Ukraine-Krieg

Wladimir Putin agiert zwangsneurotisch und will vor allem eines: nicht wie Gaddafi enden

Wer Russlands Taktik verstehen will, muss Wladimir Putin verstehen. Und es ist so: Der russische Präsident hat sich von der Realität weitgehend entkoppelt.

Wladimir Putin
Wladimir PutinAlexei Nikolsky/Pool Sputnik Kreml/dpa/via AP

Am 6. Oktober 2022 war es soweit: Sie war wieder da. Die langjährige Bundeskanzlerin Deutschlands Angela Merkel hat beim Festakt in München anlässlich des 77-jährigen Bestehens der „Süddeutschen Zeitung“ davor gewarnt, Wladimir Putins Drohungen als bloßen Bluff wahrzunehmen und betonte, dass dauerhafter Frieden in Europa ohne Einbeziehung Russlands unmöglich sei. Mitten im wohl blutigsten europäischen Konflikt seit den Jugoslawienkriegen lassen einen diese Worten staunend zurück. Denn ohne das Verständnis für die Funktionsweise russischer Außenpolitik und die Denkweise seiner außen- und sicherheitspolitischen Eliten besteht ernstzunehmende Gefahr, auch mit einem Post-Putin-Russland in einen erneuten gesamteuropäischen Konflikt zu geraten.

Russlands Außenpolitik oder Außenpolitik Wladimir Putins?

Nach Einschätzung der außen- und sicherheitspolitischen Expertengemeinschaft, so unter anderem von Alexander Graef vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, zeichnet sich die russische Außenpolitik in ihrer Genese durch einen gesteigerten Hang zur Geheimhaltung aus. Dies erklärt sich aus der Schwäche formaler Institutionen, dem hohen Personalisierungsgrad der Politik, dem historischen Erbe Russlands sowie letztlich aus dem geheimdienstlichen Hintergrund von Teilen der politischen Elite. Aus den genannten Gründen sind die außenpolitischen Akteure Russlands weniger an formelle Institutionen gebunden, sondern vielmehr in ein informelles Netzwerk rund um den Präsidenten eingeflochten.

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Zum Autor
Dr. Alexander Dubowy ist Politik- und Risikoanalyst sowie Forscher zu internationalen Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum. Er ist Mitarbeiter der Berliner Zeitung am Wochenende.

Die zentral gestaltende Rolle in der Außenpolitik nimmt unzweifelhaft Wladimir Putin ein. Dies aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Vormachtstellung als Staatspräsident (unter anderem gibt der Präsident gemäß der Verfassung die Leitlinien der Außenpolitik vor, entscheidet über den Kriegs- und Ausnahmezustand, übt den Oberbefehl über die Streitkräfte aus, befiehlt den Einsatz von Kernwaffen), der realpolitisch dominanten Machtrolle im Rahmen des – von Putin geschaffenen – russischen staatspolitischen Systems sowie des stark ausgeprägten personalistischen Charakters des gegenwärtigen russischen Regimes.

Allerdings waren die zentralen außenpolitischen Entscheidungen – so beispielsweise der Militäreinsatz in Georgien im Jahr 2008 oder auch die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im Jahr 2014 – stets das Ergebnis eines kollektiven Entscheidungsmechanismus unter den Führungseliten. Dieser Entscheidungsmechanismus wurde aber durch die – nur zu offensichtlich nicht von der Gesamtheit oder auch nur der Mehrheit der außen- und sicherheitspolitischen Elite Russlands mitgetragenen – Entscheidung Putins, den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu beginnen, aufgebrochen. Die mittlerweile legendäre Sitzung des Sicherheitsrates am 21. Februar 2022 hat dafür ein eindrucksvolles Zeugnis geboten.

Schrödingers Russland

Ungeachtet der Ereignisse im Vorfeld des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sollte keinesfalls übersehen werden, dass Wladimir Putin zwar die Schlüsselperson, jedoch nicht der einzige außenpolitische Akteur Russlands ist. Die außenpolitischen Handlungen Russlands werden von Interessen und Bedrohungsperzeptionen getragen, die eine breite Zustimmung und Unterstützung innerhalb der Führungselite finden.

Den Kern des außenpolitischen Konsenses bildet dabei die Überzeugung von Russland als einem starken, handlungsfähigen Staat im Innenverhältnis und einer souveränen Großmacht im Außenverhältnis; einer Großmacht auf Augenhöhe mit den anderen Großmächten. Dabei ist das russische Großmachtdenken nicht mit dem – aktuell eine zunehmend dominante Rolle einnehmenden – Ethnonationalismus zwingend gleichzusetzen und gründet auf einem breiten innerelitären Konsens, welcher durch ein kohärentes und konsistentes Verständnis der sicherheitspolitischen Ziele und Bedrohungen ergänzt wird.

