Analyse

Ukraine-Krieg: Was muss man Russland geben, damit die Ukraine Frieden bekommt?

Die Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine stocken. Denn die Forderungen Russlands sind kaum zu erfüllen. Ein Überblick.

Ein ukrainisches Paar, das sich voneinander verabschiedet. Die Sehnsucht nach Frieden ist groß.
Ein ukrainisches Paar, das sich voneinander verabschiedet. Die Sehnsucht nach Frieden ist groß.AP

Die Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland begannen bereits am vierten Tag des Krieges. Nach Informationen beider Seiten finden parallel zu Verhandlungstreffen in Belarus regelmäßig Gespräche über Videoschaltungen sowie laufend gemeinsame Sitzungen im Rahmen von mehreren Arbeitsgruppen statt.

Vergangene Woche berichtete die Financial Times exklusiv über den Entwurf eines Friedensplanes zwischen der Ukraine und Russland. Demnach sei der Waffenstillstand und der Rückzug russischer Streitkräfte im Austausch für den Neutralitätsstatus der Ukraine sowie den Verzicht auf einen Nato-Beitritt vorgesehen. Die Neutralität Kiews solle in Zukunft durch internationale Sicherheitsgarantien unter anderem von Seiten der USA, Großbritanniens und der Türkei gesichert werden. Ein Neutralitätsmodell nach dem Vorbild Österreichs oder Schwedens stehe dabei zur Diskussion.

Weiters sollen laut dem Friedensplanentwurf die russischen Forderungen nach der Anerkennung der 2014 annektierten Halbinsel Krim sowie der Unabhängigkeit der sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (in den 2014 proklamierten Grenzen der gesamten ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk) von den übrigen Punkten entkoppelt und im Rahmen zukünftiger Verhandlungen geklärt werden. Schließlich solle auch die russische Sprache einen besonderen, in der ukrainischen Verfassung festgeschriebenen Status erhalten.

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Zum Autor
Dr. Alexander Dubowy ist Politik- und Risikoanalyst sowie Forscher zu internationalen Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum. Er ist Mitarbeiter der Berliner Zeitung am Wochenende.

Die Authentizität dieses Friedensplanes wurde bislang nicht offiziell bestätigt. Ganz im Gegenteil, bezeichnet doch Michailo Podoljak, Berater des Präsidialbüros der Ukraine und Mitglied der ukrainischen Delegation bei den Friedensverhandlungen mit Russland in Belarus, die im Bericht der Financial Times aufgezählten vorläufigen Verhandlungsergebnisse als „Vorschläge der russischen Seite“, welche aktuell „intensiv diskutiert“ werden. Zu bestätigen bereit war Podoljak ausschließlich die nachfolgenden Punkte: Feuerpause, Abzug der russischen Truppen sowie internationale Sicherheitsgarantien für die Ukraine.

Große Erwartungen

Offensichtlich scheinen die Seiten bei den meisten Punkten von einer baldigen Einigung weit entfernt zu sein. Bei der Frage nach dem Neutralitätsmodell der Ukraine hebt Michailo Podoljak beispielsweise hervor, dass die ukrainische Neutralität keine direkte Nachahmung fremder Modelle – somit auch nicht der Neutralitätsmodelle Österreichs oder Schwedens – sein könne, sondern ein Neutralitätsmodell sui generis darstellen müsse. Für Kiew sei dabei die Ausgestaltung der Sicherheitsgarantien zentral.

Effektive Sicherheitsgarantien sollen nach Ansicht Podoljaks unbedingt eine Beistandsverpflichtung von Seiten der Garantiemächte enthalten. Ein zweites – von Russland durch die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im Jahr 2014 gebrochenes – Budapester Memorandum brauche die Ukraine nicht, so Podoljak sinngemäß. Die Garantiemächte müssen im Falle einer Neutralitätsverletzung die Ukraine aktiv unterstützen und offiziell mit allen notwendigen Waffen versorgen.

Auch brauche Kiew Garantien, dass im erneuten Konfliktfalle sogleich eine Flugverbotszone eingerichtet werde. Gerade diese ukrainischen Erwartungen in Bezug auf die Ausgestaltung der Sicherheitsgarantien dürften in Moskau für größtes Unbehagen sorgen und als ein nicht akzeptabler Versuch eines Nato-Beitrittes über die Hintertür ausgelegt werden. Offen bleibt natürlich auch die Frage, ob die potenziellen Garantiemächte dermaßen weitreichende Verpflichtungen eingehen werden.

Der umstrittenste Punkt dürfte aber der von Russland verlangte Verzicht der Ukraine auf drei Gebiete sein. Während die Anerkennung der 2014 annektierten Halbinsel Krim durch Kiew durchaus im Bereich des Möglichen liegt, bleibt der Verzicht auf die Regionen Donezk und Luhansk kaum vorstellbar. Das ist wohl auch der eigentliche Grund, warum Wolodymyr Selenskyj ankündigte, alle Verhandlungsergebnisse in einem Referendum bestätigen lassen zu wollen. So verständlich dieser Wunsch auch erscheinen mag, lässt jener – abgesehen von Fragen nach faktischer Umsetzbarkeit in einem kriegsgeplagten Land – eine baldige diplomatische Konfliktlösung nicht unbedingt wahrscheinlicher erscheinen.

