Jochen Springborn ist nicht wütend. Er spricht ganz ruhig und sehr klar. Das Gemüt des 53-jährigen Berliners wirkt so aufgeräumt wie das Zuhause, in dem er seit 13 Jahren mit seiner Frau Anke wohnt.
Die Tochter ist längst aus dem Haus, die Wohnung im Hochparterre in Köpenick ist rollstuhlgängig durch eine Rampe und einen Treppenlift, sie wurde extra behindertengerecht umgebaut. Trotzdem dauert es 45 Minuten, bis er seine an MS erkrankte Frau aus dem Wohnzimmer bis auf die Straße bringen kann. Manchmal schaffen sie das, im Sommer, wenn draußen die Musik spielt, machen sie einen kurzen Ausflug in die Altstadt. Viel Zeit bleibt ihnen dann nicht, denn nach drei Stunden kommt schon wieder der Pflegedienst. Und von der Straße bis zurück in die Wohnung dauert es noch mal eine halbe Stunde mit allem drum und dran. Der Alltag ist durchgetaktet von morgens um halb sieben bis spät in die Nacht, eigentlich rund um die Uhr. Anders ist die Pflege zu Hause mit Pflegegrad 5 nicht zu schaffen.
Seine Frau sitzt seit 20 Jahren mit MS im Rollstuhl
Jochen Springborn ist nicht wütend, er ist ratlos. Seit 30 Jahren leidet seine Frau an Multipler Sklerose, es fing schleichend an, nachdem sich die beiden mit Anfang 20 in einem Ferienlager kennengelernt hatten. Sie ist die Frau seines Lebens, sie hat seine Tochter geboren, sie konnte sich in den ersten zehn Jahren noch komplett selbst versorgen, laufen und sprechen. Doch sie sitzt nun schon seit 20 Jahren im Rollstuhl, ihre Fähigkeiten, das Sprechen, das Bewegen, lassen stetig schleichend nach, immer mehr medizinische und pflegerische Komplikationen kommen hinzu und müssen wieder ausgeglichen werden, um den Alltag zu bewältigen. 2015, da ging es nicht mehr. Jochen Springborn, als Ingenieur leitender Angestellter bei einer Schulstiftung, brach zusammen.
Die Pflege seiner Frau, die er bis dahin bis auf die rudimentäre Unterstützung durch einen Pflegedienst, die von der Kasse gezahlt wird, selbst geleistet hatte, wurde einfach zu viel. Er weiß heute nicht mehr, was genau passiert ist, nur dass er im Krankenhaus wieder aufgewacht ist. Es folgten eine Reha und eine Therapie, in der er merkte: Ich muss mir viel mehr Hilfe holen, sonst klappt das nicht mehr. Er stellte die Pflege seiner Frau auf neue Füße.
Um die 20 freiwillige Helfer hat er seitdem aus dem Freundes-, Bekannten- und Familienkreis rekrutiert, die alle tun, was sie können, sobald er sie darum bittet. Der eine macht mal die Steuererklärung, der andere kauft mal ein, die dritte hilft bei der Pflege. Alle tun es gerne, das Ehepaar ist unendlich dankbar für die unerwartete Hilfsbereitschaft. Jochen Springborn hätte sich vor seinem Zusammenbruch gar nicht getraut, danach zu fragen.
Doch natürlich reicht das nicht aus für einen Pflegefall, der rund um die Uhr Hilfe braucht. Die Pflegekasse zahlt für den höchsten Pflegegrad im Monat rund 2000 Euro, dafür kommt ein Pflegedienst täglich etwa zweimal vorbei. Seine Frau benötigt aber viel öfter Hilfe, bei allem was sie tut. Deshalb hat Jochen Springborn 2016 in den sauren Apfel gebissen und zahlt nun dem Pflegedienst zusätzlich etwa 2000 Euro monatlich – damit dieser viermal am Tag kommt. Er zahlt das aus eigener Tasche, weitere Zuschüsse gibt es nicht. Stattdessen übernehmen die Krankenkassen immer weniger Medikamente, sodass auch deren Zuzahlung steigt. Hinzu kommen die steigenden Lebenshaltungskosten. Springborn sagt: „Wir kommen am Ende bei einer schwarzen Null raus.“
Was er damit meint: Die Pflege seiner Frau und die Lebenshaltungskosten fressen sein gesamtes Gehalt auf. Und das obwohl er gut verdient und sein Arbeitgeber voller Verständnis für die Pflegesituation ist und ihn auch mal freistellt, wenn es nicht anders geht. Er fühlte sich bisher dadurch privilegiert. Zumindest gegenüber anderen, denen es viel schlechter geht und viel schwerer fällt, den oft harten Pflegealltag über viele Jahre zu meistern, ohne selbst komplett draufzugehen, die eigene Arbeit zu verlieren oder grundsätzlich zusammenzubrechen. Er dachte immer: Wir schaffen das schon, es muss ja gehen, wir kommen doch gut zurecht. Und sie haben es ja auch immer wieder geschafft.
