Am 1. Mai gab der Außenminister der Russischen Föderation, Sergej Lawrow, dem italienischen Fernsehsender Rete 4 als erstem europäischen Medium ein 45-minütiges Interview und sprach über die russischen Ziele in der Ukraine sowie die Erwartungshaltungen Moskaus gegenüber dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.
Das Interview enthält einige überraschende Passagen, vor allem aber einen handfesten Skandal: So macht der russische Außenminister Wladimir Putin alle Ehre und gibt sich wie der Präsident Russlands unerwartet als Hobbyhistoriker sowie Anhänger der antisemitischen Frankenberger-These, wonach Adolf Hitler jüdischer Abstammung gewesen sein soll, zu erkennen.
Auf die Frage, wie sich die russischen Pläne zur Entnazifizierung der Ukraine mit der jüdischen Herkunft des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vertragen, antwortet Lawrow, dass „einige der schlimmsten Antisemiten Juden“ gewesen seien; so beispielsweise auch Hitler.
„Juden sind einige der schlimmsten Antisemiten“
Angesichts dieser horrend antisemitischen Entgleisung Sergej Lawrows wurde der Botschafter der Russischen Föderation in Israel ins Außenamt zitiert. Der israelische Außenminister nannte die Aussagen „unverzeihlich und ungeheuerlich“. Juden hätten sich im Holocaust „nicht selbst umgebracht“.
Foreign Minister Lavrov’s remarks are both an unforgivable and outrageous statement as well as a terrible historical error. Jews did not murder themselves in the Holocaust. The lowest level of racism against Jews is to accuse Jews themselves of antisemitism.
— יאיר לפיד - Yair Lapid🟠 (@yairlapid) May 2, 2022
Keinesfalls sollte der Fehler gemacht werden, diese Aussage Lawrows als eine rein private, unüberlegte Äußerung eines gealterten russischen Diplomaten zu relativieren.
Vielmehr erlaubt sie einen ungewöhnlich scharfen und unverschleierten Einblick in die kafkaesk-krude, vor (antisemitischen) Verschwörungsmythen strotzende – kollektive – Erfahrungswelt des Kremls.
Doch auch abseits ungustiöser, offen antisemitischer und völlig ahistorischer Vergleiche wusste Sergej Lawrow durchaus Interessantes zu berichten und gewährte informative Einblicke in die russischen Zielsetzungen in der Ukraine.
Auf seine Aussagen vom 26. April angesprochen, wonach der gute Wille Russlands Grenzen habe und die Gefahr eines Dritten Weltkrieges keinesfalls unterschätzt werden dürfe, sieht sich der russische Chefdiplomat bewusst missverstanden. Russland habe nie aufgehört, sich um Vereinbarungen zu bemühen, die das Ausbrechen eines Atomkrieges verhindern würden, so Sergej Lawrow. Der Westen erkenne weder die russischen Friedensbemühungen noch die aggressive Rhetorik und unfriedlichen Bestrebungen der Ukraine sowie anderer westlicher Staaten.
Lawrow: Die Ukraine ist und bleibt der Schuldige
Die Schuld für den gegenwärtigen Konflikt sieht der russische Außenminister eindeutig bei der ukrainischen Führung, die mithilfe des Westens, allen voran der Vereinigten Staaten, durch einen „blutigen, verfassungsfeindlichen Putsch an die Macht“ gekommen sei, das „Aufkommen der Nazis“ gefördert, im Frühjahr 2014 einen „Krieg gegen ihr eigenes Volk“ sowie „gegen alles Russische“ begonnen habe und letztlich zu einer Bedrohung für Russland aufgestiegen sei.
Faktenwidrig behauptet Sergej Lawrow, dass alle Vorschläge Russlands zu Verhandlungsgesprächen über Sicherheitsgarantien und über das Ende der Nato-Osterweiterung aus dem Jahr 2021 abgelehnt worden seien.
