Am Dienstag, den 29. März, fand in Istanbul eine international langerwartete weitere persönliche Runde der Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland statt. Als die Gespräche nach nur drei Stunden zu Ende gingen und für diese Woche entgegen ursprünglichen Planungen keine weitere Verhandlungsrunde angesetzt wurde, war Schlimmes zu befürchten. Dennoch konnten die offiziellen Statements bei der Delegationen positiv überraschen. Erstmals seit Beginn der Friedensgespräche wurden wesentliche Fortschritte offiziell bestätigt.
Russland und Ukraine: Vorsichtiger Optimismus und gesundes Misstrauen
Eine besonders positive Bewertung kam vom Leiter der russischen Delegation Wladimir Medinskij. Dabei sah Medinskij wesentliche Gesprächsfortschritte als erreicht an. Auch ein Treffen zwischen Volodymyr Selenskyj und Wladimir Putin werde immer wahrscheinlicher und bei entsprechend schnellen weiteren Verhandlungsergebnissen sei gar die Chance auf einen baldigen Frieden gegeben, so Medinskij. Pünktlich zum Ende der Gespräche in Istanbul kündigte das Verteidigungsministerium Russlands eine „Kardinaleinschränkung der Militäroperationen bei Kiew und Tschernihiw“ an.

Auch wenn die Ankündigungen von russischer Seite keinesfalls für bare Münze gehalten werden dürfen, ist angesichts der positiven Verhandlungsdynamik vorsichtiger Optimismus absolut angebracht. Der Kritik einiger Beobachter, wonach es sich um einen reinen Forderungskatalog der ukrainischen Seite handelt, welcher von Russland zwingend abgelehnt werden muss, muss entgegnet werden, dass alle am 29. März in Istanbul genannten Punkte über die vergangenen Wochen innerhalb von gemischten Arbeitsgruppen intensiv diskutiert und vor ihrer Veröffentlichung abgestimmt wurden. Denn bei aller gebotenen Vorsicht und Skepsis darf nicht übersehen werden, dass es sich um den ersten – von beiden Seiten offiziell bestätigten – Fortschritt in den Friedensgesprächen handelt. Von einem schnellen Ende des Krieges kann aber freilich keinesfalls die Rede sein.
Neutralität und Annäherung bei Gebietsansprüchen
Die am 29. März präsentierten vorläufigen Verhandlungsergebnisse umfassen im Wesentlichen nur allererste Kompromisse über die Rahmenbedingungen der ukrainischen Neutralität. Demnach soll die Ukraine immerwährende Neutralität erklären und sich dazu verpflichten, keine ausländischen Militärstützpunkte oder Militärkontingente auf eigenem Territorium zu beherbergen sowie keinen militärisch-politischen Allianzen beizutreten (gemeint ist darunter natürlich die Nato, aber auch – theoretisch – die OVKS, die Russland-geführte Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit).
Im Austausch dafür soll die Ukraine umfassende Sicherheitsgarantien erhalten. Als potentielle Garantiemächte wurden neben den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates – China, Frankreich, Großbritannien, Russland, USA – Deutschland, Israel, Italien, Kanada, Polen sowie die Türkei genannt. Alle Garantiemächte verpflichten sich dazu, im etwaigen Konfliktfall die Ukraine mit Waffenlieferungen zu unterstützen und eine Flugverbotszone einzurichten. Schließlich dürfen die Garantiemächte die EU-Beitrittsbestrebungen der Ukraine nicht behindern, sondern müssen vielmehr Kiew dabei nach Kräften unterstützen. Laut Vladimir Medinskij wird sich auch Russland – nicht – gegen einen EU-Beitritt der Ukraine stellen. Im Grunde genommen, bilden derart weitreichende Sicherheitsgarantien eine Nachahmung der Beistandspflicht des Nato-Gründungsvertrages nach und haben zugleich das Potential, als Grundlage für eine neue gesamteuropäische Sicherheits- und Friedensordnung zu dienen.
