Die Milliardendefizite in der gesetzlichen Krankenversicherung sollen nach Plänen des Bundesgesundheitsministers auch mit einer Erhöhung des Beitragssatzes ausgeglichen werden. Wäre es nicht effektiver, einer lukrativen Überversorgung im Gesundheitswesen den Riegel vorzuschieben, die Patienten und Bewohnern mehr Schaden als Nutzen bringt, und damit auch vulnerable Patienten und Bewohner vor Ausbeutung zu schützen? Interview mit Andrea Würtz, die erst Krankenschwester war, dann für das Gesundheitsamt arbeitete, das für die Aufdeckung des Pflegeskandals in einem Heim am Schliersee zuständig war, daraufhin kündigte und nun gegen Missstände in der Pflege kämpft.
Zum Hintergrund: Das Heim nahe München war im Mai 2020 wegen eines Corona-Ausbruchs in den Fokus der Behörden geraten. Dort stieß man auf fast verhungerte und verdurstete Bewohner, teils verwahrloste Senioren, alkoholisiertes Personal, Schimmel und Schmutz. Das Heim wurde trotzdem erst im September 2021 geschlossen.
Berliner Zeitung: Frau Würtz, nachdem Sie den Pflegeskandal mit 17 Toten und 88-facher Körperverletzung in einem Seniorenheim in Schliersee aufgedeckt hatten, entschieden Sie sich, Ihre Anonymität aufzugeben.
Andrea Würtz: Rückblickend waren die Erfahrungen im Zusammenhang mit dieser Seniorenresidenz der Tropfen, der bei mir das Fass zum Überlaufen brachte. Die Zustände, die ich nach Corona-Ausbruch 2020 als Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes dort feststellen musste, haben mir schmerzlich vor Augen geführt, dass offene Kritik von innen am System Pflege immer noch scheitert: Die vielen Protokolle, mein mehrfaches Anmahnen auf allen Entscheider-Ebenen und unter Einhaltung des Dienstweges – sie hatten weder ausgereicht, eine umgehende Heimschließung zu veranlassen, noch dafür zu sorgen, dass die Missstände aufhörten und sich für die betagten Menschen dort sichtbar und anhaltend etwas verbesserte.
Bis zur Schließung dauerte es noch 16 lange Monate …
… in denen es zu einem weiteren Vorfall kam: die Vergewaltigung einer Heimbewohnerin durch einen anderen, dementen Bewohner. Sie starb wenig später im Krankenhaus. Bis heute folgen keine Konsequenzen aus den festgestellten vielfachen Menschenrechtsverletzungen in diesem Pflegeheim. Für mich bedeutet das: Nur von außen und mit klarer, entschiedener Haltung und dem Verzicht auf Anonymität können Missstände in der Pflege wirklich verändert werden. Das alles ist ein Prozess, den ich erst einmal durchlaufen musste.
Seitdem kämpfen Sie öffentlich gegen Missstände in der Pflege.
Nach 32 Jahren Pflegeerfahrung – zuerst als Young Carer einer krebskranken Mutter, später als Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin in unterschiedlichen Arbeitsfeldern bis hin zur Pflegedienstleitung – kann ich sagen, dass sich das Systemversagen inzwischen wie ein roter Faden durch alle Bereiche der Pflege zieht. Es spielt dabei überhaupt keine Rolle mehr, von welcher Einrichtung wir sprechen, ob von einer für Menschen mit Handicap, für Senioren, ob von einem ambulanten Pflegedienst oder Intensivpflegedienst, Krankenhaus, einer Kinder- oder Rehaklinik. Es macht auch keinen Unterschied, wie alt die Patienten oder Bewohner sind, die unnötigen Maßnahmen, Demütigungen und Pflegefehlern schutzlos ausgeliefert sind. Unfassbare Missstände und Menschenrechtsverletzungen habe ich überall gesehen. Und bevor der Aufschrei für die „arme gebeutelte Pflege“ kommt und die Kritik, es werde hier mächtig „gebasht“: Ja, es gibt auch Einrichtungen, die mit gutem Beispiel vorangehen, nur leider sind es zu wenige. Es steht in keinem Verhältnis mehr.

Sie haben eine Zeit lang in der Pädiatrie gearbeitet. Was haben Sie da beobachtet?
