Essay

Warum wir mehr russischsprachige Angebote und nicht weniger brauchen

In Krisenzeiten wird man intolerant: Russischsprechende werden in Deutschland diskriminiert. Dabei denken, fühlen, sprechen auch viele Ukrainer Russisch.

Russische Sprachkenntnisse werden jetzt in Deutschland gebraucht. Mehr denn je.
Russische Sprachkenntnisse werden jetzt in Deutschland gebraucht. Mehr denn je.Berliner Verlag

Es war lange vor der Annexion der Krim und der Besetzung von Lugansk und Donjezk durch russische Separatisten. Wir saßen in einer engen Wohnung in einem dieser riesigen, anonymen postsowjetischen Wohnblocks, tranken Wodka und aßen dazu Brot, Speck und eingelegtes Gemüse. Im Fernsehen lief eine Kabarettsendung, deren Darsteller sich in irrsinnig schnell gesprochenem Russisch über Politiker aus der Westukraine lustig machten, indem sie deren Ukrainisch nachäfften und ihnen Worte in den Mund legten, die in unserer Blockwohnung Lachsalven auslösten. Ich verstand kein Wort, die Dialoge waren viel zu schnell.

In den Lachpausen erklärten mir meine Gastgeber, sie hielten diese Westukrainer alle für Separatisten, die sich von der Ukraine abspalten wollten. Die Ukraine, das war für sie hier, in Donjezk. Hier war das Herz der Ukraine, das, was für meine Freunde in Lviv zutiefst sowjetisches Land war. Nur dass Donjezk russisch sei oder werden sollte, davon war weder in Lviv noch in dieser Donjezker Blockwohnung die Rede.

Russland hatte damals bereits begonnen, russische Pässe zu verteilen, aber angenommen wurden die damals nur von Rentnern. Denen drohte beim Grenzübertritt kein Einzug in die Armee. „Wir sind doch nicht blöd“, erklärten meine Gastgeber, von denen keiner Rentner war. „Russland führt Krieg in Tschetschenien. In Russland gibt es Putsche, die Armee schießt auf das Parlament. Jeder weiß, sowas gibt es in der Ukraine nicht. Die Ukraine hat keine Feinde, gegen die sie Krieg führt.“

In Krisenzeiten werden Menschen intolerant

Ich frage mich oft, was aus meinen Bekannten geworden ist. Nur eines weiß ich: Wenn sie nicht zu den wenigen Flüchtlingen gehören, die nach 2014 nach Russland ausgereist sind, dann haben sie einen ukrainischen Pass, leben irgendwo in der Ukraine als Binnenflüchtlinge und sprechen Russisch. Ihre Kinder gehen in eine Schule, in der sie Ukrainisch lernen, aber zu Hause werden sie Russisch sprechen. Und bis zum Krieg haben sie wohl russischsprachige Fernsehsendungen eingeschaltet, sie haben russischsprachige Bücher und Zeitungen gelesen und wahrscheinlich auch ihre Handy-Funktionen auf Russisch gestellt. Und niemand findet etwas dabei.

Nur wenn sie nach Deutschland fliehen, dann müssen sie aufpassen. Dann kann es passieren, dass sie von Deutschen, die selbst kein Russisch sprechen, an den Pranger gestellt werden. Das nämlich scheint derzeit überall in Deutschland zu geschehen: Russische Kulturorganisationen werden boykottiert, russische Künstler ausgeladen, russische Restaurants haben Umsatzeinbußen. Das ist wohl unvermeidlich, in Krisenzeiten werden Menschen intolerant, die Reihen werden fest geschlossen; Dissens ist verboten, wenn nicht juristisch, dann als soziale Norm. Das war in der Pandemie so, und jetzt kommt noch ein Krieg dazu.

Nichts spricht dagegen, russische Propagandasender abzuschalten

In den Medien wird nun darüber diskutiert, wie weit dieser Boykott gehen soll, was davon politisch gerechtfertigt oder „politisch korrekt“ ist. Soll man Künstler boykottieren, die „nur“ gegen den Krieg, aber nicht gegen Putin sind? Soll man Veranstaltungen absagen, deren Organisatoren gar keine Stellung zum Krieg Russlands gegen die Ukraine beziehen? Und schüttet man hier nicht das Kind mit dem Bade aus? Der wichtigste Aspekt bleibt dabei unberücksichtigt. In dem Bad, das da vielleicht ausgeschüttet wird, sitzen zwei Kinder. Und keines davon ist russisch.

Da sind zum einen die aus Russland nach Deutschland Eingewanderten. Manche kamen als russische Flüchtlinge, andere als Wolgadeutsche und deutsche Auswanderer aus Kasachstan und anderen Ländern, die heute von Russland unabhängig sind (und deren Regierungen den russischen Einmarsch in die Ukraine nicht unterstützen). Sie sind inzwischen deutsche Staatsbürger, aber für viele aus der älteren Generation ist Russisch immer noch Alltagssprache. Das gilt übrigens auch für Belarussen, von denen nur eine Minderheit belarussisch spricht. Nichts ist dagegen einzuwenden, russische Propagandasender abzuschalten. Aber es wäre gut, wenn es eine Alternative zu ihnen gäbe. Nicht unbedingt eine russische, aber eine russischsprachige.

