Debatte

Offene-Briefe-Wahn: Deutschlands Rolle im Ukraine-Krieg wird maßlos überschätzt

Offene Briefe an Olaf Scholz kann man schreiben. Aber man muss einsehen, dass der Kanzler im Ukraine-Krieg wenig ausrichten kann. Ein offener offener Brief.

Bundeskanzler Olaf Scholz
Bundeskanzler Olaf ScholzBernd von Jutrczenka/dpa

Eine der positiven Konsequenzen der Flüchtlingskrise von 2015 bestand in einer intellektuellen Öffnung der deutschen Öffentlichkeit für außereuropäische Entwicklungen. Es war ein wenig, als hätten jene 800.000 Flüchtlinge und Immigranten, die damals innerhalb weniger Monate nach Deutschland kamen, das Land etwas weniger provinziell gemacht.

Plötzlich wurde in den Talkshows über Syrien, die Türkei, über libanesische Flüchtlingslager und den Bürgerkrieg in Libyen diskutiert, Außenminister Maas schwang sich auf, in Libyen in einem Konflikt zu vermitteln, von dem bis dahin kaum ein Zeitungsleser gehört hatte, Angela Merkel bereiste Länder, die bis dahin kaum jemand auf der Landkarte hatte finden können.

Deutsche „Mythen“ und lieb gewonnene Überzeugungen

Dann kam die Pandemie und alles drehte sich wieder nur um Deutschland. Und nach der Pandemie kam der Krieg – und jetzt dreht sich alles noch mehr um Deutschland als je zuvor. Intellektuelle, Promis, Osteuropaexperten, Sicherheitsexperten und empörte oder einfach nur verunsicherte Bürger schreiben und unterzeichnen Aufrufe, und die Frage, ob die Bundesregierung „schwere Waffen“ an die Ukraine liefern soll, polarisiert die Innenpolitik.

Und sie lässt tief blicken in die Seelen dieser Intellektuellen, Experten und Bürger, die da Stellung beziehen und nach und nach alle Mythen der jüngeren deutschen Geschichte zum Leben erwecken, die in den letzten Jahrzehnten das öffentliche Leben in der Bundesrepublik geprägt haben. „Mythen“ heißt in diesem Zusammenhang: Lieb gewonnene Überzeugungen, die ihre Verteidiger in der Regel als selbstverständlich ansehen und die zu begründen sie für überflüssig halten, weil sie davon ausgehen, dass sie in einem universellen Sinne einfach „wahr“ sind und von allen vernünftigen Menschen geteilt werden.

Östlich der Oder gibt es viel Unverständnis für Deutschland

Nur, dass das genau außerhalb Deutschlands überhaupt nicht der Fall ist. Solche Mythen gibt es auf allen Seiten dieses Streits, ganz gleich, ob jemand in der aktuellen Debatte für oder gegen die Lieferung schwerer Waffen eintritt. Das macht diese Mythen so interessant, denn sie sagen sehr viel über Deutschland aus: dass der derzeitige Konflikt um die Lieferung „schwerer Waffen“ zu großen Teilen ein Generationenkonflikt ist (ganz ähnlich dem um die Klimakrise) und dass er seine Wurzeln – anders als fast alle Antagonisten behaupten – nicht in den Erfahrungen vom Dritten Reich und Zweiten Weltkrieg hat, sondern in den 1980er-Jahren.

Wie provinziell und widerlegbar diese Mythen sind, bemerkt man erst, wenn man sie von außen betrachtet. Dann erkennt man, wie unter einem Brennglas, woher nicht nur der Konflikt zwischen der SPD-Führung einerseits und der ukrainischen Regierung andererseits kommt, sondern auch, warum es seit Wochen östlich der Oder so viel Verständnislosigkeit und Kopfschütteln über Deutschland gibt.