In einem Krankenhaus habe ich miterlebt, wie Untersuchungen an Neugeborenen durchgeführt und Infusionen verabreicht wurden, die nicht angezeigt waren. Dies habe, so sagte es mir der Oberarzt der Funktionsabteilung in einem persönlichen Gespräch, abrechnungstechnische Gründe und diene dem Zweck, einen bestimmten Prozentsatz an Neugeborenen in die Versorgung außerhalb des Regelsatzes aufzunehmen. Die statistische Erfassung wurde dann für die betriebswirtschaftliche Rechtfertigung des Erhalts der pädiatrischen Station genutzt. Mit dieser Praxis trennte man auf grausame Weise die Neugeborenen von ihren Müttern und verhinderte dadurch das wichtige Bonding zwischen Mutter und Kind nach der Geburt, mitgetragen und umgesetzt trotz besseren medizinisch-fachlichen Wissens nicht nur von ärztlicher Seite, sondern auch entgegen allen ethischen Grundsätzen meiner Berufskollegen.
In der Undercover-Sendung „Jetzt erst recht“, in der „Team Wallraff“ bei RTL am 23. Juni erhebliche Pflege-Missstände in Alloheimen offengelegt hat, haben Sie als Pflege-Expertin einige Fälle aus der sogenannten Jungen Pflege kommentiert. Die Regionalleitungen der Pflegeheim-Kette haben die dokumentierten Missstände dementiert. Was haben Sie bei der Sichtung des authentischen Filmmaterials gesehen?
Ich habe während der Dreharbeiten immer wieder mit den Tränen ringen müssen. Es waren unfassbare Aufnahmen dort scheinbar alltäglicher Pflegesituationen. Am meisten betroffen gemacht hat es mich zu sehen, dass es lukrativer ist, eine junge Patientin mit Multipler Sklerose in einem Pflegeheim künstlich über eine Sonde durch die Bauchdecke zu ernähren und regelmäßig Verbände wegen dieser Sonde anzulegen, als ihr das Essen bereitzustellen, sie dazu zu ermuntern, selbstständig zu essen und einen Kostaufbau anzustreben. Sie war dadurch immobil geworden, hatte Schmerzen. Es profitieren davon die Hersteller von Verbandsmaterial, Schlauchsystemen und künstlicher Sondennahrung. Dabei dürfte wirklich jeder Pflegefachkraft – auch der einjährig ausgebildeten – klar sein, dass die selbstständige orale Nahrungsaufnahme sehr viel mit Lebensqualität zu tun hat. Trotzdem wird es nicht gemacht. Warum?
Man verdient offenbar an der künstlich herbeigeführten Unselbstständigkeit der Patienten und Bewohner. Trägt die Art der Konzeption „Junger Pflege“ dazu eventuell bei?
Insofern, als man damit Mehrkosten für den Mehraufwand an Therapien und Beschäftigung rechtfertigen kann, diese aber offensichtlich nicht überall durchführt, wie das Filmmaterial von „Team Wallraff“ belegt, ganz klar ja. Stattdessen wird zusätzlich auch noch unnötige Behandlungspflege abgerechnet.
Ein solcher Heimplatz, mit der immer teurer werdenden Eigenleistung, kostet die Krankenkassen rund 6000 Euro im Monat.
Der Ansatz, junge Menschen zwischen 18 und 65 Jahren im Rahmen des Konzepts der „Jungen Pflege“ zu rehabilitieren und gesellschaftlich wiedereinzugliedern, sodass sie am öffentlichen Leben teilhaben und nach Hause zurückkehren können, ist an sich gut. Wenn diese rehabilitativen Mehrleistungen der Krankenkassen aber als Einnahmen verbucht und an die Patienten dann nicht weitergegeben werden, weil sie den Gewinn erhöhen, wird nicht nur ganz klar das Ziel der Rehabilitation verfehlt, sondern es werden auch noch mit dem daraus resultierenden Leid der Bewohner Profite gemacht. Ein Unding! Hier sei die Frage erlaubt, warum die Krankenkassen nicht mehr Energie aufbringen, genauer hinzuschauen, ob die Leistungen tatsächlich erbracht wurden. Das muss doch auch im Interesse der Kassen sein.
Das heißt, die Krankenkassen zahlen für „Junge Pflege“, die Leistungen werden aber nicht vollumfänglich erbracht?