Neben dem grundsätzlichen Rahmen für die ukrainische Neutralität scheinen sich Kiew und Moskau auch in der Frage der im Jahr 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim sowie der beiden sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk angenähert zu haben. Über den Status der Halbinsel Krim und der Stadt Sewastopol sollen bilaterale Verhandlungsgespräche für die Dauer von 15 Jahren vereinbart werden. In diesem Zeitraum verpflichten sich beide Seiten auf militärische Mittel zur Lösung der Statusfrage zu verzichten. Dieser Punkt ist insofern erstaunlich, als Moskau bislang jedwede Diskussion über die Krim abgeschmettert hat. Die Fragen nach dem Status der sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk sollen hingegen im letzten Schritt direkt zwischen den Präsidenten der Ukraine und Russlands geklärt werden. Im Ergebnis laufen die beiden Punkte auf ein Einfrieren der Gebietsstreitigkeit auf einen unbestimmten Zeitraum hinaus.
Keine wesentliche Änderung Moskaus politischer Zielsetzungen
Unmittelbar nach Bekanntwerden stießen die vorläufigen Verhandlungsergebnisse auf harsche Kritik sowohl in der Ukraine als auch in Russland. Dabei sind die Argumente der Kritiker im Kern dieselben – Verrat der jeweiligen nationalen Interessen. Auch vor diesem Hintergrund ist ein baldiger Friedensvertrag nicht zu erwarten. Vor allem sind weniger die vorläufigen Verhandlungsergebnisse entscheidend, sondern vielmehr die offen gebliebenen Punkte. Denn bei viel zu vielen Fragen scheint eine Kompromisslösung nur schwer vorstellbar zu sein.
Ungeachtet offizieller Ankündigungen und punktueller Anpassungen russischer militärischer Zielsetzungen kann von einer wesentlichen Änderung der politischen Zielsetzungen Russlands kaum die Rede sein. Bis zu einer auch nur vorübergehenden Feuerpause, geschweige denn einem Waffenstillstand und Truppenabzug Russlands ist es ein langer Weg mit ungewissem Ausgang. Somit gibt es nach wie vor nur wenig Grund zur Hoffnung auf einen baldigen Frieden in der Ukraine. Die Verhandlungsbereitschaft Moskaus scheint nur wenig mehr als eine taktische Finte zu sein.
Verhandlungsbereitschaft als taktische Finte Russlands
Moskau scheint gegenüber Kiew von der ursprünglichen Friss-oder-Stirb-Taktik zu einer Taktik des Zuckerbrots und der Peitsche übergegangen zu sein. Als Zuckerbrot dienen dabei – naheliegenderweise nur sehr bedingt – die Aussicht auf ein zeitnahes Gipfeltreffen zwischen Wladimir Putin und Volodymyr Selenskyj, die Zusicherung des russischen Verteidigungsministeriums eine umfassende Einschränkung (Feuerpause ausdrücklich ausgeschlossen) der Militäroperationen bei Kiew und Tschernihiw durchzuführen sowie die Ankündigung, die Kampfhandlungen auf den Donbas zu beschränken. Die Peitsche bleibt natürlich die jederzeit mögliche weitere Gewalteskalation von Seiten Russlands inklusive des verstärken Einsatzes schwerer Waffen gegen Zivilisten.
Ein Grund zur Freude ist der russische Taktikwechsel freilich nicht. Angesichts ungeheurer Kriegsverbrechen und menschenverachtender Zerstörungen bleibt Russland absolut unglaubwürdig. Moskau könnte die Verhandlungen genauso gut als eine Atempause zur Vorbereitung weiterer Offensiven nutzen. Aktuell sieht der vom russischen Verteidigungsministerium angekündigte teilweise Rückzug aus den Gebieten Kiew und Tschernihiw vielmehr nach einer Umgruppierung zur Vorbereitung weiterer Offensivoperationen aus. Denn – entgegen den bisherigen Ankündigungen – scheint die Einkreisung Kiews weiter voranzuschreiten, inklusive neuer Truppenverlegungen. Zentral wird auch die Frage sein, wie sich die katastrophale humanitäre Lage in Mariupol und Tschernihiw weiterentwickelt.
Schließlich bleiben nach wie vor zu viele Fragen offen. So beispielsweise: Wird sich Russland aus (teil-)besetzten Gebieten Cherson und Saporischschja zurückziehen? Werden die Angriffe auf Mykolajiw aufhören? Die Antwort auf diese Fragen dürfte jedenfalls derzeit ein klares „Nein“ sein.
Die mit Abstand größte Unsicherheit ist und bleibt aber der russische Präsident Wladimir Putin. Seine Entscheidung über den weiteren Verlauf der Friedensverhandlungen sowie des Angriffskrieges gegen die Ukraine bleibt nicht absehbar.
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