Kein Verständnis für Deutschland und das Zaudern, was deutsche Waffenlieferungen betrifft: Polens Präsident Andrzej Duda (rechts) trifft die Vorsitzende des amerikanischen Repräsentantenhauses Nancy Pelosi (links).
Kein Verständnis für Deutschland und das Zaudern, was deutsche Waffenlieferungen betrifft: Polens Präsident Andrzej Duda (rechts) trifft die Vorsitzende des amerikanischen Repräsentantenhauses Nancy Pelosi (links).imago

Herr Bundeskanzler, Sie haben Deutschland geschrumpft

Ganz gleich, ob es sich um die Unterschriftenaktion der Zeitschrift Emma, den Promi-Aufruf „Deeskalieren jetzt“ (gegen schwere Waffen) oder die Aufrufe von Sicherheits- und Osteuropaexperten (für schwere Waffen) handelt – alle sind an die Bundesregierung oder sogar an Olaf Scholz persönlich gerichtet und gehen davon aus, dass die Bundesregierung einen entscheidenden oder wenigstens bedeutenden Einfluss auf den Gang der Ereignisse hat.

„Wir bitten Sie […] dringlich, alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können“, heißt es in dem Emma-Appell. Und in „Deeskalation jetzt“ steht sogar: „Wenn Verantwortung tragende Menschen wie Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, diese Entwicklung nicht stoppen, steht am Ende wieder der ganz große Krieg.“

Einen „entscheidenden oder wenigstens bedeutenden Einfluss“ hat die Bundesregierung spätestens seit dem 24. Februar nicht mehr und zwar völlig unabhängig von Scholz’ Zögern in Bezug auf Waffenlieferungen. Acht Jahre lang hatten die deutsche und die französische Regierung die Möglichkeit, im Rahmen des Normandie-Formats mit Russland und der Ukraine eine dauerhafte Friedenslösung auszuhandeln. Unter Präsident Obama und noch stärker unter Präsident Trump überließen die USA das ausdrücklich „den Europäern“ und das Ergebnis war eine Art Waffenstillstand, der für beide Kriegsparteien unzulänglich war.

Lange Zeit ein Quell der Hoffnung: das Normandie-Format. Auf dem Bild: Wolodymyr Selenskyj (links) und Emmanuel Macron.
Lange Zeit ein Quell der Hoffnung: das Normandie-Format. Auf dem Bild: Wolodymyr Selenskyj (links) und Emmanuel Macron.imago

Hätte sich die Ukraine ergeben, wäre die ukrainische Regierung nun im Exil

Mit einem haben die Unterzeichner des Emma- und des Promi-Aufrufs sicher recht: Hätte sich die ukrainische Regierung in den Tagen nach dem 24. Februar ergeben, wäre die ukrainische Front zusammengebrochen, wäre dieser Krieg zu Ende gewesen, bevor er richtig begonnen hätte und die Gefahr einer atomaren Eskalation wäre vermutlich erst einmal vom Tisch gewesen.

Wir könnten dann heute beobachten, was genau Putin und Lawrow im Sinne hatten, als sie von einer Entmilitarisierung und Denazifizierung der Ukraine sprachen: massive Repressionen gegen Andersdenkende, die einem russischen Besatzungsregime Widerstand leisten könnten, eine um ein Mehrfaches größere Flüchtlingswelle und das Entstehen von riesigen Flüchtlingslagern außerhalb der ukrainischen Grenzen, in denen sich der wehrfähige Teil der ukrainischen Bevölkerung darauf vorbereitet, die neue pro-russische Ordnung in Kiew zu destabilisieren und die Russen wieder aus Kiew zu vertreiben.

Mit anderen Worten: Die „Kontaktlinie“ genannte Waffenstillstandslinie zwischen den selbsternannten Donbass-Republiken und dem von Kiew kontrollierten Gebiet wäre dann an der polnisch-ukrainischen Grenze und die Regierung in Kiew wäre, wenn sie überlebt hätte, eine Exilregierung mit Sitz in Litauen oder Polen.