Moskau will keinen Frieden

Obwohl sowohl Moskau als auch Kiew bei mehreren Gelegenheiten erklärten, dass bei den Verhandlungsgesprächen wesentliche Fortschritte zu verzeichnen seien, ist die Freude über diese potenziell vielversprechenden diplomatischen Erfolgsaussichten definitiv verfrüht. Besonders auf ukrainischer Seite bleibt die Skepsis groß. Diese Skepsis ist aber nur zu verständlich. Denn ohne eine Feuerpause könnte Russland genauso gut nur auf Zeit spielen, um eine Offensive im Süden vorzubereiten, sowie ukrainische Streitkräfte im Donbass einzukesseln versuchen, um damit die eigene Verhandlungsposition zu stärken.

Angesichts russischer Militäroperationen im Donbass, rund um Kiew und entlang der Schwarzmeerküste wird es mittlerweile immer klarer, dass die ursprünglichen Zielsetzungen des russischen Angriffskrieges im Wesentlichen unverändert bleiben. Auch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich bei den von Moskau in den Verhandlungen vorgebrachten Forderungen nicht um Maximal-, sondern geradezu um Minimalziele handelt. Das wahre Ziel des Kremls dürfte indessen ein Regimewechsel in Kiew und eine prorussische – alle Forderungen Moskaus zu erfüllen bereite – Regierung bleiben.

Aus den genannten Gründen ist es nicht verwunderlich, dass ungeachtet intensiver Verhandlungen seit Tagen immer weniger (positive) Informationen nach außen drängen. Aus den nur noch seltenen öffentlichen Statements lässt sich aber herauslesen, dass die Gespräche offenbar eine kritische Stufe erreichen und in eine diplomatische Sackgasse abzubiegen drohen. Dabei ist insbesondere von offizieller russischer Seite zu hören, dass die Erwartungshaltungen der Ukraine unrealistisch seien.

Konflikteintritt der USA und der Nato möglich?

So wenig wahrscheinlich der Einsatz einer taktischen Kernwaffe durch Russland auch erscheinen mag, kann dieser mittlerweile keinesfalls mehr ausgeschlossen werden. Erst kürzlich versicherte Kremlsprecher Dmitrij Peskov, dass der Einsatz von Atomwaffen nur im Falle einer existenziellen Bedrohung Russlands erfolgen könne.

Keine 48 Stunden später, pünktlich zum Beginn des Nato-Sondergipfels, sagte Wladimir Medinskij, Leiter der russischen Delegation bei den Verhandlungen mit der Ukraine, dass der Westen Russland und sein politisches System zu zerstören versuche und die aktuelle Krise die Existenz Russlands bedrohe.

Hierbei dürfe keinesfalls übersehen werden, dass Russland eine sogenannte Konzeption der „nuklearen Deeskalation“ verfolgt. Diese Konzeption besteht im Wesentlichen darin, dass im Falle einer drohenden militärischen Niederlage ein nuklearer Abschreckungsschlag mit einer taktischen Kernwaffe über unbewohntem Gelände des Gegners durchgeführt werden darf, um den Gegner zu demoralisieren und diesen zu Verhandlungen oder zur Kapitulation zu bewegen. Die Einsätze sind für Moskau offenbar so hoch wie zu keinem anderen Zeitpunkt seit dem Zerfall der Sowjetunion.

Bislang lehnten sowohl die USA als auch die Nato eine direkte Konfliktinvolvierung strikt ab. Am 23. März bestätigte allerdings ein hochrangiger US-Regierungsbeamter gegenüber der New York Times, dass Washingtons Unwille mittlerweile klare „rote Linien“ aufweist. Nach Informationen der New York Times handelt es sich dabei um den potenziellen Einsatz einer taktischen Atombombe durch Russland in der Ukraine; ähnliches dürfte wohl auch für den Einsatz biologischer oder chemischer Waffen gelten. Auch sollen die Gründe für den potenziellen Konflikteintritt der Nato im Rahmen des außerordentlichen Nato-Gipfels am 24. März diskutiert werden.

Viele Experten weisen aber zu Recht darauf hin, dass die US-Administration bereits in der Vergangenheit deutliche „rote Linien“ gezogen hatte, bei deren Überschreitung eine militärische Intervention durch die USA folgen sollte – so beispielsweise unter Barack Obama im August 2012 in Bezug auf den Einsatz biologischer oder chemischer Waffen von Seiten der syrischen Regierung. Als die Assad-Regierung im August 2013 diese „rote Linie“ überschritt, war die US-Regierung nicht bereit, den Militäreinsatz auch tatsächlich unmittelbar umzusetzen.

Freilich muss eine andere Frage erlaubt sein: Ab welchem Zeitpunkt stellen die von Russland bislang verübten sowie die noch zu befürchtenden Kriegsverbrechen und die seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa beispiellosen Zerstörungen – selbst ohne Einsatz taktischer Atomwaffen – eine für Washington und die Nato nicht mehr zu duldende Grenzüberschreitung dar? Eine hoffnungsfrohe Antwort gibt es auf diese Frage nicht.

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