Am 26. April entfachte der Außenminister der Russischen Föderation Sergej Lawrow erneut die Diskussion über die Wahrscheinlichkeit eines Weltkrieges sowie den potenziellen Einsatz von Atomwaffen durch Russland. Der gute Wille Russlands habe seine Grenzen und auch die Gefahr eines dritten Weltkrieges dürfe keinesfalls unterschätzt werden, so der russische Chefdiplomat.
Keine allzu „besondere Kampfbereitschaft“
Bereits am letzten Wochenende vor Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine führte Russland eine seiner strategischen Abschreckungsübungen durch. Und eine knappe Woche nach Beginn der sogenannten „Spezialmilitäroperation“ wies Wladimir Putin öffentlichkeitswirksam den Verteidigungsminister und den Generalstabschef an, die strategischen Abschreckungskräfte der russischen Streitkräfte in „besondere Kampfbereitschaft“ zu versetzen.
Damit gab er dem Westen gegenüber ein klares Signal der Entschlossenheit ab, bis zum Äußersten gehen zu wollen. Gleichzeitig aber sorgte dieser Befehl weltweit für Verwunderung. Denn der Modus einer „besonderen Kampfbereitschaft“ der strategischen Abschreckungskräfte wird weder von strategischen Abschreckungskräften noch irgendwo anders in der russischen Armee verwendet. Aus diesem Grund ist es nach wie vor unmöglich zu sagen, auf welche Weise der Befehl zur „besonderen Kampfbereitschaft“ ausgelegt und umgesetzt worden ist.
Propagandisten für den Krieg
Ähnlich beunruhigend empfanden die Medien und die Öffentlichkeit im Westen die Diskussionen im russischen Staatsfernsehen. So erklärten über die vergangenen Wochen mehrere russische Propagandisten, nichts Falsches im Einsatz taktischer Atomwaffen in oder auch außerhalb der Ukraine zu sehen.
Naheliegenderweise sollten diese Aussagen in einem laufenden und zunehmend eskalierenden Konflikt nicht einfach ignoriert werden. Dennoch sind die Ankündigungen der russischen Staatspropaganda stets mit einer größeren Prise Vorsicht zu nehmen. Denn derartige Aussagen im Staatsfernsehen sind weder neu noch wirklich überraschend; zumal in der berüchtigten Sendung von Vladimir Solowjow. Bereits vor Jahren hat ein anderer umtriebiger russischer Moderator und Propagandist, Dmitri Kisseljow, damit gedroht, die USA in eine atomare Wüste zu verwandeln.
Weder Solowjow noch Kisseljow noch andere Kreml-Propagandisten werden über den Einsatz von Atomwaffen entscheiden oder diesen auch nur annähernd beeinflussen können. Vielmehr handelt es sich um eine propagandistische Inszenierung. Diese Inszenierung dient sowohl innen- als auch außenpolitischen Zwecken.

Innenpolitisch sollen die im Staatsfernsehen durch Expertengemeinschaft platzierten – mit dem Kreml im Vorfeld akkordierten und sich im engen Rahmen bewegenden – Forderungen den Entscheidungsspielraum für Wladimir Putin ganz erheblich erweitern, die Bevölkerung auf unterschiedliche Szenarien vorbereiten und Putin letztlich jede Notwendigkeit zur Rechtfertigung abnehmen. Außenpolitisch soll der Westen mit den Drohungen von der Unterstützung der Ukraine – um des „lieben Friedens willen“ – abgeschreckt werden.
Ein wohlklingender Trugschluss
Die Warnungen, dass westliche Waffenlieferungen an die Ukraine für den Kreml zwingend eine Grenzüberschreitung bedeuten müssen und den Einsatz taktischer Nuklearwaffen provozieren könnten, sind ein wohlklingender Trugschluss. Freilich ist allein die Überzeugung, wonach der Westen einen unmittelbaren, wesentlichen Einfluss auf die Entscheidungsfindung Wladimir Putins nehmen kann, kindlich naiv und maßlos selbstüberhöhend zugleich – deswegen aber um keinen Deut weniger falsch.
Die sogenannten roten Linien für den Atomwaffeneinsatz definiert Wladimir Putin und Wladimir Putin allein. Es war auch der russische Präsident, der mit seiner kaum verhohlenen Drohung, Atomwaffen in einem konventionellen Konflikt einzusetzen, gleich zu Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine eine faktische Ausweitung der offiziellen Nukleardoktrin Russlands herbeiführte.
Zwar kann sich der Westen über den genauen Verlauf der sprichwörtlichen roten Linien in der Vorstellungswelt Wladimir Putins keinesfalls sicher sein, so gipfelt letztlich jede Handlung auf westlicher Seite in ein heuristisches Spiel aus Versuch und Irrtum, jedoch dürfte das eigentliche Problem dabei darin bestehen, dass es keine klaren roten Linien mehr gibt. Jede beliebige Handlung des Westens kann von Wladimir Putin zu jedem beliebigen Zeitpunkt als eine unverzeihliche Grenzüberschreitung ausgelegt werden.
Nun sag’, wie hast Du’s mit dem Atomwaffeneinsatz?
Die eigentliche Gretchenfrage im Zusammenhang mit der Möglichkeit des Atomwaffeneinsatzes durch Russland bleibt, ob die Elitengruppen rund um den Kreml-Chef eine nukleare Eskalation auch tatsächlich mitzutragen bereit sind. Das dürfte aktuell nicht der Fall sein.
Die Einflussmöglichkeiten der Eliten auf die Entscheidungsfindung des russischen Präsidenten hängen aber mit dem weiteren Kriegsverlauf unmittelbar zusammen. Auch wenn dies zunächst kontraintuitiv klingen mag, gilt aktuell die Faustregel: Je schlechter es aus militärischer Sicht in der Ukraine für Russland läuft, desto mehr Unterstützer aus den Reihen der Eliten braucht Putin im Inland, um sein Machtsystem stabil zu halten.
Vor dem Hintergrund des sich langsam, doch unaufhaltsam entfaltenden Sanktionsdrucks nimmt die tatsächliche Unterstützungsbereitschaft seitens der Bevölkerungsmehrheit für den russischen Präsidenten ab. Und je mehr Unterstützer Putin in den Reihen der Eliten für eine Stabilisierung Russlands benötigt, umso unwahrscheinlicher wird ein Abdriften in eine personalistische Diktatur und letztlich auch der Einsatz der Atomwaffen.
Daraus folgt, je länger und entschlossener sich die Ukraine mithilfe der – dringend benötigten – westlichen Waffenlieferungen gegen Russland zu wehren vermag, desto geringer wird der Preis sein, den die Ukraine und letztlich auch der Westen für den Frieden zahlen müssen.