Genau. Es ist für manche Einrichtung wie ein Jackpot. Wenn es lukrativer ist, eine Verbesserung des Gesundheitszustandes von Patienten hinauszuzögern oder sie auch noch in einen schlechteren Zustand zu bringen, dann sollte das System „Junge Pflege“ hinterfragt werden und zwar allein schon deshalb, um Schaden von besonders vulnerablen Patienten und Heimbewohnern abzuwenden. Das Schlimme ist, dass es kaum effektive Möglichkeiten gibt, junge Erwachsene vor Missbrauch und dieser Form der Ausbeutung zu schützen. Es fehlen die Fürsprecher in einer Gesellschaft außerhalb der Mauern solcher Einrichtungen, in der es leider viel zu oft heißt: „Das ist halt so, daran kann man eh nichts ändern.“ So war in Wallraffs Undercover-Sendung häufig ein Grund für die beschriebenen Missstände, dass Angehörige beziehungsweise Betreuer nicht in Erscheinung getreten sind und so die Mitarbeiter der Einrichtungen freie Bahn hatten.
Sie haben in Schliersee, in der Pädiatrie und anderen Einrichtungen mehrfach miterlebt, dass Pflegekräfte und andere verantwortliche Berufsgruppen das System der lukrativen Überversorgung mitgetragen haben, während Bewohner und Patienten nicht einmal davon profitierten – im Gegenteil. Hat da eine Verrohung stattgefunden? Ist das Unrechtsbewusstsein abhandengekommen?
Ein Stück weit muss ich das mit ja beantworten. Mein Entsetzen ist jedes Mal aufs Neue groß, wenn ich feststellen muss, dass beschriebene Praktiken zum Leidwesen vulnerabler Personen von Mitarbeitenden im Gesundheitswesen einfach hingenommen oder sogar noch unterstützt werden. Es ist zum Fremdschämen. Ich frage mich, was ist mit uns passiert, dass wir, gleich welcher Fachkompetenz, ob Ärzte, Politiker, Angehörige, Pflegefach- oder Hilfskräfte, wissentlich in Kauf nehmen, dass Menschen, die nicht für sich selbst sprechen können, so leiden müssen, wo es doch vermeidbar wäre. Wofür? Die Frage steht schon im Raum, wer bitte die Verantwortung dafür trägt. Das muss aufgearbeitet werden. Und die Liste an Beispielen von Überversorgung, die den Patienten mehr Schaden bringen als nützen, ist lang.
Auf der anderen Seite besteht eine eklatante Unterversorgung trotz hoher Zuzahlungen. Kritische Pflegekräfte, die sich dagegenstemmen und alles geben, um die Patienten und Bewohner bestmöglich zu unterstützen, bekommen oft nicht die nötige Rückenstärkung, verlassen den Beruf, der ihnen einmal viel bedeutet hat.
Der Pflegekritiker und Sozialpädagoge Claus Fussek hat zum Rentenbeginn im Februar seine gesamte Sammlung an dokumentierten Pflegemissständen der vergangenen 40 Jahre zur wissenschaftlichen Auswertung an die Robert-Bosch-Stiftung übergeben. Es handelt sich um mehr als 40.000, meist anonym gemeldete Fälle – entstanden durch Vernachlässigung, Misshandlung, unterlassene Hilfe. Und welche Konsequenzen folgen daraus? Wie viele Pflegeskandale, wie viel menschliches Leid, wie viel vermeidbarer Schaden stecken in diesen sogenannten Einzelfällen aus dem ganzen Land? Natürlich können wir in der Pflege sagen, unsere Gutmütigkeit sei schamlos ausgenutzt worden, was sollen wir schon ausrichten? Wir könnten genauso gut aber auch sagen, wir solidarisieren uns, treten für die Grundrechte der Patienten und Pflegebedürftigen ein und treten berufspolitisch endlich einmal mit einer klaren und eindeutigen Agenda auf.
Sie haben sich für eine Anwaltschaft für Bewohner und Patienten entschieden.
In unserem Berufsstand müssen wir endlich eindeutiger und konsequenter für die uns anvertrauten Patienten und Pflegebedürftigen einstehen, uns klarer positionieren. Wir dürfen Missstände nicht länger durch unser Schweigen mittragen. Wir entscheiden damit immer auch über das Schicksal von Menschen, deren Versorgung uns anvertraut wurde. Ich habe erst kürzlich wieder eine Zuschrift erhalten, die belegt, dass die Priorisierung des Wohls der Patienten offensichtlich in vielen Köpfen von Berufskollegen nicht mehr vorhanden zu sein scheint. Würde sich die Pflege insgesamt neu organisieren und die Kluft zwischen Theorie und Praxis realistisch bewerten, könnten wir echte und nachhaltige Verbesserungen erreichen.