Währenddessen habe die Ukraine entgegen der Minsker Abkommen die Militärpräsenz entlang der Kontaktlinie mit den sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk auf rund 100.000 Truppen aufgestockt und den Beschuss intensiviert.
Kriegsverbrechen in Butscha seien nur gestellt
In Anbetracht dieser Entwicklungen sei Moskau keine andere Wahl geblieben, als die sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk anzuerkennen, Verträge „über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“ abzuschließen und der Bitte um militärischen Beistand Folge zu leisten, um entschieden gegen die Kiewer Militaristen und Nazis vorzugehen.
Somit erfülle Moskau in der Ukraine nur seine Pflicht. Selbstredend sind nach Ansicht Lawrows die Kriegsverbrechen in Butscha gestellt. Denn Russland wünsche nichts als Frieden und gehe ausschließen gegen Militärobjekte vor. Die Ukraine samt ihren westlichen Unterstützern möchte aber den Frieden nicht, sondern versuche vielmehr, der Russischen Föderation eine militärische Niederlage zuzufügen.
Moskau hat keinerlei Interesse an Verhandlungen
Spätestens nach diesem Interview mit Sergej Lawrow sollte allen Befürwortern der Friedensverhandlungen mit Russland endgültig klar sein: Der Kreml möchte nicht verhandeln und wird Kiew nicht entgegenkommen. Vielmehr versucht das offizielle Russland bei jeder Gelegenheit, der ukrainischen Seite und nicht zuletzt Wolodymyr Selenskyj persönlich die Schuld am Stocken der Friedensverhandlungen zu geben. Lawrow spricht im Interview gar von bewusster Sabotage der Gespräche durch Kiew.
Dabei möchte Russland von den eigenen wesentlichen politischen Zielsetzungen nicht abweichen. Diese Zielsetzungen bestätigt auch Sergej Lawrow mehrfach im Interview: Entmilitarisierung – Entnazifizierung – (politische und militärische) Neutralität der Ukraine – Anerkennung der Krim als Teil Russlands und der Unabhängigkeit der sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk im Rahmen der gesamten ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk. Gleichzeitig behauptet der russische Chefdiplomat, dass Russland nicht den Wunsch nach einem gewaltsamen Machtwechsel an der Spitze des ukrainischen Staates hege; schließlich seien Operationen für Regimewechsel eine Spezialität der USA, so Sergej Lawrow.
Lawrow nennt Söldnertruppe eine „Privatinitiative“
Beinahe eine Überraschung enthält Lawrows Interview letztlich aber dennoch: Zwar leugnete der russische Außenminister die Aktivitäten des berüchtigten, weltweit im Interesse Russlands operierenden privaten Sicherheits- und Militärunternehmens Gruppe Wagner, dem eine große Nähe zum Rechtsextremismus nachgesagt wird, in der Ukraine sowie jedwede Verbindung zum offiziellen Russland.
Doch bestätigte er pikanterweise als erster offizieller Vertreter Russlands in einem Interview mit westlichen Medien ausdrücklich die Existenz dieser Gruppe und zeigte sich als überaus gut informiert über die Einsätze dieser „Privatinitiative“ in einer ganzen Reihe von afrikanischen Staaten, so unter anderem in Libyen und Mali.
Kein Ende des Krieges bis zum 9. Mai
Der russische Außenminister gibt sehr klar zu verstehen, dass ein baldiges Ende der sogenannten Spezialmilitäroperation nicht zu erwarten ist. Vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj verlange Russland nur eines – den Befehl zur Einstellung jedweden Widerstandes zu erteilen, so Lawrow.
Der Frage, ob die Kampfhandlungen nach dem 9. Mai (Tag des Sieges über den Faschismus) ausgeweitet werden, weicht Lawrow aus. Die russischen Streitkräfte verfolgten jedenfalls nicht das Ziel, die sogenannte Spezialmilitäroperation bis zum 9. Mai zu beenden, so der russische Außenminister.




