Kommentar

Ist dies das Ende der Solidargemeinschaft?

Pflegekräfte sollen ab September besser bezahlt werden – doch die Politik hat versäumt zu regeln, dass Patienten und Angehörige das nicht alleine schultern.

Pflegekräfte sollen besser entlohnt werden: In der Folge kommen auf viele Pflegebedürftige oder deren Angehörige Preissteigerungen zu.
Pflegekräfte sollen besser entlohnt werden: In der Folge kommen auf viele Pflegebedürftige oder deren Angehörige Preissteigerungen zu.dpa-tmn

Es ist gar nicht lange her, da wurde Jochen Springborn als Held gefeiert. Auf der Bühne des Roten Rathauses wurde ihm von der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) eine Auszeichnung mit vielen warmen Worten verliehen: der „goldene Pflegebär“.

Er fühlte sich geehrt. Ihm war bis dahin selbst nicht so richtig klar gewesen, was er alles geleistet hatte in den vergangenen 30 Jahren, seitdem seine Frau Anke Multiple Sklerose hat. Und dass er sie seit mindestens 20 Jahren pflegt, seit sie im Rollstuhl sitzt. Dass er stolz auf sich sein kann. Das wurde ihm erst bei der Verleihung bewusst. Damals sagte er noch: „Ich fühle mich nicht als pflegender Angehöriger. Ich bin der Partner meiner Frau, und ich tue, was nötig ist. Das ist für mich völlig selbstverständlich.“

Doch so selbstverständlich wie für den 53-jährigen Berliner und mit ihm Millionen weiterer pflegender Angehöriger die tagtägliche Pflege ihrer Liebsten ist, so selbstverständlich scheint es für die Politik zu sein, ebenjene Angehörigen regelmäßig zu vergessen – abseits von einzelnen Ehrenamts-Ehrungen. Und zwar im ganz großen Stil.

Es gibt über vier Millionen Pflegebedürftige in diesem Land, Tendenz steigend. Fast 80 Prozent davon werden von ihren Angehörigen zu Hause gepflegt und nicht in den 15.000 Pflegeheimen, die es zusätzlich gibt. Dort leben nur die wenigsten Pflegebedürftigen. Wir schreiben das in dieser Zeitung seit Jahren, doch die meisten Medien berichten nur wenig über Pflege zu Hause, viel öfter über Pflege in Kliniken und Heimen. Unter anderem dadurch entsteht der Eindruck, die Deutschen würden sich der Pflege ihrer Angehörigen zunehmend entledigen und sie der professionellen Pflege überlassen, auch viele Pflegekräfte glauben das aus ihrer eigenen Erfahrungswelt heraus. Dieser Eindruck ist falsch.

Die allermeisten Pflegebedürftigen werden von bis zu acht Millionen Angehörigen gepflegt, diese werden zum Teil von fast 15.000 ambulanten Pflegediensten unterstützt, diese Daten liefert unter anderem das Bundesamt für Statistik alljährlich. Wenn man diese Zahlen also kennt: Wie kann es sein, dass die aktuelle Gesetzesänderung zur Tariferhöhung bei Pflegekräften offenbar nicht geregelt hat, wer wann diese Mehrkosten schultert?

Nachdem wir im Mai über Jochen Springborn im Rahmen der Preisverleihung berichtet hatten, erreichte uns nun sein Hilferuf: Bis zu 1000 Euro mehr im Monat soll er ab September für den Pflegedienst zahlen, der ihn bei der Pflege seiner Frau unterstützt – monatlich. Schuld ist das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG). Springborn hat nichts dagegen, Pflegekräfte besser zu bezahlen, im Gegenteil. Er kann nur nicht begreifen, dass er offenbar alleine dafür aufkommen soll als ohnehin schon pflegender Angehöriger. Und dass es bis heute keine vernünftige Regelung dafür gibt, welchen Anteil die Kassen und welchen die Angehörigen übernehmen.

Ist dies das Ende der Solidargemeinschaft? Grundsätzlich kann jeder zum Pflegefall werden – egal wie gesund oder gewissenhaft er zuvor gelebt hat. Es gibt auch behinderte Kinder, manche werden als Pflegefall geboren. All diese Menschen sowie ihre ohnehin schon von der Politik stets benachteiligten Angehörigen sollen nun die bessere Bezahlung der Pflegekräfte vor allem zu Hause alleine schultern, für die sich die Politik gegenseitig auf die Schulter klopft?

Man hätte über die zahlreichen Fehler von Karl Lauterbach (SPD) fast vergessen, wie Jens Spahn (CDU) einst als Gesundheitsminister agierte: Zahllose Gesetze und Neuerungen trieb er im Eiltempo voran, um als besonders tatkräftig wahrgenommen zu werden und sich für höhere Ämter zu qualifizieren. Die Umsetzung war dann seine Sache nicht. So ist es auch jetzt wieder mit dem von ihm gegen viele Widerstände 2021 verabschiedeten GVWG. Sein Nachfolger hatte offenbar keine Zeit, sich darum zu kümmern, er scheint nach wie vor mit Corona zu beschäftigt, warum auch immer.

Zu den Warnungen des Sozialverbands VdK, dass die Lohnsteigerung für Pflegekräfte mit Inkrafttreten auf die Patienten und Angehörige abgewälzt werde, sagte Lauterbach nur: „Die Gesellschaft muss die Leistung besser honorieren.“

Wie honoriert die Gesellschaft denn die Leistung der pflegenden Angehörigen? Gar nicht. Außer ab und zu durch warme Worte. Wenn überhaupt. Es ist ein absurdes Versagen der Politik, dass Patienten und Angehörige jetzt zittern müssen, ob sie sich die Pflege aktuell noch leisten können.