Im Selbstverständnis russischer Eliten kann das Land ausschließlich als Großmacht existieren. Hierin Schrödingers Katze nicht unähnlich: Denn sollte die Frage nach Sinn und Existenz des Großmachtstatus einmal tatsächlich gestellt werden, ist es das Ende Russlands, wie wir es kennen. Das Warten darauf dürfte allerdings kurz- bis mittelfristig vergebens sein. Schließlich sollte nicht übersehen werden, dass sich der Elitenkonsens hinsichtlich außenpolitischer Zielsetzungen bereits gegen Ende der Amtszeit der ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin zu formieren beginnt, in der Ära von Wladimir Putin endgültig festigt und auch die Person Putin überdauern dürfte.

Staatliche Instabilität als größte Angst der Eliten

Unter den russischen Eliten besteht nämlich ein grundsätzlicher Konsens über das Bedrohungsbild. Dabei gilt die staatliche Instabilität als die größte Bedrohung für die Existenz Russlands. Aus diesem Grund werden (revolutionäre) Volkserhebungen mit dem Ziel, staatliche Institutionen zu untergraben oder gar das gegenwärtige Regime zu stürzen, als eine reale Bedrohung angesehen.

Allerdings ist für die russische Führungsriege diese Bedrohung nicht ausschließlich innerstaatlicher Natur; die meisten Szenarien innerer Instabilität heben die Rolle externer Faktoren beim Schüren der Unzufriedenheit hervor. Diese Bedrohungsperzeption erklärt die ablehnende Haltung Russlands gegenüber den vom Volk getragenen Protestbewegungen; vom Arabischen Frühling und die sogenannten Farbrevolutionen im postsowjetischen Raum über den Euro-Maidan in der Ukraine bis hin zu Protesten in Belarus im Jahr 2020. Bei all diesen Ereignissen neigt Russland dazu, stets den Einfluss externer Kräfte hinter den Straßenprotesten zu erblicken. Das Ziel dieser Bemühungen sei am Ende – ein gewaltsamer Sturz der russischen Führung, so der innerelitäre Konsens Russlands.

Groll und Schuldgefühle der mächtigsten Männer Russlands

Wladimir Putin und seine Umgebung entstammen in etwa der gleichen Generation. Es ist eine Generation, die sich zum Zeitpunkt des Zerfalls der Sowjetunion bereits im Umfeld der Macht bewegte, aber auf die Entscheidungsprozesse keinen Einfluss hatte. Nach Ansicht namhafter Experten, wie beispielsweise von Anatol Lieven, Senior Research Fellow am Quincy Institute for Responsible Statecraft, hegen Wladimir Putin und sein innerer Kreis ungeachtet des immensen Reichtums und der uneingeschränkten Machtfülle nach wie vor einen starken Groll über die Art und Weise des Unterganges der Sowjetunion. Diese Generationen plagen offenbar Schuldgefühle, damals nichts unternommen zu haben, um den Auflösungstendenzen entgegenzuwirken. Das Ende Sowjetunion war für die aktuellen Machthaber im Kreml ein äußerst traumatisches Erlebnis und gipfelte in der Überzeugung, dass sich diese Ereignisse auch im Falle der Russischen Föderation wiederholen könnten.

So irrational diese Sorge für Außenstehende auch erscheinen mag, für die russischen Eliten stellt das Zerfallsszenario eine absolut reale, existenzielle Bedrohung dar, welche es um jeden Preis zu verhindern gilt. Diese Sichtweise trägt dazu bei, dass die russische Führung Russland bereits lange vor Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine und selbst vor der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im Jahr 2014 von einem Feuerring an Konflikten umgeben sah und dabei wohl am ehesten das Bild einer belagerten Festung vor Augen hatte.

Zudem glauben die russischen Eliten, dass viele der gegenwärtigen Konflikte im Umfeld Russlands zu einem wesentlichen Teil vom Westen, vor allem den USA, befeuert werden. Dies mit dem langfristigen Ziel, revolutionäre regierungsfeindliche Kräfte in Moskau zu unterstützen, um letztlich einen Regime Change herbeizuführen. Daraus erklärt sich auch der Konsens unter den außen- und sicherheitspolitischen Eliten, dass die größte Bedrohung für Russland von staatlicher Instabilität ausgeht.

Russische (Farb-)Revolutionen

Wichtig ist, dass die russische Führung der Überzeugung ist, ausschließlich äußere Einflussnahme sei für das Gelingen der Massenproteste entscheidend. Die inneren Gründe seien dagegen vernachlässigbar. Interessanterweise wendet Russlands Führungsriege diese Interpretation nicht nur auf die Gegenwart an, sondern auch auf die Vergangenheit. So wird in etwa die Oktoberrevolution 1917 in erster Linie einem äußeren Einfluss und der großzügigen Finanzierung durch Deutschland und die USA zugeschrieben.

