Tag des Sieges in Moskau

Putins letzter normaler 9. Mai: Jetzt bröckelt seine Macht

Putins Herrschaft gründet auf zwei Säulen: Stabilität statt 90er-Jahre-Chaos und identitätsstiftende Erinnerung an den II. Weltkrieg. Beides schwindet.

Putin am 9. Mai kurz vor Beginn der Rede: alles wie immer
Putin am 9. Mai kurz vor Beginn der Rede: alles wie immerMikhail Metzel/Pool Sputnik Krem

Angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine erhielten die Feierlichkeiten des 9. Mai eine besondere, noch nie da gewesene Brisanz. Mit großer Anspannung wurde vor allem die Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin erwartet. Viele Beobachter, so auch einige westliche Geheimdienste, befürchteten einen rhetorischen Rundumschlag, gefolgt von einer massiven Eskalation der Kriegshandlungen bis hin zum Einsatz taktischer Atomwaffen. Die große Eskalation blieb allerdings aus. Auch der abblätternde Prunk der deutlich kleiner dimensionierten Siegesparade überraschte.

Eine unerwartet ungewöhnliche Siegesparade

Bei den Siegesparaden in Moskau schien in den vergangenen Jahren das olympische Motto „Schneller, höher, stärker“ den inoffiziellen Marschtakt vorzugeben. Denn die Militärparaden wurden von Jahr zu Jahr größer, ausgefallener und prunkvoller. Die gesamte militärische Macht Russlands inklusive allerneuester technologischer Entwicklungen sollte der staunenden Welt unverhüllt demonstriert werden.

Die Siegesparade vom 9. Mai 2022 grenzte sich dagegen deutlich von den Feierlichkeiten der Vergangenheit ab. So hat Moskau nicht nur älteres Militärequipment eingesetzt, sondern auch wesentlich weniger Bodentruppen aufmarschieren lassen, als dies bei vergleichbaren Siegesparaden der Fall war; selbst der stets aufwendige Luftshowteil der Militärparade wurde unerwartet aus Witterungsgründen abgesagt.

Während einige russische Oppositionelle, wie beispielsweise der langjährige Wegbegleiter Aleksej Nawalnys Leonid Volkov, in den laufenden Säuberungen in den Reihen russischer Streitkräfte einen wesentlichen Grund für die Absage der Luftshow und die deutlich kleinere Dimensionierung der Parade erblicken, könnten die eigentlichen Gründe deutlich profaner sein.

Zum einen werden aktuell die Ausrüstung sowie die Truppen dringend für den Kriegseinsatz gegen die Ukraine gebraucht. Und zum anderen scheint die internationale Dimension der Feierlichkeiten der russischen Führung gleichgültig geworden zu sein. Im heurigen Jahr richteten sich die Feierlichkeiten nicht an das internationale Publikum, sondern ausschließlich an die russische Bevölkerung.

Ein einziger Staatsgast nahm an den diesjährigen Feierlichkeiten teil. Das ist ein sehr deutliches Zeichen für die internationale Isolierung und die wachsende Toxizität Russlands; selbst unter traditionellen Verbündeten im postsowjetischen Raum. Der wahre Grund für das Ausbleiben internationaler Gäste war aber die mit Hochspannung befürchtete Rede Wladimir Putins.

Die Ratlosigkeit Wladimir Putins

Dafür, dass die Rede Putins vor dem Hintergrund eines brutalen Krieges stattfand, war das doch sehr gewöhnlich und wusste nicht durch Originelles zu überraschen. Im Grunde genommen war das von Wladimir Putin Gesagte in dieser oder sehr ähnlicher Form bereits mehrfach und in deutlich aggressiverer Form in den vergangenen Wochen verlautbart worden. Der russische Präsident wirkte wenig angriffslustig, lustlos und erweckte streckenweise einen ratlosen, geradezu weinerlichen Eindruck.

Die erwartete Eskalation genauso wie die Verkündung eines Teilerfolges der russischen Spezialmilitäroperation blieben aus. Offenbar konnten selbst die einst hoch gefeierten Polittechnologen und Spindoktoren des Kreml aus dem militärischen Vorankommen Russlands in der Ukraine keine mehrheitsfähige Siegesmeldung ableiten. So verkam die Rede Putins im Wesentlichen zu einer Abrechnung mit der Ukraine und dem Westen.

Russland wäre stets für ein System gleicher und ungeteilter Sicherheit eingetreten, doch bliebe der russische Kompromissvorschlag vom Dezember 2021 gegenüber den USA und der Nato wieder einmal ungehört und die ausgestreckte Hand Moskaus wurde ausgeschlagen. Zum wiederholten Mal betonte Wladimir Putin, dass die sogenannte Spezialmilitäroperation ein Präventivschlag gewesen sei – erzwungen, rechtzeitig und alternativlos.

