Ukraine-Krieg

Wie die russische Gesellschaft das autoritäre System Putins stützt

Nach Monaten des Krieges steht eine Mehrheit der Russen immer noch hinter ihrer Regierung. Selbst die schlimmsten Verbrechen können sie nicht aufwühlen.

Spaziergänger im Zaryadye-Park vor dem Spasskaya-Turm des Kremls (L) und der Basilius-Kathedrale in Moskau.
Spaziergänger im Zaryadye-Park vor dem Spasskaya-Turm des Kremls (L) und der Basilius-Kathedrale in Moskau.AFP/Yuri Kadobnov

Nach den hoffnungsvollen Gesprächen in Istanbul von Ende März ist der Friedensverhandlungsprozess zwischen der Ukraine und Russland abrupt zum Erliegen gekommen. In Anbetracht zahlreicher Gewaltakte gegen die ukrainische Zivilbevölkerung sowie unzähliger Kriegsverbrechen durch die russischen Streitkräfte entschwand der zu Kriegsbeginn durchaus vorhandene Raum für Kompromisse.

Angesichts der jüngsten ukrainischen Militärerfolge könnte sich an der Schwelle zum achten Monat des russischen Angriffskrieges jedoch neuer Raum für diplomatische Verhandlungen abzeichnen. Dabei ist und bleibt die mit Abstand größte Unsicherheit der russische Präsident Wladimir Putin. Seine Entscheidung über den weiteren Verlauf des Krieges bleibt kaum absehbar. Aus diesem Grund gilt es für den Westen, parallel zum militärischen Druck der Ukraine den eigenen politischen und wirtschaftlichen Druck aufrechtzuerhalten, ja, nach Möglichkeit noch weiter zu erhöhen.

Auf politischen Druck vonseiten der russischen Bevölkerung sollte dagegen nicht gesetzt werden. Denn die überwiegende Mehrheit der Russen wird bereit sein, so gut wie jede Entscheidung der russischen Führung mitzutragen.

Die Einstellung der russischen Bevölkerung zum Krieg ist nach Ansicht der Experten des renommierten regierungskritischen Meinungsforschungsinstitutes Levada-Zentrum ein überaus komplexes Thema. Zunächst einmal wird unter dem Begriff Krieg traditionell ein Weltkrieg verstanden (genauer: ein atomarer Weltkrieg). Doch auch die Einstellung gegenüber der Kriegsgefahr dürfte deutlich komplexer sein, als Umfragen dies abbilden könnten.

„Wir sind friedliche Menschen, aber unser Panzerzug steht auf dem Reservegleis“

Auf den ersten Blick zeichnen alle Umfrageergebnisse des Levada-Zentrums aus dem Jahr 2021 zwar ein deutliches Bild und zeugen von einer klar ablehnenden Haltung und großer Kriegsangst unter zwei Dritteln der Befragten. Gleichzeitig werden jedoch demonstrative Drohgesten (Militärparaden) und die passiv-aggressive Rhetorik der russischen Führung ganz im Sinne der in Russland kanonischen Gedichtzeilen Michail Swetlows „Wir sind friedliche Menschen, aber unser Panzerzug steht auf dem Reservegleis“ von einer deutlichen Mehrheit unterstützt.

Levada-Experten sprechen in diesem Zusammenhang von einem doppelten Antlitz der kollektiven Persönlichkeit der russischen Gesellschaft. Demnach wurde ihr seit der Stalinzeit ins kollektive Bewusstsein das Selbstbild einer durch und durch friedvollen Nation eingeimpft – unter der friedlichen Oberfläche aber dürfte die Kriegsführungsbereitschaft deutlich ausgeprägt sein.

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Zum Autor
Dr. Alexander Dubowy ist Politik- und Risikoanalyst sowie Forscher zu internationalen Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum. Er ist Mitarbeiter der Berliner Zeitung am Wochenende.

Ein echter Krieg kann nur auf russischem Boden ausgetragen werden

Dazu trägt das unter Wladimir Putin zum Staatskult erhobene Gedenken an den Großen Vaterländischen Krieg (Kampf der Sowjetunion gegen das nationalsozialistische Deutschland 1941–1945) wesentlich bei. Denn nach Ansicht der Bevölkerung kann ein (echter) Krieg nur auf russischem Boden ausgetragen werden. Kriegshandlungen außerhalb Russlands werden von der Gesellschaft als – mehr oder weniger ihre Aufmerksamkeit erfordernde – begrenzte bewaffnete Auseinandersetzungen oder auch  Friedens- und Unterstützungseinsätze unter Beteiligung russischer Streitkräfte verstanden.

