Ukraine-Krieg

Kreml: Der Westen hat den Ukraine-Krieg zu verantworten

Kreml-nahe Politiker äußern sich nun häufiger in Interviews. Sie geben dem Westen die Schuld am Ukraine-Krieg. Gibt es dennoch Hoffnung auf Frieden?

Von ihm hängt alles ab: Russlands Präsident Wladimir Putin.
Von ihm hängt alles ab: Russlands Präsident Wladimir Putin.Pool Sputnik Kremlin

Die Eskalationsspirale des Ukraine-Krieges scheint sich zunehmend schneller zu drehen. Die Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland gehen zwar weiter, von einem politischen Durchbruch scheinen sie jedoch so weit entfernt zu sein – so weit entfernt wie zu kaum einem anderen Zeitpunkt seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Mittlerweile spricht Moskau offen davon, in der Ukraine in einen Stellvertreterkrieg mit dem gesamten Westen verwickelt zu sein. Die Rhetorik der russischen Führungsriege wird von Tag zu Tag ungehaltener und aggressiver.

Russland gegen das „westliche Reich der Lügen“

Nikolaj Patruschew, einflussreicher Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, gab am 26. April gegenüber Rossijskaja gazeta ein ungewohnt langes Interview und gewährte damit einen Blick in die kafkaesken Abgründe der – vom rational-objektiven Standpunkt – unergründlichen geopolitischen Erfahrungswelten des Kreml.

Nach Ansicht Patruschews seien – ausnahmslos – „alle tragischen Weltkrisen“ seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall der Sowjetunion auf die Bestrebungen der USA zurückzuführen, die Welthegemonie Washingtons beizubehalten, den „Zusammenbruch der unipolaren Weltordnung“ sowie das Aufkommen einer multipolaren Welt um jeden Preis zu verhindern.

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Dr. Alexander Dubowy ist Politik- und Risikoanalyst sowie Forscher zu internationalen Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und den GUS-Raum. Er ist Mitarbeiter der Berliner Zeitung am Wochenende.

So sollen die USA versucht haben, auch Russland dazu zu zwingen, „Souveränität, Identität, Kultur sowie eine unabhängige Außen- und Innenpolitik aufzugeben“. Der Westen unter der Führung der USA habe ein „Reich der Lügen“ errichtet, um „Russland und andere unerwünschte Staaten zu liquidieren“. Dies könne Moskau keinesfalls akzeptieren und werde dagegen mit allen Mitteln kämpfen, so Patruschew.

Moskau prognostiziert „Zerfall der Ukraine in mehrere Staaten“

In seinem Versuch, diese Zielsetzungen zu erreichen, haben die Vereinigten Staaten – mit Blick auf die historische, kulturelle und ethnische Nähe zwischen der russischen und der ukrainischen Bevölkerung – „zynischerweise“ Kiew dazu auserkoren, „mithilfe eines Marionettenregimes“ als eine Plattform für den Aufbau eines Antipoden Moskaus, eines „Anti-Russlands“, zu dienen.

Lange vor dem „Staatsstreich im Jahr 2014“ haben die USA die Ukraine mit der Idee der „Exklusivität ukrainischer Nation“ und dem „Hass auf alles Russische“ indoktriniert. Dieser Plan gelang den USA aber nur teilweise, denn der Hass könne niemals als ein zuverlässiger Faktor der nationalen Einheit dienen, so Patruschew.

Die Menschen in der Ukraine eint als Nation heute lediglich die „Angst vor den Gräueltaten der nationalistischen Bataillone“. Daher könne das Ergebnis der amerikanischen und europäischen Politik sowie des durch Washington kontrollierten Kiewer Regimes nur der „Zerfall der Ukraine in mehrere Staaten“ sein.

Am darauf folgenden Tag bestätigte der Leiter des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR Sergej Naryschkin die Ankündigungen Patruschews, indem Naryschkin behauptete, die amerikanischen Geheimdienste würden Polen dabei unterstützen, die westlichen Regionen der Ukraine als „historische Besitztümer“ unter die Kontrolle Warschaus zu bringen.

„Britannia, rule the waves!“

Am 27. April bezeichnete die britische Außenministerin Liz Truss den militärischen Sieg der Ukraine als „strategischen Imperativ“ des Westens. Truss forderte die Staaten der westlichen Gemeinschaft dazu auf (und zwar mit den Worten „Wir werden schneller handeln und weiter gehen, um Russland aus der gesamten Ukraine zu verdrängen“), vor allem die Lieferung schwerer Waffen auszubauen und der Ukraine jedwede Unterstützung zukommen zu lassen, um die russischen Streitkräfte vollständig aus der Ukraine – darunter auch von der im Jahr 2014 annektierten ukrainischen Halbinsel Krim – zu vertreiben.

