„For God’s sake, this man cannot remain in power“ (zu Deutsch: „In Gottes Namen, dieser Mann darf nicht an der Macht bleiben“), sagte der US-amerikanische Präsident Joseph Biden am 26. März bei seinem Besuch in Polen über Wladimir Putin angesichts der von der russischen Armee in der Ukraine verübten Kriegsverbrechen und verursachten Zerstörungen. Zwar war die programmatische Rede Bidens eindeutig an das westliche Publikum adressiert, jedoch hörte mit Sicherheit auch der Kreml sehr aufmerksam zu. Unmittelbar nach der Rede Bidens wies Kremlsprecher Dmitri Peskow darauf hin, dass es nicht die Sache der USA sei, über die Person des russischen Präsidenten zu entscheiden. Den meisten Beobachtern dürfte aber die jahrzehntealte Angst Russlands, welche aus den Worten Peskows sprach, entgangen sein.
Unter den russischen Eliten besteht nämlich ein grundsätzlicher Konsens über das Bedrohungsbild. Dabei gilt die staatliche Instabilität als die größte Bedrohung für die Existenz Russlands. Aus diesem Grund werden (revolutionäre) Volkserhebungen mit dem Ziel, staatliche Institutionen zu untergraben oder gar das gegenwärtige Regime zu stürzen, als eine reale Bedrohung angesehen.

Allerdings ist für die russische Führungsriege diese Bedrohung nicht ausschließlich innerstaatlicher Natur; die meisten Szenarien innerer Instabilität heben die Rolle externer Faktoren beim Schüren der Unzufriedenheit hervor. Diese Bedrohungsperzeption erklärt die ablehnende Haltung Russlands gegenüber den vom Volk getragenen Protestbewegungen; vom Arabischen Frühling und den sogenannten Farbrevolutionen im postsowjetischen Raum über den Euro-Maidan in der Ukraine bis hin zu Protesten in Belarus im Jahr 2020. Bei all diesen Ereignissen neigt Russland dazu, stets den Einfluss externer Kräfte hinter den Straßenprotesten zu erblicken. Das Ziel dieser Bemühungen sei am Ende – ein gewaltsamer Sturz der russischen Führung, so der innerelitäre Konsens Russlands.
Außenpolitik Russlands als innerelitäres Konsensergebnis
Nach Einschätzung der außen- und sicherheitspolitischen Expertengemeinschaft, so unter anderem von Alexander Graef vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, zeichnet sich die russische Außenpolitik in ihrer Genese durch einen gesteigerten Hang zur Geheimhaltung aus. Dies erklärt sich aus der Schwäche formaler Institutionen, dem hohen Personalisierungsgrad der Politik, dem historischen Erbe Russlands sowie letztlich aus dem geheimdienstlichen Hintergrund von Teilen der politischen Elite. Aus den genannten Gründen sind die außenpolitischen Akteure Russlands weniger an formelle Institutionen gebunden, sondern vielmehr in ein informelles Netzwerk rund um den Präsidenten eingeflochten.
Die zentrale und auch gestaltende Rolle in der Außenpolitik nimmt Wladimir Putin ein. Dies aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Vormachtstellung als Staatspräsident (unter anderem gibt der Präsident gemäß der Verfassung die Leitlinien der Außenpolitik vor, entscheidet über den Kriegs- und Ausnahmezustand, übt den Oberbefehl über die Streitkräfte aus, befiehlt den Einsatz von Kernwaffen), der realpolitisch dominanten Machtrolle im Rahmen des – von Putin geschaffenen – russischen staatspolitischen Systems sowie des stark ausgeprägten personalistischen Charakters des gegenwärtigen russischen Regimes.
Allerdings waren die zentralen außenpolitischen Entscheidungen (so beispielsweise der Militäreinsatz in Georgien im Jahr 2008 oder auch die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im Jahr 2014) stets das Ergebnis eines kollektiven Entscheidungsmechanismus unter den Führungseliten. Dieser Entscheidungsmechanismus wurde aber durch die (nur zu offensichtlich nicht von der Gesamtheit oder auch nur der Mehrheit der außen- und sicherheitspolitischen Elite Russlands mitgetragene) Entscheidung Putins, den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu beginnen, aufgebrochen. Die mittlerweile legendäre Sitzung des Sicherheitsrates am 21. Februar 2022 hat dafür ein eindrucksvolles Zeugnis geboten.
Schrödingers Russland
Dennoch sollte keinesfalls übersehen werden, dass Wladimir Putin zwar die Schlüsselperson, jedoch nicht der einzige außenpolitische Akteur Russlands ist. Die außenpolitischen Handlungen Russlands werden von Interessen und Bedrohungsperzeptionen getragen, die eine breite Zustimmung und Unterstützung innerhalb der Führungselite finden.