Ein präventiver Angriffskrieg

Dieser Schritt sei ihm nicht leichtgefallen, doch wären die Kriegsvorbereitungen der Ukraine mit westlicher Unterstützung und Aufrüstung gegen die sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk sowie auch gegen die Halbinsel Krim zu weit fortgeschritten und ein Angriff der Ukraine stünde unmittelbar bevor. Ein weiteres Zuwarten bärge zu hohe Risiken.

Selbstredend durfte auch die obligatorische gedankliche Brücke zwischen dem Kampf sowjetischer Soldaten im Großen Vaterländischen Krieg (Kampf der Sowjetunion gegen Deutschland 1941–1945) und der sogenannten Spezialmilitäroperation in der Ukraine keinesfalls fehlen. Auf diese Weise sollte der Einsatz russischer Streitkräfte in den Augen der russischen Bevölkerung als Befreiungs- und Überlebenskampf legitimiert werden.

Keine Deeskalation zu erwarten

Gleichwohl die vom Westen befürchtete Eskalation ausblieb, von Beschwichtigungen oder gar einer Deeskalation kann freilich nicht die Rede sein. Auch ein baldiges Ende des Kriegs ist nicht zu erwarten. Mit seiner Rede gelang es Wladimir Putin, sich viele Entscheidungsfreiräume zu verschaffen. Dass er sich zu keinen großen Ankündigungen verleiten ließ, ermöglicht ihm den Konflikt nach Belieben zu eskalieren oder zu deeskalieren und dabei die Definitionshoheit über Sieg und Niederlage beizubehalten.

Aktuell ist davon auszugehen, dass die Militäroperation im Donbass fortgesetzt wird. Der Ausgang der Kampfhandlungen im Donbass entscheidet über den weiteren Verlauf des Krieges. Das wahrscheinlichste Szenario aus heutiger Sicht besteht in einem Taktikwechsel Moskaus in die Defensive im Laufe der kommenden Wochen. Russland dürfte verstärkt dazu übergehen, die bisherigen territorialen Eroberungen gegen die ukrainischen Gegenangriffe zu verteidigen.

Die ukrainischen Städte und die Zivilbevölkerung werden aber auch in diesem Fall vor gelegentlichen russischen Angriffen nicht sicher sein. Mit diesem Taktikwechsel würde Russland Zeit gewinnen, das Risiko einer militärischen Blamage senken, den Druck auf Kiew aufrechterhalten, eine für den Wiederaufbau sowie wirtschaftliche Stabilisierung der Ukraine dringend benötigte Normalisierung verhindern, den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zur Akzeptanz der eigenen politischen Forderungen weiterhin nötigen und letztlich auch dem Westen Zugeständnisse (beispielsweise eine teilweise Aufhebung der Sanktionen im Austausch für einen Friedensvertrag) abzuringen versuchen.

Alles unter Scheinkontrolle

Die zurückhaltende Tonlage des russischen Präsidenten hängt wohl in erster Linie damit zusammen, dass Putins Worte eine innenpolitische Zielsetzung zu erfüllen hatten. Wladimir Putins Rede wollte bei der russischen Zuhörerschaft den Eindruck der Scheinnormalität erwecken sowie den Beweis für die volle Handlungs- und Kontrollfähigkeit der Staatsführung sowohl über die Entwicklungen in Russland als auch über die sogenannte Spezialmilitäroperation liefern.

Auf diese Weise sollte die russische Bevölkerung beruhigt, von jedwedem Aktionismus abgehalten und weiterhin in ihrer – zu einem wesentlichen Teil selbstverschuldeten – passiv-apolitischen Konformität gebunden werden. Noch genießt Putin ein hohes Vertrauen in der Bevölkerung. Dieses soll offenbar nicht durch risikoreiche und unpopuläre Entscheidungen wie Generalmobilmachung und Verhängung des Kriegszustandes aufs Spiel gesetzt werden.

Allerdings ist der Verlust des Vertrauens nur noch eine Frage der Zeit. Die beiden konstituierenden Fundamente seines über viele Jahre erfolgreichen Machtsystems hat Wladimir Putin sehenden Auges innerhalb von nur wenigen Wochen eigenhändig der Erosion übergeben.

Zwei Quellen und zwei Bestandteile des Putinismus

Das Machtsystem Putin gründete seit Mitte der 2000er-Jahre seine innen- wie auch außen- und regionalpolitische identitätsstiftende Legitimität auf zwei Säulen auf. Die erste Säule war das vom Kreml propagierte Narrativ von der Stabilität Russlands unter der Herrschaft Wladimir Putins.

Die zweite tragende Säule war das zum Staatskult erhobene Gedenken an den Sieg der Sowjetunion (und dadurch indirekt auch seines Rechtsnachfolgers der Russischen Föderation) gegen Faschismus (und Nationalsozialismus) im Großen Vaterländischen Krieg. Beide Säulen hat Wladimir Putins Entscheidung, die Ukraine am 24. Februar 2022 mit Krieg zu überziehen, willentlich und wissentlich aufs Spiel gesetzt und de facto begonnen abzutragen.