Pflegekräfte sollen mehr Geld bekommen – doch wer bezahlt das?
Doch was jetzt kommt, ist anders. Zum 1. September werden in der Pflege die Tarife erhöht. Alle Pflegeeinrichtungen müssen ihre Pflege- und Betreuungskräfte nach einem Tarifvertrag oder nach regional üblichen Durchschnittsgehältern bezahlen. Jochen Springborn bekam daher vor zwei Wochen einen Brief vom Pflegedienst, in dem dieser eine Preiserhöhung ankündigte.
Wie hoch genau der Preis ab Ende September sein wird, kann heute noch niemand sagen. Die ambulanten Pflegedienste müssen die Übernahme ihrer neuen Preise bei den Pflegekassen beantragen; da dies nun für alle Pflegedienste gleichzeitig geschieht, sind die Kassen – Überraschung – mit dem Ansturm überfordert und müssen nun erst mal die Anträge abarbeiten, bevor die Pflegedienste wissen, wie viel die Kassen übernehmen. Danach erst weiß man, was privat an Zuzahlung übrig bleibt.
Hinzu kommt, dass die Politik offenbar bis heute nicht ausreichend geklärt hat, wer und zu welchen Teilen die Mehrkosten übernimmt. Jochen Springborn muss deshalb davon ausgehen, dass der maximale Preis nun erst mal an ihn weitergegeben wird. Der Pflegedienst hat ihm seine neuen Leistungskomplex- und Privatleistungspreise offengelegt: Aus der „kleinen Körperpflege“ für 12,66 Euro etwa wird die kleine Körperpflege für 18,67 Euro; aus der Hilfe bei der Nahrungsaufnahme für 15,86 Euro werden nun 23,38 Euro. Das sind immer nur ein paar Euro mehr – pro Leistung. Doch wenn jemand rund um die Uhr Hilfe benötigt, läppert sich das gehörig. Für Patienten mit geringen Pflegegraden wird sich im Vergleich nicht ganz so viel ändern. Für Jochen Springborn bedeutet es, das hat er schon ausgerechnet: Etwa 1000 Euro mehr für den Pflegedienst. Pro Monat.
Noch ist zwar unklar, ob die gesamten Kosten auf die Privathaushalte umgelegt werden und wenn nein, dann wie viel davon. Doch selbst bei einer Umlage von nur 25 Prozent anstatt einer Preiserhöhung von 47 Prozent durch den Pflegedienst, die Springborn errechnet hat, blieben knapp 500 Euro private Zuzahlung mehr im Monat. Auch das ist für die Familie nicht mehr leistbar.
Ein Umzug ins Heim kommt nicht infrage
Deshalb ist Jochen Springborn nun hilflos. Noch hofft er darauf, dass die Politik den Eigenanteil der Zuzahlung weiter begrenzt. Doch es gibt weder Anlass dazu noch Kommunikation darüber: Die pflegenden Angehörigen werden in Deutschland von der Politik schon seit Jahrzehnten meist erst vergessen und dann mit Almosen abgespeist. Ein Aufstand ist nicht zu erwarten – weil pflegende Angehörige weder die Zeit noch die Kraft dazu haben. Eine kompetente Beratung zu diesen neuerlichen Finanzierungsproblemen ist auch schwerlich zu finden. Der Sozialverband VdK warnt davor, dass die Mehrkosten für die Tariferhöhungen auf die Patienten und Angehörigen abgewälzt werden. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sagte am Mittwoch dazu nur: „Die Gesellschaft muss diese Leistung besser honorieren.“ Jochen Springborn ist also mal wieder auf sich selbst gestellt.
Hintergrund ist das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) aus dem Jahre 2021, das Jens Spahn (CDU) als damaliger Gesundheitsminister noch durch das Parlament gebracht hatte, obwohl es äußerst umstritten war. Spahn erklärte damals, es mache „mit höheren Löhnen, mehr Kompetenzen und mehr Kolleginnen und Kollegen“ den Pflegeberuf attraktiver. „Gleichzeitig entlasten wir Pflegebedürftige und ihre Familien in Milliardenhöhe.“ Davon ist nun für die Familie aus Köpenick so gar nichts zu spüren – im Gegenteil.