Den Kern des außenpolitischen Konsenses bildet dabei die Überzeugung von Russland als einem starken, handlungsfähigen Staat im Innenverhältnis und einer souveränen Großmacht im Außenverhältnis; einer Großmacht auf Augenhöhe mit den anderen Großmächten. Dabei ist das russische Großmachtdenken nicht mit dem (Ethno-)Nationalismus zwingend gleichzusetzen und gründet auf einem breiten innerelitären Konsens, welcher durch ein kohärentes und konsistentes Verständnis der sicherheitspolitischen Ziele und Bedrohungen ergänzt wird.
Im Selbstverständnis russischer Eliten kann das Land ausschließlich als Großmacht existieren. Hierin ist das Land Schrödingers Katze nicht unähnlich: Denn sollte die Frage nach Sinn und Existenz des Großmachtstatus einmal tatsächlich gestellt werden, ist es das Ende Russlands, wie wir es kennen. Das Warten darauf dürfte allerdings kurz- bis mittelfristig vergebens sein. Schließlich sollte nicht übersehen werden, dass sich der Elitenkonsens hinsichtlich außenpolitischer Zielsetzungen bereits gegen Ende der Amtszeit des ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin zu formieren begann, in der Ära von Wladimir Putin endgültig festigte und auch die Person Putin lange überdauern dürfte.
Außenpolitische Mehrheit Putins
Die überwiegende Mehrheit der russischen Bevölkerung zeigt sich seit Jahren mit der russischen Außenpolitik überaus zufrieden. Im Grunde bleibt die Außenpolitik Putins in der Wahrnehmung der Bevölkerung das einzige unumstrittene und auch durchwegs positiv wahrgenommene Politikfeld. Letzteres spiegelt sich in den hohen Zustimmungswerten für Wladimir Putin, den Außenminister Sergej Lawrow und den Verteidigungsminister Sergej Schojgu wider, das heißt von Personen, die mit der Außenpolitik traditionell in Verbindung gebracht werden.
Während die sozialen und wirtschaftlichen Probleme Russlands nicht allzu intensiv, aber dennoch öffentlich diskutiert werden, ist die Außenpolitik in Russland traditionell kein sehr beliebtes Thema für öffentliche Diskussionen. Die hitzigen außenpolitischen Debatten im russischen Staatsfernsehen sind nicht als Diskussionsplattform gedacht, sollen aber die Zuschauer unterhalten sowie den Anschein eines breiten – in Wahrheit noch nicht einmal in Ansätzen vorhandenen – Meinungsspektrums in den Staatsmedien erwecken.
Dennoch bleibt die Außenpolitik das einzige Politikfeld im heutigen Russland, in dem die seit zwei Jahrzehnten etablierten offiziellen, vom Kreml propagierten außenpolitischen Narrative (wie beispielsweise „Russlands Erhebung von den Knien“, „Wiedergeburt einer Großmacht“ usw.) eine hohe öffentliche Akzeptanz genießen.
Hinterfragt werden diese Narrative, wenn überhaupt, nur von politisch wenig bedeutenden Gruppen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit dürfte die Kritik an Putins Außenpolitik auch nach dem Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht mehrheitsfähig werden. Solange allerdings die Haltung weiter Teile der Bevölkerung im Wesentlichen unverändert bleibt, wird sich der Kreml kaum dazu gezwungen sehen, den aktuellen außenpolitischen Kurs zu ändern.
Groll und Schuldgefühle der mächtigsten Männer Russlands
Wladimir Putin und seine Umgebung entstammen in etwa der gleichen Generation. Es ist eine Generation, die sich zum Zeitpunkt des Zerfalls der Sowjetunion bereits im Umfeld der Macht bewegte, aber auf die Entscheidungsprozesse keinen Einfluss hatte. Nach Ansicht namhafter Experten wie beispielsweise von Anatol Lieven, einem Senior Research Fellow am Quincy Institute for Responsible Statecraft, hegen Wladimir Putin und sein innerer Kreis ungeachtet des immensen Reichtums und der uneingeschränkten Machtfülle nach wie vor einen starken Groll über die Art und Weise des Unterganges der Sowjetunion.
Diese Generation plagen offenbar Schuldgefühle, damals nichts unternommen zu haben, um den Auflösungstendenzen entgegenzuwirken. Das Ende der Sowjetunion war für die aktuellen Machthaber im Kreml ein äußerst traumatisches Erlebnis und gipfelte in der Überzeugung, dass sich diese Ereignisse auch im Falle der Russischen Föderation wiederholen könnten. So irrational diese Sorgen für Außenstehende auch erscheinen mögen, für die russischen Eliten stellt das Zerfallsszenario eine absolut reale existenzielle Bedrohung dar, welche es um jeden Preis zu verhindern gilt.
Diese Sichtweise trägt dazu bei, dass sich die russische Führung Russlands von einem Feuerring an Konflikten umgeben sieht und dabei wohl am ehesten das Bild einer belagerten Festung vor Augen hat. Zudem glauben die russischen Eliten, dass viele der gegenwärtigen Konflikte im Umfeld Russlands zu einem wesentlichen Teil vom Westen, vor allem den USA, befeuert werden: dies mit dem langfristigen Ziel, revolutionäre und regierungsfeindliche Kräfte in Moskau zu unterstützen, um letztlich einen „regime change“ herbeizuführen. Daraus erklärt sich auch der Konsens unter den außen- und sicherheitspolitischen Eliten, dass die größte Bedrohung für Russland von staatlicher Instabilität ausgeht.