Der Bundesregierung werden magische Kräfte zugeschrieben

So ist es nicht gekommen. Nun haben die USA die Führung übernommen und jetzt sind sie es, die bestimmen, wie es weitergeht. Der Krieg wird nun zu einem langen Stellvertreterkrieg, mit dessen Hilfe die USA ihren russischen Rivalen in Europa so in die Knie zwingen wollen, wie sie das in den 1980er-Jahren mit der UdSSR geschafft haben: durch einen Rüstungswettlauf und die massive Unterstützung der Ukraine, so lange, bis Russland, wie US-Außenminister Antony Blinken und Verteidigungsminister Lloyd Austin in Ramstein sagten, nicht mehr in der Lage sein wird, seine Nachbarn anzugreifen.

Am Ende wird sich vielleicht die Russische Föderation so in ihre Bestandteile auflösen, wie die UdSSR das getan hat. Oder sie wird wenigstens ihre imperialen Ambitionen gegenüber der Ukraine aufgeben. Gewinnen kann sie diesen Wettlauf genauso wenig wie die UdSSR das konnte. Aber das ist nicht Deutschlands Problem, denn keine deutsche Regierung hat darauf einen nennenswerten Einfluss. Was sind die eine Milliarde Euro Militärhilfe und die Marder-Panzerhaubitzen, die die Bundesregierung vielleicht liefern wird – verglichen mit Bidens 33 Milliarden US-Dollar, dem Lend-and-Lease-Act, der geheimdienstlichen Unterstützung der USA für die Ukraine und den Waffen, die die Türkei, Großbritannien und die USA bereits geliefert haben?

Selbst jene sicherheitspolitischen Experten, die Scholz in der Zeitschrift Focus zu noch mehr Unterstützung der Ukraine aufgerufen haben, betrachten Deutschland als eine Art neue Supermacht. Da heißt es: „Im Rahmen der Uno sollte sich die Bundesregierung darüber hinaus für eine UN-Sicherheitszone in der westlichen Ukraine einsetzen, die frei von Kampfhandlungen gehalten wird. In der UN-Vollversammlung sollte eine Resolution zur Schaffung einer solchen Sicherheitszone eingebracht werden. Die Modalitäten der Sicherheitszone sind mit der ukrainischen Regierung abzustimmen. Die Sicherheitszone muss notfalls robust durchgesetzt werden. Für Eskalationen trägt dann Russland die volle Verantwortung. Die Sicherheitszone kann durch Präsenz von UN-mandatierten Einheiten gewährleistet werden.“ Dazu müsste die Bundesregierung erst einmal Russland seines Vetos im Sicherheitsrat berauben. Das ist nicht der einzige Aufruf, in dem der Bundesregierung geradezu magische Kräfte zugeschrieben werden.

Ein Fakt: Russland hat einen Sitz im UN-Sicherheitsrat und verfügt über ein Vetorecht.
Ein Fakt: Russland hat einen Sitz im UN-Sicherheitsrat und verfügt über ein Vetorecht.John Minchillo/AP/dpa

Wer jetzt noch Appelle verfassen will, sollte sie an Biden und Putin schicken

Bundeskanzler Scholz jedenfalls entscheidet nicht darüber, wie dieser Krieg geführt wird, er entscheidet höchstens darüber, wie sich Deutschland dazu positioniert: als pseudo-neutraler Staat, eine Art Schweiz innerhalb der Nato, als trojanisches Pferd Putins, wie Ungarn das versucht, oder als Vollmitglied der Nato, das ein Interesse daran hat, dass keine russischen Truppen an der Oder stehen.

Acht Jahre lange hatten alle, die jetzt Briefe an den Bundeskanzler schreiben, Zeit, Angela Merkel zu einem Politikwechsel zu drängen. Jetzt ist die Zeit abgelaufen; wer jetzt noch Appelle verfassen will, sollte sie an Biden und Putin schicken.