Mit der an die Nato gerichteten Aufforderung, in naher Zukunft auch den indopazifischen Raum stärker in den Fokus zu nehmen und gemeinsam mit den regionalen Verbündeten Australien und Japan Taiwan dabei zu helfen, sich gegen etwaige Aggressionen Pekings wirksam wehren zu können, schloss Truss ihre Rede ab.

Auch wenn diese Ankündigungen für internationale Aufregung sorgten, sollten sie dennoch nicht überschätzt werden. Die Aufforderungen von Liz Truss dienen neben den persönlichen Karrierezielen der britischen Außenministerin nur zu offensichtlich der außenpolitischen Profilstärkung der Regierung von Boris Johnson.

Weiter soll damit das inhaltsschwache Konzept von „Global Britain“ an Tiefe gewinnen und der Führungsanspruch der Briten innerhalb der Nato angemeldet werden. Ob Liz Truss’ Vorstoß auch nur eine dieser ambitionierten Zielsetzungen zu erreichen vermag, darf freilich ernsthaft angezweifelt werden.

Derart weitreichende Pläne dürften weder von den USA noch der Nato oder der EU mitgetragen werden. Selbst die Unterstützung innerhalb der politischen Elitenkreise Großbritanniens oder auch nur innerhalb der Johnson-Regierung darf ernsthaft angezweifelt werden.

Die russische Staatspropaganda hat die Aussagen von Liz Truss dagegen dankbar aufgegriffen und als Beleg für die aggressiven Kriegsplanungen des Westens missbraucht. Zum Vorwurf sollte dies der britischen Außenministerin aber keinesfalls gemacht werden. Denn die Staatspropaganda Russlands weiß jede Aussage eines westlichen Politikers und jedes beliebige Narrativ des Westens zu eigenen Zwecken umzudeuten.

Waffenlieferungen der USA sind völkerrechtlich gedeckt, so Biden

Währenddessen gelang es der US-Administration – in klarer Abgrenzung zu rhetorischen Eskalationen des Kreml und viel zu scharf formulierten, nicht mehrheitsfähigen Forderungen der britischen Außenministerin – ein bislang beispielloses Unterstützungspaket für die Ukraine zu schnüren, welches an das Leih- und Pachtgesetz (Lend-Lease Act) vom 18. Februar 1941 erinnert und den Vereinigten Staaten während des Zweiten Weltkriegs die Lieferungen von kriegswichtigem Material an die gegen die Achsenmächte kämpfenden Staaten ermöglichte. Damit sollen der Ukraine zusätzlich zu bestehenden Hilfen weitere 33 Milliarden US-Dollar zur Verfügung gestellt werden, wobei allein über 20 Milliarden davon für Militärhilfen vorgesehen sind.

Die Entscheidung liegt nun beim Kongress, wobei es sich in diesem Fall nicht nur um eine reine Formalität handelt. Die hohe symbolische Wirkung in Anbetracht der sich aufdrängenden historischen Parallelen sollte keinesfalls übersehen werden.

US-Präsident Joseph Biden beklagte die „beunruhigende Rhetorik“ des Kreml und betonte, dass die USA und ihre Verbündeten auf alle Eventualitäten vorbereitet seien. Zugleich wies Biden aber ausdrücklich darauf hin, dass die Waffenlieferungen an die Ukraine völkerrechtlich gedeckt seien und nicht als ein Angriff der USA auf Russland interpretiert werden können.

Friedensvertrag in weiter Ferne

Trotz internationaler Bemühungen um eine diplomatische Lösung zwischen der Ukraine und Russland scheinen die bereits wenige Tage nach Beginn russischer Angriffe gegen die Ukraine initiierten Friedensverhandlungen nicht voranzukommen.

Dass die Erwartungshaltungen Kiews und Moskaus weit auseinanderzuliegen scheinen, kann angesichts der Umstände kaum für Verwunderung sorgen und steht einer potenziellen Einigung nicht grundsätzlich im Wege.

Überhaupt liegt das Problem ganz eindeutig nicht auf der Ebene der Verhandlungsdelegationen. Sowohl die ukrainische als auch die russische Delegation haben sich seit den ersten Gesprächen verhandlungsbereit und für die gegenseitigen Positionen empfänglich gezeigt. Dies wurde sowohl vom russischen Delegationsleiter Vladimir Medinskij als auch von der ukrainischen Seite – so unter anderem von Michailo Podoljak, Berater des Präsidialbüros – mehrfach bestätigt.