Viele Ukrainer, die jetzt kämpfen, sprechen Russisch

Das andere Kind, das mit dem Bade ausgeschüttet wird, wenn russische Kneipen und Kioske boykottiert und russische Ausstellungen abgesagt werden, ist ukrainisch. Vor 2014 gaben 29 Prozent der Ukrainer Russisch als ihre Muttersprache an, 20 Prozent nannten Ukrainisch und Russisch zusammen als ihre Muttersprache. Durch die Annexion der Krim und die Besetzung und Säuberungen in den Donbass-Republiken durch Russland hat das relative Gewicht des Ukrainischen in der gesamten Ukraine zugenommen, denn Umfragen umfassten in der Regel nur die Bevölkerung in den von der Kiewer Regierung kontrollierten Gebieten.

Das hat aber nichts daran geändert, dass für viele Ukrainer Russisch auch nach 2014 die Sprache geblieben ist, in der sie ihren Alltag abwickeln. Das heißt nicht, dass sie sich dadurch als Russen fühlen, „heim nach Russland“ wollen oder Putin unterstützen. Viele derjenigen, die zur Zeit mit der Waffe in der Hand gegen die russische Invasion kämpfen, fluchen, schreien und erhalten ihre Befehle auf Russisch, und wenn sie zuhause anrufen, tun sie das auch auf Russisch.

Ukrainer gehören zu einer politischen, keiner ethnischen Nation

Einer von ihnen ist letzte Woche gefallen, ein junger Ukrainer aus dem äußersten Osten der Ukraine, der zur Armee eingezogen wurde. Alle in seiner Familie sprechen Russisch, ein Onkel hat sogar einen russischen Pass angenommen und ist in die russische Armee eingetreten. Seit 2014 ist er das schwarze Schaf in der Familie. Er hat sich nach Sibirien versetzen lassen, damit er in Putins Krieg nicht auf die eigene Familie schießen muss. Irgendwann werden es die anderen Familienmitglieder vielleicht schaffen, mit einem Konvoi heil aus dem Land zu kommen. Vielleicht treffen wir uns dann, in friedlicheren Zeiten, unter den Linden beim Kaffee. Wir werden dann wohl Russisch sprechen, weil es die einzige gemeinsame Sprache sein wird, die unsere beiden Familien gemeinsam haben. Wie werden wir uns dann fühlen, wenn uns der Kellner rauswirft, weil in seinem Café „Russen unerwünscht“ sind?

Einer der Erfolge russischer Propaganda in Deutschland seit 2014 ist die Geschwindigkeit, mit dem sich das Stereotyp einer „tief in einen pro-russischen Osten und einen ukrainischen Westen gespaltenen“ Ukraine in deutschen Zeitungskommentaren, Fernsehreportagen und Talkshows verfestigt hat. Natürlich gibt es regionale Unterschiede in der Ukraine, aber sie decken sich nicht mit sprachlichen Unterschieden.

Und die sprachlichen Unterschiede entscheiden nicht über geopolitische Orientierungen oder politische Einstellungen. Dass alle Separatisten Russisch sprechen (und deren Führung russische Pässe hat), heißt weder, dass alle russischsprachigen Ukrainer Separatisten sind, noch dass alle russischsprachigen Bürger der Ukraine sich als Russen ansehen. Anders als Russen, Polen und Deutsche gehören Ukrainer zu einer politischen, keiner ethnische Nation: Man kann als Ukrainer ethnischer Russe, Rumäne, Pole, Ungar, Tatar, Armenier, Jude und Georgier sein. Als die Ukraine unabhängig wurde, konnte jeder Bewohner ihr Bürger werden, weder Abstammung noch Sprache noch Religion spielten dabei eine Rolle.

Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr russische Inhalte

Egal wie dieser Krieg ausgeht, am Ende wird man in der Ukraine wohl nur noch Ukrainer oder Russe sein können, nicht beides. Ungefähr so, wie man als Bosnier nach 1995 kein Jugoslawe mehr sein konnte, sondern nur noch Muslim, Kroate oder Serbe. Aber es gibt keinen Grund, warum man mit einem Boykott russischer Kultur und Sprache in Deutschland diese von der russischen Politik vorangetriebene Polarisierung fördern sollte. Als der Krieg in Syrien ausbrach, kam niemand auf die Idee, syrische Restaurants zu boykottieren oder Arabisch zu verbannen, nur weil Baschar Al-Assad auch Syrer ist und Arabisch spricht. Es war klar, dass man damit in erster Linie seine Gegner und Opfer, die sich nach Deutschland durchgeschlagen hatten, treffen würde.

Deshalb spricht nichts dagegen, russische Staatspropaganda zu verbannen und Putins Lobbyisten (die meistens seit Generationen deutsche Pässe haben und von denen viele kein Wort Russisch sprechen) zu boykottieren. Wenn heute alles Russische mit Putins Russland in einen Topf geworfen wird, ist das auch ihre Schuld. Man kann trefflich darüber streiten, ob Putin ganz Russland, alle Bürger Russlands, deren schweigende Mehrheit oder eine abgehobene Machtelite vertritt. Aber darum geht es gar nicht. Russische Sprache und Kultur sind auch ein Bezugspunkt für Menschen, die außerhalb seines Machtbereichs leben und sich keineswegs als Russen fühlen. Viele leben in Deutschland, und ein Boykott von allem, was russisch ist, macht sie für uns unerreichbar.

Was wir in den nächsten Jahren deshalb mehr und nicht weniger brauchen werden, sind nicht nur ukrainische, sondern auch russischsprachige Medien, russische Kultur und mehr politisch neutrale Angebote für all diejenigen, denen Putins Krieg einen Teil ihrer Identität raubt. Dabei müssen wir ihm ja nicht noch helfen.

Klaus Bachmann ist Professor für Sozialwissenschaften an der SWPS Universität in Warschau, war zwischen 1993 und 2001 Korrespondent für deutschsprachige Medien in Polen, der Ukraine und Belarus.

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.