Die zahllosen inneren Faktoren, die historisch betrachtet revolutionsauslösend waren, werden von den russischen Eliten dagegen stiefmütterlich behandelt und gern übersehen. Ein eindrucksvolles Beispiel dieses Weltbildes bietet ein Streitgespräch zwischen Wladimir Putin und einem russischen Geschichtslehrer über die Ursachen des sogenannten Pugatschow-Aufstandes 1773-1775, der in den Russischen Bauerkrieg mündete. Während der Geschichtslehrer den historischen Quellen folgend in der entstehenden Leibeigenschaft die wesentliche Ursache für die Unzufriedenheit der Bevölkerung erblickte, sah Putin den Hauptgrund in der Schwäche zentraler Gewalt, deutete aber zugleich nebulös externe Einflussnahmen an.

Außenpolitisch führt diese Weltanschauung dazu, dass Moskau nicht wirklich zu verstehen vermag, wie die Gesellschaften in den umliegenden Staaten funktionieren. Das ist neben der allgegenwärtigen Korruption mit ein Grund für die Misserfolge der russischen Streitkräfte in der Ukraine. Das Einzige, was dem Kreml wichtig erscheint, ist der unbeschränkte Einfluss auf die Staatsspitze. Russlands Führung glaubte tatsächlich daran, dass in der Ukraine bereits mit dem Einmarsch russischer Streitkräfte, allerspätestens jedoch mit der Belagerung der Hauptstadt Kiew und der bevorstehenden Ausschaltung der Regierung, das ganze Land sich sofort Russland unterwerfen würde. Um den gesellschaftlichen Restwiderstand werde sich die Staatspropaganda erfolgreich kümmern, so eine gängige Überzeugung auf Seiten russischer Eliten.

Aus diesen Gründen wird jede innere Opposition ausnahmslos so verstanden, als ob diese von außen finanziert und gesteuert wird. Letztlich lassen sich aus dieser irrationalen Angst die harsche Ablehnung jedweder vom Kreml nicht kontrollierter Opposition, freier Medien sowie auch die maßlose Verfolgung und Vergiftungspläne gegen Alexej Nawalny – jedenfalls zu einem guten Teil – erklären. Allerdings dürfte diese Einseitigkeit in der Wahrnehmung und Ignoranz innergesellschaftlicher Entwicklungen für den Kreml in den kommenden Jahren gerade auch in Bezug auf die russische Gesellschaft zu einem sehr großen Problem werden.

Unkontrollierbare Angst vor den Umsturzplänen des Westens

Die Sorge vor durch den Westen, vor allem die USA, befeuerten Massenprotesten mit anschließendem gewaltsamem Regierungssturz war zwar spätestens seit der Rosenrevolution in Georgien im Jahr 2003 und der Orangenen Revolution in der Ukraine im Jahr 2004 (und in ersten Ansätzen bereits seit dem Rücktritt von Slobodan Milosevic infolge von Massenprotesten in Jugoslawien im Jahr 2000) innerhalb russischer Eliten präsent, nach dem gewaltsamen Sturz Muammar Gaddafis im Jahr 2011 dürfte jedoch die Angst zu einem ständigen Begleiter Wladimir Putins geworden sein.

Nach Einschätzung des führenden bulgarischen Politologen Ivan Krastev vom Centre for Liberal Strategies in Sofia soll das Vorgehen der Nato gegen Libyen und der gewaltsame Sturz Gaddafis für Putin ein Schlüsselerlebnis und der zentrale Auslöser seiner Entscheidung über die Rückkehr in das Präsidentenamt gewesen sein. Angeblich soll Putin die Szenen der Hinrichtung Muammar Gaddafis stundenlang wie gebannt angesehen haben.

Was der Westen nicht zu verstehen vermag

Angela Merkel hat selbstredend vollkommen recht, an Stelle blind selbst-reflexiver Debatten wäre der Westen gut damit beraten, Russlands Führungselite aufmerksam zuzuhören und politische Entscheidungen auf der festen Grundlage tatsächlicher Äußerungen – allem voran aber tatsächlicher Handlungen – russischer Führung zu treffen und nicht auf dem sprichwörtlichen Sand selbstgerechter Scheinfriedenspolitik zu bauen. Nunmehr ist die Zeit für einen faktenbasierten, interessengeleiteten Pragmatismus endgültig gekommen.

Angesichts der kategorischen Positionierung der zentralen Angehörigen russischer Führungszirkel erscheinen noch so ambitionierte und gut gemeinte Vermittlungs- und Beschwichtigungsversuche – wie beispielsweise die regelmäßigen und seit Invasionsbeginn weit über 100 Stunden zählenden Telefonate zwischen Emmanuel Macron und Wladimir Putin – vergebens zu sein.

Keine noch so gut gemeinte Beschwichtigungsversuche eines westlichen Politikers werden Wladimir Putin sowie seine unmittelbare Umgebung von den langjährigen und zwangsneurotische Züge aufweisenden Überzeugungen abbringen lassen. Im Grunde genommen kann jede beliebige Handlung des Westens zu jedem beliebigen Zeitpunkt Putin die absolute Richtigkeit seiner Gedankenwelt bescheinigen sowie die Alternativlosigkeit seiner aktuellen und – aller noch kommenden – Handlungen bestätigen.

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