Acht Jahre lange hatten alle, die jetzt Briefe an den Bundeskanzler schreiben, Zeit, Angela Merkel zu einem Politikwechsel zu drängen. Jetzt ist die Zeit abgelaufen. Auf dem Bild: Angela Merkel trifft Wladimir Putin.
Acht Jahre lange hatten alle, die jetzt Briefe an den Bundeskanzler schreiben, Zeit, Angela Merkel zu einem Politikwechsel zu drängen. Jetzt ist die Zeit abgelaufen. Auf dem Bild: Angela Merkel trifft Wladimir Putin.AFP

Von der Waffenlieferung zum Weltuntergang

Eines der wichtigsten Motive der Friedensbewegung in den 1980er-Jahren war die damals berechtigte Überzeugung, ein konventioneller Krieg zwischen Nato und Warschauer Pakt müsse unweigerlich in einen Atomkrieg münden und dieser wiederum bedeute das Ende der menschlichen Zivilisation. Damals war der Warschauer Pakt konventionell überlegen und die Nato behielt sich das Recht vor, bei einem konventionellen Krieg als erste Atomwaffen einzusetzen.

Atomwaffen waren damals Sprengköpfe auf strategischen Lang- und Mittelstreckenraketen und sie überstiegen die Sprengkraft von Hiroshima und Nagasaki um ein Vielfaches. Der etwas simple Slogan „Lieber rot als tot“ brachte den moralischen Grundsatz auf einen einfachen Nenner, demzufolge selbst die schlimmste sowjetische Herrschaft der Zerstörung der Erde vorzuziehen sei. Man kann die Berechtigung eines solchen Gegensatzes anzweifeln, sich aber nur schwer seinem moralischen Rigorismus entziehen.

Selbst der wohl bizarrste Diktator der Welt hat Atomwaffen nicht eingesetzt

Heute ist das irrelevant. Inzwischen verfügen alle Atommächte über die Möglichkeit, auch eine atomare Eskalation abgestuft ablaufen zu lassen, von Zwischenstufen wie dem Einsatz von Giftgas und biologischen Waffen ganz zu schweigen.

Dass begrenzte Atomschläge möglich geworden sind, muss niemanden freuen: Einerseits senkt das die Hemmschwelle für ihren Einsatz, andererseits schafft es Spielraum für begrenzte Gegenschläge und Verhandlungen, für die in den Weltuntergangsszenarien der 80er-Jahre kein Platz war.

Mit anderen Worten: Auch ein atomarer Schlagabtausch muss nicht das Ende der Welt bedeuten. Mehr noch: Inzwischen gab es zahlreiche Fälle, in denen einer atomaren Weltmacht nur der Rückzug oder eine atomare Eskalation blieb – ohne dass sie zum Äußersten gegriffen hätte. Der letzte derartige Fall war der Afghanistan-Krieg, den erst die UdSSR verlor, ohne deshalb Atomwaffen einzusetzen, und den dann der Westen verlor, ohne dass ein Atomschlag gegen die Taliban auch nur erwogen worden wäre.

Zuvor setzte der syrische Präsident Assad entgegen klarer Warnungen der USA Giftgas gegen die Zivilbevölkerung ein, ohne dass es eine Eskalation der USA gegeben hätte. Selbst der wohl am wenigsten berechenbare und bizarrste Diktator dieser Welt, der Nordkoreaner Kim Jong-un, hat seine Atomwaffen bisher nicht eingesetzt.

Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu trifft den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad am 15. Februar 2022.
Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu trifft den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad am 15. Februar 2022.AP/Russian Defense Ministry Press Service

Im Zweifelsfall kann man ja wieder einen Schritt rückwärts machen

Staaten und ihre Regierungen können eskalieren, sie müssen es aber nicht. Im Lichte des Appells „Deeskalation jetzt“ ist es aber vor allem die deutsche Regierung, die deeskalieren kann, obwohl sie eine kaum funktionsfähige Armee und keinerlei Massenvernichtungswaffen hat: „Wenn Verantwortung tragende Menschen wie Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, diese Entwicklung nicht stoppen, steht am Ende wieder der ganz große Krieg. Nur diesmal mit Atomwaffen, weitreichender Verwüstung und dem Ende der menschlichen Zivilisation.“

Dieses Zitat aus „Deeskalation jetzt“ zeigt nicht nur, wie tief seine Autoren im Denken der 80er-Jahre verwurzelt sind, sondern macht auch deutlich, warum deutsche Politik dieser Tage so viel Kopfschütteln im Osten von EU und Nato auslöst. Jede deutsche Debatte über Sanktionen gegen Russland mündet früher oder später in die Angst vor einem russischen Atomschlag, weil militärische Konflikte mit Russland in Deutschland immer vom Ende her gedacht werden, so als wäre ein GAU die natürliche und unentrinnbare Folge der Inbetriebnahme eines Atomkraftwerks.

