Sie sagt: „Es gibt eindeutig zu wenig Angebote für Kinder und Jugendliche hier.“ Da wundere es sie nicht, wenn manche durchdrehten. „Man muss es einfach mal beim Namen nennen, Berlin hat seine Problem-Kieze und wir gehören dazu. Es gibt viele Arbeitslose, häusliche Gewalt und Jugendliche ohne Perspektive. Aber das ist seit Jahren bekannt“, sagt sie. Ändern würde sich nichts.
Glücklicherweise gebe es viele, die sich untereinander helfen würden. Und soziale Einrichtungen wie diese. In Neukölln sind die vergangenen Jahre viele geschlossen worden, heute gibt es um die zehn, mehr nicht.
Weiß sie, wer die Jugendlichen waren, die in der Silvesternacht so ausgerastet sind? Es ist wie bei allen, mit denen man hier im Kiez spricht: Jeder hat etwas gesehen, aber niemand will dabei gewesen sein. Niemand kennt die „Täter“, sie gehörten angeblich nicht zum engen Kiez-Kreis oder seien nur zu Besuch gewesen, sagen sie. Krawalltouristen? Wohl kaum.
Es ist ein fatales Signal, wenn Täter verhaftet und sofort wieder freigelassen werden.
Ein Ärgernis breitet sich am Dienstag Nachmittag im Kiez dann doch aus: 145 Menschen waren in der Nacht zu Sonntag festgenommen worden, davon weit überwiegend Männer. Ihnen werden Brandstiftung, Verstöße gegen das Sprengstoffgesetz, Landfriedensbruch sowie Angriffe auf Vollstreckungsbeamte vorgeworfen. Über 40 Einsatzkräfte der Polizei und Feuerwehr waren verletzt worden. So viel wie nie in einer Silvesternacht. Und trotzdem sind alle 145 Festgenommen seit diesem Dienstag wieder auf freiem Fuß. Für Haisha B., die Erzieherin mit dem Hörsturz, ist das ein völlig falsches Zeichen. „Es ist ein fatales Signal, wenn Täter verhaftet und sofort wieder freigelassen werden“, sagt sie.
Und auch wenn die Täter für ihre Ausfälle bestraft werden: Egal, mit wem man in der High-Deck-Siedlung so kurz nach diesem chaotischen Jahreswechsel spricht, alle sind sich absolut sicher, dass sich nichts an der Situation hier ändern wird, dass es auch beim nächsten Silvester wieder zu heftigen Randalen kommt. Denn auch bis dahin werde sich gesellschaftlich, sozial und politisch nichts in dem Brennpunktkiez geändert haben.






