Wenn aber offensichtlich bestehende Strukturen im Gesundheitswesen Möglichkeiten bieten, dass Rechte von Menschen umgangen und Menschenrechtsverletzungen sanktionslos begangen werden können, wäre es dann nicht auch Sache des Staates, nachzubessern, Patienten und Bewohner vor Ausbeutung zu schützen?
Schlechte Pflege und daraus resultierende, höchst fragwürdige Gewinne dürfen sich für Pflegekonzerne nicht mehr lohnen. Es braucht klare, effektive Handlungskompetenzen und Sanktionsmöglichkeiten aufseiten der Kontrollbehörden, um einen umgehenden Schutz und Hilfestellung für Pflegebedürftige und Patienten sicherstellen zu können. Amtliche Kontrollinstanzen müssen sich stärker und landesübergreifend vernetzen, um auch international agierende Pflegekonzerne in Schach halten zu können. Stattdessen überwiegt die Sorge vor anwaltlicher Auseinandersetzung. Die Konzerne wissen das und können so leichter nationale Kontrollsysteme umgehen. Über Entrüstungswellen hinaus ist politisch da aber nicht viel passiert, obwohl umgehender Handlungsbedarf bestünde.
Haben Sie ein Beispiel?
Bewohner und Mitarbeiter bleiben nach einem Trägerwechsel oft dieselben. Missstände aus früherer Trägerschaft dürfen bei Begehungen nicht berücksichtigt werden. Das sind nur zwei von unzähligen lähmenden Unsinnigkeiten.
Missstände werden also über lange Phasen sogar noch zementiert.
Genau. Solche Punkte tragen zum Erhalt von Missständen bei. Das kann nur politisch verändert werden. Es bedarf daher umgehend einer ausgeprägten Reform der Heimaufsichtsstrukturen, des Heimgesetzes und der Handlungskompetenzen vor Ort, damit bei Missständen ohne zeitliche Verzögerung eingegriffen werden kann und Sanktionen folgen. Aktuell gehen genannte Systemmängel vor allem zulasten geschädigter Bewohner und Patienten.
Karl Lauterbach möchte mit einer besseren Bezahlung des Pflegepersonals für Verbesserungen sorgen. Kann das auch die Strukturen verändern?
Natürlich brauchen wir insgesamt eine bessere Entlohnung. Aber: Soll dieser Vorstoß eine Art Schmerzensgeld sein, psychisch und physisch höchst belastende Arbeitsbedingungen besser zu ertragen? Wird das den aufgestauten Frust beenden, bereits mit Schichtbeginn zu wissen, dass keine gute Pflege geleistet werden kann? Und was ändert sich dadurch für die zu Pflegenden?
Was ändert sich an der lukrativen Überversorgung?
Natürlich nichts.
Sie haben Politikern auf Landes- und Bundesebene Unterstützung angeboten.
Dieses wichtige Thema darf nicht in parteipolitischen Machtspielen untergehen. Bei der notwendigen Aufarbeitung des Schliersee-Skandals sollte es politisch nicht darum gehen, mit dem Finger auf andere Parteien oder Politiker zu zeigen.
Wie sieht für Sie eine echte Aufarbeitung aus?
Zunächst wäre eine Ist-Analyse wichtig. Im Interview bei „Team Wallraff“ sagte Gesundheitsminister Karl Lauterbach, man habe im Bereich der Private-Equity-Heimketten ein wenig die Übersicht über die Eigentumsverhältnisse verloren – eine wichtige, ehrliche Aussage und Erkenntnis! Im Fall Schliersee war der italienische Betreiber Sereni Orizzonti (zu Deutsch: „ruhige Horizonte“, Anm. d. Autorin) in Italien bereits durch Missstände und Gerichtsverfahren bekannt. Trotzdem konnte er problemlos das Seniorenheim in Schliersee durch einen Trägerwechsel übernehmen. Es muss also genauer hingeschaut werden: Wie wurde mit den dokumentierten, belegbaren, wiederholt festgestellten Mängeln – mit anderen Worten: mit all dem dadurch entstandenen Leid, den Schmerzen, den Körperverletzungen und Todesfällen – umgegangen und wie will man künftig generell mit solchen Missständen verfahren?
Die Fakten von Schliersee liegen längst auf dem Tisch.