Wichtig ist, dass die russische Führung der Überzeugung ist, ausschließlich äußere Einflussnahme sei für das Gelingen der Massenproteste entscheidend. Die inneren Gründe seien dagegen vernachlässigbar. Interessanterweise wendet Russlands Führungsriege diese Interpretation nicht nur auf die Gegenwart an, sondern auch auf die Vergangenheit. So wird etwa die Russische Revolution 1917 in erster Linie einem äußeren Einfluss und der großzügigen Finanzierung durch Deutschland und die USA zugeschrieben. Die zahllosen inneren Faktoren, die historisch betrachtet revolutionsauslösend waren, werden von den russischen Eliten dagegen marginalisiert und gern übersehen.
Außenpolitisch führt diese Weltanschauung dazu, dass Moskau nicht wirklich zu verstehen vermag, wie die Gesellschaften in den umliegenden Staaten funktionieren. Das ist mit ein Grund dafür, dass die russische Armee in der Ukraine wider Erwarten langsam vorankommt. Das Einzige, was dem Kreml wichtig erscheint, ist der unbeschränkte Einfluss auf die Staatsspitze. Russlands Führung glaubte tatsächlich daran, dass in der Ukraine bereits mit dem Einmarsch russischer Streitkräfte, allerspätestens jedoch mit der Belagerung der Hauptstadt Kiew und der bevorstehenden Ausschaltung der Regierung das ganze Land sich sofort Russland anschließen würde. Um den gesellschaftlichen Restwiderstand werde sich die Staatspropaganda erfolgreich kümmern, so eine gängige Überzeugung aufseiten russischer Eliten.
Aus diesen Gründen wird jede innere Opposition ausnahmslos so verstanden, als ob diese von außen finanziert und gesteuert wird. Letztlich lassen sich aus dieser irrationalen Angst die harsche Ablehnung jedweder vom Kreml nicht kontrollierter Opposition, freier Medien sowie auch die maßlose Verfolgung und Vergiftungspläne gegen Alexej Nawalny – jedenfalls zu einem guten Teil – erklären. Allerdings dürfte diese Einseitigkeit in der Wahrnehmung und Ignoranz innergesellschaftlicher Entwicklungen für den Kreml in den kommenden Jahren gerade auch in Bezug auf die russische Gesellschaft zu einem sehr großen Problem werden.
Unkontrollierbare Angst vor den Umsturzplänen des Westens
Die Sorge vor durch den Westen (vor allem die USA) befeuerten Massenprotesten mit anschließendem gewaltsamem Regierungssturz war zwar spätestens seit der Rosenrevolution in Georgien im Jahr 2003 und der Orangenen Revolution in der Ukraine im Jahr 2004 (und in ersten Ansätzen bereits seit dem Rücktritt von Slobodan Milosevic infolge von Massenprotesten in Jugoslawien im Jahr 2000) innerhalb russischer Eliten präsent, nach dem gewaltsamen Sturz Muammar Gaddafis im Jahr 2011 dürfte jedoch die Angst zu einem ständigen Begleiter Wladimir Putins geworden sein.
Nach Einschätzung des führenden bulgarischen Politologen Ivan Krastev vom Centre for Liberal Strategies in Sofia sollen das Vorgehen der Nato gegen Libyen und der gewaltsame Sturz Gaddafis für Putin ein Schlüsselerlebnis und der zentrale Auslöser seiner Entscheidung über die Rückkehr in das Präsidentenamt gewesen sein. Angeblich soll Putin die Szenen der Hinrichtung Muammar Gaddafis stundenlang wie gebannt angesehen haben.
Vor diesem Hintergrund werden die am 26. März in Polen geäußerten Worte des US-amerikanischen Präsidenten Joseph Biden über Wladimir Putin vom Kreml als eindeutiger Beweis für aggressive US-amerikanische Umsturzpläne interpretiert und in den russischen Staatsmedien genussvoll ausgeschlachtet werden. Die noch am selben Abend erfolgte Richtigstellung vonseiten des Weißen Hauses, wonach die Äußerung des US-Präsidenten nicht als ein direkter Aufruf zum Sturz Putins interpretiert werden dürfe, wird daran freilich nichts ändern können. Genauso wenig wie die am 27. März getätigte Feststellung Emanuel Macrons, dass er sich – im Gegensatz zu Joseph Biden – Beleidigungen Wladimir Putins niemals erlauben würde.
Auch wenn weder die Worte Joseph Bidens noch eines anderen westlichen Politikers Wladimir Putin von seinen langjährigen, zwangsneurotische Züge aufweisenden Überzeugungen abbringen werden. Die Rede Bidens wird Putin die absolute Richtigkeit seiner Gedankenwelt endgültig bescheinigen und die Alternativlosigkeit seiner aktuellen und – aller noch kommender – Handlungen bestätigen.
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