Kurz vor Mittag am Montag, 10. Oktober 2022 mitteleuropäischer Zeit endeten die mit fast sechs Stunden längsten Luftangriffe auf die ukrainischen Städte seit Kriegsbeginn. Die Angriffe deutete Russlands Präsident Wladimir Putin am Sonntagabend nach einer Sonderbesprechung mit dem Leiter des russischen Ermittlungskomitees Aleksandr Bastrykin an.
Denn als unmittelbarer Auslöser russischer Vergeltungsschläge dienten schwere Explosionen an der Brücke über die Straße von Kertsch am frühen Sonnabendmorgen. Diese bezeichnete Putin als „Angriffe auf kritische zivile Infrastruktur“. Am Montagvormittag nannte der russische Staatspräsident, sich auf die Worte Bastrykins berufend, die ukrainischen Geheimdienste als „Urheber des Terroraktes“, diese sollen in der Ausführungsphase „von russischen und ausländischen Staatsbürgern“ Unterstützung erfahren haben. Ein sichtlich gut gelaunter Michailo Podoljak, Berater der Präsidialverwaltung der Ukraine, erklärte dagegen am Sonnabendabend süffisant, dass die wahre Ursache der Ereignisse in Konflikten zwischen russischen Sicherheitsbehörden zu suchen sei.
Während die offizielle ukrainische Seite somit jedwede Beteiligung von sich wies, bestätigten am Sonntagabend anonyme Vertreter der ukrainischen Geheimdienste, hinter dem Anschlag gestanden zu sein. Insofern dürfte Wladimir Putin zumindest diesmal nicht in allem gelogen haben. Es dürfte sich tatsächlich um eine der erfolgreichsten – jedenfalls aber um eine der symbolträchtigsten – Operationen ukrainischer Geheimdienste seit Beginn der aktuellen Kriegsphase am 24. Februar 2022 handeln. Denn die Urheberschaft russischer Geheimdienste kann mit großer Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.

Zu dramatisch und unheilverkündend erscheint die herbe Symbolik des brennenden persönlichen Prestigeprojektes von Wladimir Putin auf der von Russland besetzten und völkerrechtswidrig annektierten ukrainischen Halbinsel Krim. Auch ist die Kertsch- oder Krim-Brücke nicht nur das Liebkind des russischen Staatschefs, sondern absolut kritisch für die logistische Versorgung russischer Streitkräfte im Süden der Ukraine sowie auf der Krim.
Terror als Kriegsmittel
Einen unmittelbaren Einfluss auf den Kriegsverlauf werden die heutigen Angriffe nicht haben; wohl aber einen mittelbaren. Die aktuellen Ereignisse haben zwei Dinge deutlich aufgezeigt. Zum einen ist Putin auch angesichts dieses schmerzvollen Anschlags keinesfalls bereit, die sogenannte Spezialmilitäroperation zu beenden und der Ukraine den Krieg zu erklären, mit allen daraus logisch ableitbaren Schritten wie der Verkündung der Generalmobilmachung und der Verhängung des Kriegszustandes. Zum anderen werden Angriffe gegen kritische zivile Infrastruktur der Ukraine (inklusive Strom-, Wärme- und Wasserversorgung sowie Wohnhäuser, Schulen und Kindergärten) dramatisch an Intensität gewinnen.
Auf diese Weise wird der Kreml die Versorgungslage der ukrainischen Bevölkerung extrem verschlimmern und den Druck auf die ukrainische Regierung enorm zu erhöhen versuchen. Den Rubikon hin zum systematischen Terror als Kriegsmittel hat Putins Regime endgültig überschritten.
Dilemmareiche Suche nach einem Sündenbock
In der jüngsten Vergangenheit haben die russischen Behördenvertreter, so unter anderen auch der Kremlsprecher Dmitrij Peskow, mehrfach betont, dass die Sicherheit der Krim-Brücke gewährleistet sei. Dass dieser Anschlag überhaupt möglich wurde, ist aber eine unvorstellbare Blamage für die russischen Sicherheitsbehörden. Folgenlos dürfte dieses Ereignis nicht bleiben.
Aufgrund des Anschlages auf die Krim-Brücke, der militärischen Misserfolge der russischen Armee im Osten und Süden der Ukraine, der von zahlreichen Skandalen begleiteten Mobilmachung und des sinkenden Zuspruchs des Volkes für den Kreml benötigt Putin dringend einen Sündenbock. Die Absetzung von Verteidigungsminister Schojgu und Generalstabschef Gerasimov wäre gegenwärtig die naheliegendste Lösung.
Diese Absetzung fordert nämlich auch der radikale Flügel innerhalb der sogenannten „Partei des Krieges“. Sonnabendnacht berichtete der der Söldnergruppe Wagner und ihrem Gründer Jewgenij Prigoschin nahestehende Telegram-Kanal Grey Zone über die angebliche baldige Absetzung des jetzigen Verteidigungsministers Sergej Schojgu.
Mit diesem Schritt würde sich Putin allerdings enorm selbst schwächen und an Einfluss innerhalb der wichtigen Gruppe der sogenannten Silowiki (Führungsebene der Sicherheitsbehörden) verlieren. Denn der radikale Flügel unter der Führung des Wagner-Gründers Jewgenij Prigoschin und Tschetscheniens Diktator Ramsan Kadyrow fordern niemand Geringeren als den Gouverneur des Gebietes Tula und in die Operation im Vorfeld der Annexion der Krim im Jahr 2014 involvierten ehemaligen hohen Verantwortlichen des russischen Militär-Nachrichtendienstes GRU, Aleksej Djumin, als neuen Verteidigungsminister.

Damit würde der radikale Flügel innerhalb der russischen Führung stark an Einfluss gewinnen. Gegen das mit formeller militärischer Macht ausgestattete, agile Triumvirat Prigoschin–Kadyrow–Djumin würde Wladimir Putin kaum ankommen können.
Denn sollte Aleksej Djumin tatsächlich in die Regierung kommen, wird er sofort als Kronprinz und potenzieller Nachfolger Putins wahrgenommen werden. Ein gefährlicheres Ereignis ist für den langjährigen russischen Präsidenten wohl kaum vorstellbar und könnte das Ende Putins bereits im Jahr 2023 bedeuten.
Während der Angriff auf die Krim-Brücke für Putin im ersten Moment zwar blamabel aber nicht katastrophal erscheint, könnten jedoch die dadurch ausgelösten und von Radikalen geforderten Maßnahmen, wie beispielsweise personelle Rochaden, Putin – nicht nur – sein Amt kosten.