Über zwei Jahrzehnte schöpfte Wladimir Putin die innenpolitische Legitimität seines Machtsystems aus dem Faktor der inneren Stabilität heraus. Nach offizieller Erzählung war es der Politik Putins zu verdanken, dass die Gefahr des Zerfalls Russlands gebannt werden konnte und der russische Staat die Epoche der „chaotisch-anarchischen“ 1990er-Jahre, die in Anlehnung an das historische Vorbild vom Anfang des 17. Jahrhunderts als eine neue „Zeit der Wirren“ dargestellt wurden, erfolgreich überwunden hatte.

Mehr als zwei Jahrzehnte lang galt die Idee der Stabilität von Putins Russland als oberstes – um jeden Preis zu verteidigendes – Gut, ja, als das zentrale identitätsstiftende Element: das Fundament des modernen russischen Staates. Dieses – mühselig aufgerichtete und unverrückbar scheinende – Fundament der innenpolitischen (sowie auch der außen- und regionalpolitischen) Rechtfertigung des Machtsystems Putins hat die russische Führung bei vollem Bewusstsein und ohne Not innerhalb von nur wenigen Wochen abgetragen.

Die internationalen Sanktionen dürften über die kommenden Monate dazu führen, dass die allerletzten Reste der einstigen sozialen Stabilität in den Untiefen der Erinnerung verschwinden werden. Durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine geriet auch die zweite tragende Säule des Putin’schen Regimes ins Taumeln – das von Russland monopolisierte Gedenken an den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland.

Dem aufgrund seiner Ahistorizität international umstrittenen und dennoch letztlich weitgehend im Stillen akzeptierten Selbstbild Russlands als des zentralen Erben des sowjetischen Sieges über Faschismus und Nationalsozialismus droht nunmehr die endgültige Dekonstruktion. Selbst die einstigen Verbündeten Russlands wenden sich durch die sinn- und geistlose Brutalität russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine angewidert und durch extraterritoriale Sanktionsandrohungen abgeschreckt zunehmend von Moskau ab. Auch innenpolitisch dürfte die identitätsstiftende Wirkung des Mythos vom Sieg gegen Faschismus und Nationalsozialismus schon bald ihre einst verbindende Anziehungskraft einbüßen.

Der durchdringende Blick des eisigen Abgrundes

Anstelle der noch vor Kurzem in Hochblüte stehenden identitätsstiftenden Fundamente der Russischen Föderation zeichnet sich immer deutlicher die gähnende Leere ideologischer Abgründe eines ins Diktatorische abgleitenden autoritären Regimes ab. Mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine ist der Rubikon überschritten. Nunmehr steht es endgültig fest: Die russische Bevölkerung wird weder der Frage nach der Kollektivschuld noch den schmerzvollen gesellschaftlichen Debatten und der bitteren historischen Aufarbeitung der eigenen – viel zu lange verleugneten – kolonialen Vergangenheit mehr entgehen können.

Noch genießt Putin ein hohes Vertrauen innerhalb der Bevölkerung, doch könnten die hohen Zustimmungswerte für den russischen Staatspräsidenten bereits in Bälde überlebenswichtigen politischen Entscheidungen zum Opfer fallen. Denn schon in den kommenden Wochen muss Russland die Truppen im Donbass deutlich aufstocken, um die Kampfkraft und die Manövrierfähigkeit aufrechtzuerhalten.

Denn selbst für notwendige Rotationen dürfte es aktuell an Personal fehlen. Wie die russische Führung dieses offenkundige Problem ohne unpopuläre Maßnahmen, vor allem ohne eine General- oder auch nur eine Teilmobilmachung der Streitkräfte, sowie ohne eine weitere Destabilisierung des Regimes zu lösen gedenkt, bleibt unklar. Beruhigend sind diese Nachrichten jedenfalls nicht.

Je stärker die Ukraine, desto günstiger der Krieg für uns

Keinesfalls sollten die etwas weniger aggressiven Töne aus Moskau sowie die offenkundigen Probleme russischer Streitkräfte der westlichen, allen voran deutschen, Gewissensberuhigung dienen oder gar als Anlass dazu genommen werden, um Waffenlieferungen an die Ukraine nochmals zu überdenken. Die Lage bleibt hochgradig volatil und kann sich jederzeit zu Ungunsten Kiews wenden. Nach wie vor gilt in diesem Konflikt die kontraintuitive Faustregel: Je länger und entschlossener sich die Ukraine mithilfe der – dringend benötigten – westlichen Waffenlieferungen gegen Russland zu wehren vermag, desto geringer wird der Preis sein, den die Ukraine und letztlich auch der Westen für den Frieden zahlen muss.