Analyse

Wollen die USA und Joe Biden Friedensverhandlungen? Die Erwartungen an Selenskyj wachsen

Die Ukrainer haben mit der Befreiung von Cherson einen wichtigen Sieg errungen. Die Zeichen verdichten sich, dass die USA den Krieg einfrieren wollen. Und was will Putin?

Joe Biden telefoniert mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Ein Bild aus dem Jahr 2021.
Joe Biden telefoniert mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Ein Bild aus dem Jahr 2021.Doug Mills/imago

Nur wenige Tage nach der Befreiung durch die ukrainischen Streitkräfte besuchte Staatschef Wolodymyr Selenskyj die Gebietshauptstadt Cherson. Mit dem durch erfolgreiche ukrainische Gegenoffensiven erzwungenen Truppenabzug gab Russland nicht nur einen erheblichen Teil der quasi-annektierten ukrainischen Region Cherson, sondern auch die strategisch, aber auch symbolisch wichtige Provinzhauptstadt auf. Pikanterweise ist die Stadt Cherson das einzige seit Beginn der aktuellen Kriegsphase am 24. Februar 2022 durch Russland eroberte regionale Zentrum. Damit handelt es sich um den bedeutendsten Erfolg der Ukraine seit der Isjum-Lyman-Operation vom September 2022 und den bislang größten Triumph Kiews im Kampf gegen die russischen Invasoren.

Obgleich die ukrainischen Gegenoffensiven nach wie vor im Gange sind und die militärische Pattsituation mit Blick auf die Regionen Luhansk, Donbass und Saporischschja bei Weitem nicht erreicht zu sein scheint, steigt mit der Befreiung des rechten Dnipro-Ufers die Wahrscheinlichkeit für eine baldige taktische Pause entlang des gesamten Frontverlaufs. Denn eine Fortsetzung des Krieges mit der gegenwärtigen Kampfintensität über die kommenden Wochen und Monate dürfte sowohl für Kiew als auch für Moskau finanziell wie auch personell zu kostspielig sein. Freilich bedeutet eine mögliche Reduzierung der Kampfhandlungsintensität keineswegs einen Wendepunkt und wird für sich allein genommen den Krieg auch nicht beenden. Doch dürften mit der Einnahme Chersons durch die Ukraine ernst zu nehmende Friedensverhandlungen wahrscheinlicher werden.

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Zum Autor
Dr. Alexander Dubowy ist Politik- und Risikoanalyst sowie Forscher zu internationalen Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum. Er ist Mitarbeiter der Berliner Zeitung am Wochenende.

Druck auf Kiew wächst, doch die Grundsatzentscheidung bleibt unverändert

Denn in Anbetracht des bevorstehenden Wintereinbruchs, wachsender Sorge vor galoppierender Inflation sowie steigender Energie- und Lebensmittelpreise wird auch im Westen intensiver über diplomatische Optionen und ein potenzielles Einfrieren des Konfliktes nachgedacht. So berichtet das renommierte Wall Street Journal am 13. November 2022 unter Verweis auf hochrangige US-Beamte über die zunehmend lauter werdenden Stimmen in Washington, welche über umsetzbare Forderungen, das Einfrieren von Kampfhandlungen und die Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zu diskutieren beginnen. Diese Überlegungen werden von zahlreichen Gerüchten über einen angeblichen ukrainisch-russischen Deal im Vorfeld des Abzuges Russlands auf das linke Dnipro-Ufer zusätzlich befeuert. Denn schließlich wäre es für die ukrainische Armee ein Leichtes gewesen, den Rückzug der russischen Streitkräfte über den Dnipro enorm zu erschweren.

An der Grundsatzentscheidung der Vereinigten Staaten, die Ukraine im Kampf gegen die russische Aggression diplomatisch, militärisch und finanziell zu unterstützen, ändern diese Überlegungen nichts. Selbst wenn die von innenpolitischen Themen dominierten Midterms deutlich zugunsten der Republikaner ausgegangen wären, hätte dies an der Gesamtausrichtung der US-amerikanischen Politik gegenüber der Ukraine wohl kaum etwas wesentlich geändert.

Angesichts der umfassenden Unterstützung Kiews durch Washington und des gesamtstaatlichen Konsenses in den USA erscheint eine Niederlage der Ukraine für die Vereinigten Staaten völlig inakzeptabel zu sein. Die Interessen der USA und der Ukraine sind damit zu fest miteinander verwoben, um durch innenpolitische Fragestellungen ernsthaft gefährdet zu werden. Die militärische Unterstützung der USA für die Ukraine beläuft sich inzwischen auf über 18 Milliarden US-Dollar und übersteigt damit deutlich die europäischen Hilfen. Doch die westlichen Waffendepots sind über die vergangenen Monate deutlich geleert worden. Aus diesem Grund rechnen nicht wenige im Westen mit baldigen Versorgungsengpässen.

China als langfristiger Gegner

Schließlich spielen für Washington die langfristigen geostrategischen Überlegungen eine ganz wesentliche Rolle. Damit ist vor allem der Systemkonflikt mit China gemeint. Eine gänzliche Vereinnahmung Russlands durch China als Absatzmarkt für chinesische Waren und Quelle günstiger Ressourcen liegt nur zu eindeutig nicht in den langfristigen Interessen der USA. Aus diesem Grunde scheint die US-Administration den Zeitpunkt für den Beginn der Friedensverhandlungen langsam abzusehen. So sprach der einflussreiche Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs der Streitkräfte der Vereinigten Staaten, Mark Milley, jüngst von weit über 100.000 toten oder verwundeten Soldaten auf russischer sowie „vermutlich“ auch auf ukrainischer Seite und fügte hinzu, dass der russische Rückzug ein „Verhandlungsfenster“ öffnen würde. Letzteres würde allerdings die Einsicht voraussetzen, dass der Sieg „mit militärischen Mitteln möglicherweise nicht zu erreichen“ wäre und deshalb nach anderen Lösungswegen gesucht werden sollte.