Der russische Präsident Wladimir Putin.
Der russische Präsident Wladimir Putin.AP/Sergei Bobylev

Diese Eigenart der russischen Gesellschaft kommt der Führung des Landes sehr gelegen. Sie wird zu propagandistischen Umdeutungszwecken herangezogen, etwa mit Blick auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ungeachtet der Tatsache, dass Tschetschenien eine Teilrepublik Russlands war und bleibt, trifft dies interessanterweise auch auf die beiden Tschetschenienkriege zu: Im russischen Kollektivbewusstsein ist die Kaukasusrepublik de facto inneres Ausland; Ähnliches dürfte auch für andere Republiken des Nordkaukasus gelten.

Stimmloses Echo russischer Kriegsverbrechen

Nach beinahe sieben Monaten voller schockierender und über die sozialen Medien frei zugänglicher Bilder von Gewalt, Zerstörung und Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung findet der Angriffskrieg Russlands kaum Eingang ins Bewusstsein weiter Teile der russischen Gesellschaft. Ganz im Gegenteil: Laut Umfragen des Levada-Zentrums sinkt das Interesse der Bevölkerung an den Kriegshandlungen von Monat zu Monat. Selbst die ungeheuren Verbrechen russischer Streitkräfte vermögen die Bevölkerung nicht aufzuwühlen. Die schrecklichen Bilder aus Butscha, Borodjanka, Kramatorsk, Mariupol und Tschernihiw scheinen nicht die Kraft aufbringen zu können, um die russische Gesellschaft aus ihrer selbst verschuldeten Passivität zu reißen.

Das gleiche Schicksal wird auch die aktuellen Bilder der Massengräber aus Isjum ereilen. Insofern ist es nicht weiter verwunderlich, dass alle Umfragen sowohl des regierungskritischen Meinungsforschungsinstitutes Levada-Zentrum als auch des staatlichen Meinungsumfrageinstitutes WCIOM seit Monaten beinahe deckungsgleiche Ergebnisse liefern. Ungeachtet der Schreckensbilder bleibt die Unterstützung sowohl für die sogenannte Spezialmilitäroperation als auch für die Führung und die Institutionen des Landes hoch. Grund dafür ist die durch den Außendruck herbeigeführte Konsolidierung der Bevölkerung rund um die Staatsführung. Da das politische System mit der Person Wladimir Putin gleichgesetzt wird, erhält der Präsident eine sehr hohe Legitimität, um so gut wie jede Entscheidung im Namen des russischen Staates und seiner Bevölkerung treffen zu dürfen. Putin wird das Recht übertragen, zu entscheiden, was die Menschen in Russland brauchen und was nicht.

Passive Konformität russischer Gesellschaft als Fundament von Putins Macht

So berechtigt das Misstrauen gegenüber der Aussagekraft von Umfragen in autoritär regierten Staaten auch ist, so sollte dennoch gerade in Bezug auf die russische Gesellschaft ein wesentlicher Aspekt nicht übersehen werden: die passive Konformität der Bevölkerung.

Die freiwillige Unterwerfung unter die ideologische Deutungshoheit des Staates erfolgt nicht zuletzt aus der Überzeugung heraus, ohnehin so gut wie nichts am Verhalten der Entscheidungsträger ändern zu können. Dennoch war und bleibt auch die allgemeine Bequemlichkeit und die Sehnsucht nach Verantwortungsverlagerung auf die Schultern des paternalistischen Staates ein wesentlicher Grund für diese passive Konformität. Sie erleichtert den Erfolg der Staatspropaganda und ermöglicht eine präzise und de facto widerstandslose, schleichende Gleichschaltung der Bevölkerung.

Insofern ist willige Passivität kaum weniger problematisch als erklärter Aktivismus und aggressive Konformität. Laut Andrej Kolesnikow vom Carnegie Moscow Center folgt die russische Bevölkerung Wladimir Putin „wie ein Blinder einem blinden Blindenführer“. Wie auch in der biblischen Erzählung sei dieses Unterfangen zum Scheitern verurteilt und die „Umrisse der Grube, in die beide fallen werden“, zeichneten sich bereits klar am Horizont ab. Für das Schweigen und die weitreichende Gleichgültigkeit wird sich die russische Bevölkerung der schweren Bürde ihrer Kollektivverantwortung stellen müssen.