So gesehen ergibt es dann auch Sinn für Putin, mit einem Atomschlag wegen „aggressiver Erklärungen über Russland“ zu drohen. In Ostmitteleuropa, wo in den Zeiten der westeuropäischen Friedensbewegung Zensur und kommunistische Diktaturen herrschten, denkt man meist pragmatischer – bis zum nächsten Eskalationsschritt und unter Ausklammerung des schlimmstmöglichen Ausgangs.

Niemand würde dort auf die Idee kommen, an einen Atomkrieg und das Ende der Welt zu denken, wenn es um das nächste Sanktionspaket oder die nächste Waffenlieferung geht. Im Zweifelsfall kann man ja wieder einen Schritt rückwärts machen. Diese Denkweise teilen viele Menschen in Ostmitteleuropa mit deutschen Politikern der jüngeren Generation wie Robert Habeck, Annalena Baerbock und Michael Roth, während die ältere Garde der SPD und ehemals friedensbewegte Aktivisten im Rentenalter die Kämpfe der 80er-Jahre weiterführen.

Mehr als 300.000 Menschen zählte die bis dahin größte Friedensdemonstration in Deutschland im Bonner Hofgarten im Oktober 1981.
Mehr als 300.000 Menschen zählte die bis dahin größte Friedensdemonstration in Deutschland im Bonner Hofgarten im Oktober 1981.imago

Die rote Linie ist ein roter Nebelstreifen

Alle Appelle, egal welche Zielrichtung sie haben, durchzieht noch ein weiteres Motiv: Die Annahme, es gebe eine rote Linie, ab der Russland, der russische Präsident beziehungsweise der Kreml atomar eskalieren werden, und die man deshalb auf keinen Fall überschreiten darf. Auch das ist ein Topos der 80er-Jahre, als Washington und Moskau diese Linie untereinander aushandelten. Bei Unklarheiten über die Ziele und Absichten der Gegenseite konnte man immer zum roten Telefon greifen.

Heute gibt es nicht nur mehr Atommächte als damals, sondern auch insgesamt fünf Länder, die über eine atomare Zweitschlagkapazität verfügen (das heißt, auch dann noch fähig sind, ihre Gegner zu vernichten, wenn sie selbst von einem Atomschlag getroffen wurden). Damit ist die Vorstellung von einer roten Linie hinfällig geworden: Für jeden Konflikt zwischen diesen Mächten müsste es sonst eine andere rote Linie geben, je nach Konstellation.

Früher konnten die Amerikaner noch zum roten Telefon greifen und die UdSSR kontaktieren. Diese Zeiten sind vorbei.
Früher konnten die Amerikaner noch zum roten Telefon greifen und die UdSSR kontaktieren. Diese Zeiten sind vorbei.imago

Russland wird nur bei einer Verletzung seines Territoriums atomar antworten

Manche Diskutanten in Deutschland behelfen sich damit, dass sie nun gewissermaßen stellvertretend für Putin eine rote Linie definieren, ab der der Kreml „ganz bestimmt atomar zuschlagen wird“. Das ist aber gar nicht notwendig, denn Präsident Putin hat ihnen das bereits abgenommen. Kurz nach der Invasion im Februar begründete er die Aktivierung der zweiten Stufe der Einsatzbereitschaft der strategischen Atomstreitmacht damit, dass Russland von Nato-Regierungen „aggressiv kritisiert“ worden war.