Auch Serhij Leschtschenko, Kommunikationsberater des ukrainischen Präsidenten, in der Vergangenheit ein bekannter Investigativjournalist der Online-Zeitung Ukrainska Pravda und ehemaliger Abgeordneter und Politiker der Partei Block Petro Poroschenko, hebt in seinem Interview mit der österreichischen Tageszeitung Die Presse hervor, dass die Ukraine weiterhin eine friedliche und diplomatische Lösung anstrebe.

Für den Verzicht auf das strategische Ziel eines Nato-Beitrittes und die Annahme der (militärischen) Neutralität benötige die Ukraine zwingend belastbare Sicherheitsgarantien und nicht unverbindliche Zusicherungen, wie diese beispielsweise das Budapester Memorandum aus dem Jahr 1994 vorgesehen habe.

Der sprichwörtliche Ball liege in der Hälfte Russlands

Weiter sei Kiew bereit, über einen „Sonderstatus für die Krim und die vor dem Krieg besetzten Gebiete“ zu diskutieren. Damit meint Kiew, dass eine Einigung ausschließlich im Rahmen tatsächlicher Grenzen der sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk zum Zeitpunkt 24. Februar 2022 erfolgen könne.

Die tatsächliche räumliche Ausdehnung der sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk umfasste zum Beginn der russischen Invasion lediglich ein Drittel des von Russland und den Volksrepubliken beanspruchten Gesamtterritoriums der ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk. Alle während der aktuellen Phase des Krieges besetzten Gebiete müsse Russland jedenfalls räumen, so Leschtschenko.

Der sprichwörtliche Ball liege in der Hälfte Russlands, eine klare Rückmeldung gebe es bislang nicht. Die Friedensverhandlungen erfolgen zum gegenwärtigen Zeitpunkt ausschließlich auf technischer Ebene der Arbeitsgruppen. Ein von der ukrainischen Seite seit über einem Jahr angestrebtes Gipfeltreffen zwischen den beiden Staatspräsidenten – Wolodymyr Selenskyj und Wladimir Putin – werde von Russland verweigert, so der Präsidentenberater.

Guterres’ missglückter Dialogversuch

In der Hoffnung, dem stockenden diplomatischen Friedensverhandlungsprozess einen neuen Impuls zu geben sowie bei der humanitären Lage der ukrainischen Bevölkerung eine auch nur geringe Verbesserung zu erreichen, reiste der Uno-Generalsekretär António Guterres am 26. April nach Moskau. Allerdings vermochten die Gespräche mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow und dem Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, nichts am Status quo auszurichten.

Nach Austausch diplomatischer Floskeln (doch ohne greifbare Resultate) reiste Guterres von Moskau nach Kiew weiter. Wenige Stunden nach seiner Ankunft standen mehrere Ziel in der ukrainischen Hauptstadt unter Raketenbeschuss Russlands. Die von Moskau offiziell bestätigten Angriffe gegen Kiew während des offiziellen Besuches des Uno-Generalsekretärs sind ein eindeutiges Signal für die steigende Konfliktwilligkeit Moskaus und lassen unglücklicherweise kaum Raum für eine positive Interpretation oder auch nur die leiseste Hoffnung auf baldigen Frieden zu.

Wladimir Putin ist das Hauptproblem

Nichts sollte darüber hinwegtäuschen, dass der Kreml an den wesentlichen politischen Forderungen unverändert festhält: Entmilitarisierung, Entnazifizierung, (politische und militärische) Neutralität der Ukraine, Anerkennung der Krim als Teil Russlands und der Unabhängigkeit der sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk im Rahmen der gesamten ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk. Dass sich diese Erwartungshaltungen des Kreml mit den tatsächlichen militärischen Erfolgen Russlands in keiner Weise decken, scheint für Wladimir Putin nicht von Belang zu sein.

Die mit Abstand größte Unsicherheit, das eigentliche Problem und der Hauptstein des Anstoßes war, ist und bleibt der russische Präsident Wladimir Putin. Seine Entscheidungen über den weiteren Verlauf der Friedensverhandlungen sowie des Angriffskrieges gegen die Ukraine kann weder klar eingesehen noch auch nur ansatzweise sicher eingeschätzt werden.

Der russische Präsident zeigte seit Verhandlungsbeginn keine Bereitschaft, die Vorschläge der Ukraine auch nur ansatzweise ernst zu nehmen. Vielmehr dienten die Friedensverhandlungen dem Kreml stets als diplomatisches Feigenblatt auf dem Weg zur Umsetzung der politischen Ziele der sogenannten Spezialmilitäroperation. Leider sind das alles andere als hoffnungsfrohe Nachrichten.

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