Denn es ist nach wie vor unklar, wie die Finanzierung vonstatten geht. Nicht alle Pflegedienste rufen plötzlich eine Preissteigerung von 47 Prozent auf. Doch Springborn möchte den Pflegedienst behalten, der schon über zehn Jahre seine Frau pflegt – und er muss es auch. Den Pflegedienst zu wechseln, sei seit Corona schier unmöglich geworden, in Berlin nehme kaum noch jemand neue Fälle auf, wegen des verschärften Pflegenotstandes.
Zudem hat er das Glück, mit dem Pflegedienst sehr zufrieden zu sein. Einen neuen zu finden, bei dem dann alle Mitarbeiter erst wieder langwierig neu eingelernt werden müssen, der überhaupt einen Pflegefall der höchsten Pflegestufe annimmt und dann noch zuverlässig versorgt, zudem hier noch mal doppelt so oft täglich kommt wie vorgesehen, das erscheint aktuell unmöglich. Die gesamte Branche kämpft seit Jahren mit Personalnot, die ambulante Pflege mehr denn je.
Warum ist die Neuregelung nicht zu Ende gedacht?
Es wird also nichts nützen, denn Jochen Springborn kann nicht darauf warten, bis sich der Gesundheitsminister seines Falles annimmt, was eh nie passieren wird: Springborn muss sich nun wieder darauf einstellen, das Unmachbare möglich zu machen. Geschieht jetzt kein Wunder, wird er wohl mit seinem Arbeitgeber sprechen müssen, um seine Arbeitszeit zu reduzieren. Um seine Frau wieder selbst noch mehr zu pflegen. Eigentlich geht das nicht, er hat es ja schon einmal erlebt. Er wird dann wohl wieder krank werden, überfordert. Kein Mensch kann sich rund um die Uhr um einen anderen Menschen derart ausgiebig kümmern, wie es ein Pflegefall der höchsten Pflegestufe täglich benötigt. Aber was soll er machen?
Die einzige Alternative, Anke in ein Heim zu geben, wo die Zuzahlung eventuell niedriger wäre, kommt für das Paar nicht infrage. Sie sagt: „Das ist meine Horrorvorstellung.“ Auch er möchte nicht mal daran denken. Abgesehen davon sind auch Heime, zumal unter dem herrschenden Pflegenotstand, nicht darauf ausgelegt, einen Patienten der höchsten Pflegestufe rund um die Uhr zu versorgen, zumindest nicht denselben über so viele Jahre hinweg. Hochaltrige Menschen können dort am Lebensende gepflegt werden. Aber Anke ist 56 Jahre alt. Zu Hause hat sie noch vergleichsweise viel Lebensqualität.
Wenn ihr Mann morgens aufsteht und frühstückt, sich für die Arbeit fertig macht, dann kommt währenddessen für sie der Pflegedienst, wäscht sie, zieht sie an, putzt die Zähne, setzt sie in den Rollstuhl und macht ihr Frühstück. Anderthalb Stunden dauert das, und Jochen Springborn schaut dann noch, ob sie Hilfe beim Essen braucht, bevor er zur Arbeit fährt. Morgens hat sie noch Energie, die lässt im Laufe des Tages immer weiter nach. Mittags kann sie nicht mehr alleine essen, dann hilft wieder der Pflegedienst. Abends hilft ihr Mann dabei, zurück von der Arbeit.
Zwischendurch sitzt sie im Rollstuhl, schaut TV oder beschäftigt sich am PC. Den hat ein Freund extra für sie umgebaut, sodass sie ihn trotz schwindender Kräfte in den Fingern noch bedienen kann. Das geht immer nur für ein paar Minuten, aber es geht. Wenn sie müde ist, kann sie selbst über einen Joystick ihren Rollstuhl in Rückenlage bringen. Spätestens alle sechs Stunden muss sie zur Toilette gebracht und dort muss so gut wie alles für sie übernommen werden. Der Alltag des Paares ist komplett auf die Pflege ausgerichtet, genau auf Ankes Bedürfnisse abgestimmt. Ein Umzug ins Heim würde den kompletten Verlust ihrer Autonomie bedeuten. Von außen ist das manchmal schwer nachvollziehbar, für Pflegende und Patienten bedeutet es oft einen Abschied, den keiner will.