Der grundsätzliche Gedankengang von Mark Milley deckt sich damit mit den Ideen des US-amerikanischen Präsidenten Joseph Biden, die er in einem Gastbeitrag für die New York Times am 31. Mai 2022 skizzierte. In diesem Beitrag legte Biden die Beweggründe für seine Entscheidung, moderne Mehrfachraketenwerfersysteme an die Ukraine zu liefern, offen und präzisierte zugleich die Zielsetzungen der Vereinigten Staaten im Rahmen der militärischen, humanitären und finanziellen Unterstützung der Ukraine beim Kampf gegen die Invasion Russlands.

Die Zielsetzung der USA sei weder eine Eskalation der Kriegshandlungen noch ein „Regime Change“ in Moskau, sondern eine demokratische, unabhängige, souveräne und wohlhabende Ukraine, die sich gegen weitere Aggressionen zu verteidigen vermöge. Unter Verweis auf die Worte des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj weist Biden darauf hin, dass der Ukraine-Krieg letztlich ausschließlich auf diplomatischem Wege beendet werden könne. Jedoch gebe jede Friedensverhandlung das Abbild der Fakten vor Ort wieder, so der US-Präsident. Washington habe der Ukraine innerhalb kurzer Zeit eine „beträchtliche Menge an Waffen und Munition“ zukommen lassen, damit Kiew den Kampf fortsetzen und am Verhandlungstisch eine möglichst starke Position einnehmen könne.

Der von Biden angesprochene Zeitpunkt für Verhandlungen dürfte indessen näher rücken. So soll Jake Sullivan, der nationale Sicherheitsberater von Joe Biden, im Zuge seiner Reise nach Kiew am 4. November 2022 Wolodymyr Selenskyj eine unmissverständliche Botschaft übermittelt haben. Washington erwarte, dass sich Kiew offen für eine Verhandlungslösung zeige und über realistische Forderungen und Prioritäten für die Verhandlungen nachzudenken beginne. US-Finanzministerin Janet Yellen sagte unterdessen, dass angesichts der russischen Aggression gewisse Sanktionen gegen Russland auch nach einem eventuellen Friedensabkommen mit der Ukraine aufrechterhalten werden könnten. Diese Ankündigung ist insofern überaus bemerkenswert, als sie im Umkehrschluss eine teilweise Aufhebung bestimmter Sanktionen andeutet.

Moskau bleibt ein zutiefst unglaubwürdiger Verhandlungspartner

Über die Erfolgsaussichten von Friedensverhandlungen wird allerdings nicht nur die Verhandlungsbereitschaft Kiews, sondern vor allem die Position Moskaus entscheiden und diese ist bei Weitem nicht eindeutig. Allerdings liegt dies weniger an der Angst russischer Führung, schwach zu erscheinen.

Seit Beginn der russischen Invasion wurde intensiv darüber spekuliert, dass ein militärisches Scheitern in der Ukraine den Sturz von Wladimir Putin provozieren könnte. Schließlich belegen nicht wenige historische Vorbilder, dass gescheiterte Militärabenteuer zu einem schnellen Niedergang autoritärer Regime führen können. Doch dürfte diese Erwartungshaltung im Falle von Putins Russland enttäuscht werden. Denn Wladimir Putin gelingt es stets die Verantwortung für bittere Niederlagen anderen zu überreichen.

Viel wichtiger ist aber, dass die Ziele der sogenannten Spezialmilitäroperation mittlerweile zu zahlreich und zu widersprüchlich geworden sind, um ein eindeutiges Urteil über Sieg und Niederlage zuzulassen. Nachdem die Mehrheit russischer Bevölkerung Wladimir Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht als einen Akt völkerrechtswidriger Aggression, sondern als einen Russland aufgezwungenen Krieg gegen einen übermächtigen westlichen Gegner betrachtet, wird im Grunde genommen so gut wie jede Form des Widerstandes unabhängig vom tatsächlichen Ausgang als ein Sieg Moskaus gefeiert werden. Dank der Obrigkeitshörigkeit und Konformitätsbereitschaft weiter Teile der passiven Mehrheit der russischen Gesellschaft wird der Kreml beinahe jedes Ergebnis zu seinen Gunsten interpretieren können. Und die wenigen verbliebenen Kritiker werden mit Repressionen zum Schweigen gebracht.

Angesichts ungeheurer Kriegsverbrechen und menschenverachtender Zerstörungen bleibt Russland absolut unglaubwürdig. Moskau könnte die Verhandlungen genauso gut als eine Atempause zur Vorbereitung weiterer Offensiven im Frühjahr nutzen. Schließlich erscheinen zu viele Fragen einer Kompromisslösung kaum zugänglich. Die mit Abstand größte Unsicherheit ist und bleibt aber der russische Präsident Wladimir Putin. Seine Entscheidung über den weiteren Verlauf des Angriffskrieges gegen die Ukraine bleibt nicht absehbar.

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