Würde man das ernst nehmen, müsste man nun bei jeder neuen Kritik Russlands mit einem Atomschlag rechnen und Kritik an Russland verbieten. Das ist natürlich ebenso absurd wie unausführbar. Ex-Präsident Dmitri Medwedew, Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrats, hat das dann nachträglich präzisiert und klargestellt, dass Russland nur bei einer Verletzung seines Territoriums atomar antworten wird.

Eher kann die Ukraine einen Atomkrieg provozieren als Olaf Scholz

Doch was heißt das? Medwedew hat nur eine beratende Funktion, völkerrechtlich kann er keine für Russland bindenden Erklärungen abgeben, das können nur Putin und Lawrow, die bei jeder Gelegenheit verklausulierte Drohungen aussprechen, die in Deutschland immer als Drohungen mit einem Atomschlag verstanden werden.

Damit nicht genug: Russland hat die Krim annektiert und kann jederzeit die Donbass-Republiken annektieren, die das bereits vor acht Jahren beantragt haben. Beide Gebiete gehören völkerrechtlich zur Ukraine und niemand kann der Ukraine verbieten, sie bei einer günstigen Wendung der Kampfhandlungen zurückzuerobern. Dann müsste die russische Regierung nach ihrer eigenen Doktrin Atomwaffen gegen die Ukraine einsetzen.

Akzeptiert man also Medwedews rote Linie, dann ist für den Ausbruch eines Atomkriegs die Entscheidung, ob Deutschland schwere Waffen liefert, vollkommen irrelevant. Die einzige Macht, die über einen Atomschlag entscheidet, ist Russland und die Ukraine kann das, mit oder ohne deutsche Panzer, viel einfacher provozieren als Olaf Scholz.

Der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew
Der ehemalige russische Präsident Dmitri MedwedewPeer Grimm/dpa-Zentralbild/dpa

Die EU kann man einfacher einschüchtern, wenn man sie im Unklaren hält

Glaubt man Scholz’ Spiegel-Interview, so ist die rote Linie gleichbedeutend mit der Lieferung schwerer Waffen durch Deutschland. Dabei bleibt es wohl das Geheimnis des Bundeskanzlers, warum er die direkte Lieferung deutscher Panzer an die Ukraine für einen atomaren „casus belli“, die indirekte Lieferung per Ringtausch dagegen für unbedenklich hält, obwohl die militärischen Folgen für Russland ja die gleichen sind.

Auch das Völkerrecht bietet da keine Klarheit: Russland hat ihm demonstrativ den Rücken gekehrt, indem es mit seinem Angriffskrieg gegen die UN-Charta verstoßen und sich an der anschließenden Verhandlung vor dem Internationalen Gerichtshof gar nicht erst beteiligt hat. Man kann also getrost davon ausgehen, dass die russische Führung ihre eigene rote Linie hat, die völlig unabhängig davon ist, was völkerrechtlich als deutsche Kriegsbeteiligung anzusehen ist.

Es ist in ihrem besten Interesse, sie nicht öffentlich zu machen, sonst befindet sie sich bald in der gleichen Lage wie Barack Obama, nachdem das syrische Regime seine Warnung vor dem Einsatz von Giftgas in den Wind geschlagen hat. So gesehen ergibt es für Putin und Lawrow gar keinen Sinn, eine rote Linie festzulegen. Die europäische Öffentlichkeit kann man viel einfacher einschüchtern, wenn man sie im Unklaren hält.

Mit anderen Worten: Es gibt gar keine erkennbare rote Linie, vielmehr haben wir mit einem diffusen roten Nebelstreifen zu tun, dessen Ränder nicht sichtbar sind und die da verlaufen, wo wir glauben, dass der Kreml sie gezogen hat. Auf Grundlage einer solchen Prämisse kann niemand politische und militärische Entscheidungen fällen, man kann sich nur vorantasten. Nur eines ist sicher: Jede Seite, die dabei zu weit geht, wird es sofort erfahren. Die Welt wird davon aber kaum untergehen.

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Klaus Bachmann ist Professor für Sozialwissenschaften an der SWPS Universität Warschau.