Die russische Offensive im Donbass hat zwar vor wenigen Tagen begonnen, eine Entscheidung steht jedoch nach wie vor aus. Russland geht im Gegensatz zu den ersten Wochen des Krieges langsam und systematisch vor, meidet größere Zusammenstöße und scheint die Streitkräfte für mehrere Angriffsoperationen in Stellung zu bringen. Der Kulminationspunkt der Schlacht um Donbass dürfte daher erst in den kommenden Tagen erreicht werden.

Mariupol: Was wird mit dir passieren?
An mindestens einem Frontabschnitt kam Russland in den vergangenen Tagen aber voran. Die Verteidigungslinien in der seit zwei Monaten umkämpften, strategisch wichtigen Hafenstadt Mariupol sind endgültig auf das Stahlwerk „Asow-Stahl“ zusammengeschrumpft. In den weit verzweigten, kilometerlangen, unterirdischen Strukturen des Stahlwerkes halten sich neben den Verteidigern weit über 1000 Zivilisten auf.
Am Morgen des 21. April kündigte der russische Verteidigungsminister Sergej Schojgu an, diese letzte noch verbliebene Stellung der Verteidiger von Mariupol innerhalb von drei bis maximal vier Tagen einzunehmen, und bezeichnete Mariupol dabei als die Hauptstadt des als ultranationalistisch geltenden, der Nationalgarde der Ukraine angehörenden Regimentes Asow. Die militärische Neutralisierung des Regimentes Asow gilt für Moskau als eine der Hauptzielsetzungen der sogenannten Entnazifizierungskampagne in der Ukraine. Mit dieser Ankündigung übte Schojgu indirekt Kritik an der über eine Audiobotschaft auf Telegram erfolgten Zusicherung des Machthabers Tschetscheniens Ramsan Kadyrow, das Stahlwerk in Mariupol binnen Stunden einzunehmen.
Putins Platz im Zentrum der Macht bleibt unangetastet
Schojgus Kritik an Kadyrow ist ein weiterer Beleg für die permanenten Feindseligkeiten und Sticheleien innerhalb russischer Elitenkreise im Versuch, den eigenen hart umkämpften innerelitären Platz abzusichern. Verwunderlich ist eine Intensivierung innerelitärer Machtkämpfe in Russland vor dem Hintergrund des Krieges und des internationalen Sanktionsdrucks nicht, vielmehr ergänzen diese das vom Kreml zugelassene Meinungsspektrum um einzelne Elemente einer beinahe öffentlichen Diskussion und wirken auf diese Weise – geradezu kontraintuitiv – systemstabilisierend.
Denn einerseits wird dadurch das Aufkommen einer gemeinsamen Front gegen Wladimir Putins Politkurs erheblich erschwert, ja verunmöglicht, und andererseits wird durch die vom Kreml kontrollierte Ausdehnung des Meinungsspektrums auch der Entscheidungsspielraum für Putin erweitert.
Aus diesem Grund sollten die öffentlich ausgetragenen Elitenkonflikte keinesfalls als Zeichen für eine drohende Palastrevolte oder auch nur eine noch so leise Gefahrandrohung für das gegenwärtige Machtsystem gewertet werden. Denn ungeachtet der anfänglichen Schockstarre und der spürbaren Unruhe innerhalb der Eliten und der Bürokratie bleibt der Platz Wladimir Putins im Zentrum des verzweigten Spinnennetzes russischer Innenpolitik unbestritten.
Der letzte Anker am Rande des Tartaros
Die Führung der Russischen Föderation bildet eine heterogene Mischung aus unterschiedlichen, konkurrierenden Elitengruppen. In diesem System kommt Wladimir Putin die Rolle eines sehr einflussreichen Schiedsrichters und Moderators zu, dessen Wort im Konfliktfall entscheidend bleibt. In manchen Bereichen (insbesondere im Bereich der Außenpolitik) kommt dem Präsidenten der Russischen Föderation das Privileg des letzten Wortes zu. Die nicht selten im offenen Widerspruch zueinander stehenden Gruppeninteressen gefährden das ohnehin labile Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Elitengruppen. Aus diesem Grund hängt die Stabilität des gesamten politischen Systems in Russland vom Verhalten Putins ab.
Dennoch ist Putin – unabhängig von seinem Wunsch – nicht der alleinige Entscheidungsträger mit schier diktatorischen Vollmachten. Auch wenn die Sitzung des Sicherheitsrates der Russischen Föderation vom 21. Februar ein anderes Bild vermittelte, die darauffolgenden Misserfolge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ließen die Wahrscheinlichkeit einer personalistischen Diktatur in Russland auf ein Minimum sinken.
Wenngleich sich der politische Raum angesichts unzähliger Repressionen gegen das letzte Aufbäumen der Zivilgesellschaft und der freien Medien insbesondere nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine schnell in den Bereich des Diktatorischen zu verengen begann, bleibt das gegenwärtige russische System für eine personalistische Diktatur viel zu komplex.
Was aber ungleich wichtiger erscheint angesichts des verzweifelten Versuches des Kremls, innenpolitisch den Anschein der Normalität zu wahren: Eine personalistische Diktatur würde Russland endgültig destabilisieren. In diesem Zusammenhang bilden zu Recht vielfach gescholtene, jedweden nachhaltigen Ausgleich verhindernde Partikularinteressen und entgrenzte Bereicherungsobsessionen der unterschiedlichen russischen Elitengruppen den letzten Anker, der Russland vor dem freien Fall in den düsteren Tartaros der entarteten Diktatur zu bewahren vermag.
Kampf der Bulldoggen unter dem Teppich
Die jüngste Episode der grotesk-amüsanten innerelitären Machtspiele, die Winston Churchill einst mit Blick auf den undurchsichtigen machtpolitischen Reigen in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion mit einem „Kampf der Bulldoggen unter dem Teppich“ verglich, beendete der russische Präsident Wladimir Putin mit einem öffentlichkeitswirksamen Machtwort und zeigte damit eindrucksvoll, wem das Recht des letzten Wortes im gegenwärtigen Machtsystem Russlands nach wie vor zukommt.
Erstmals seit Beginn des Krieges trat Putin bei der im Staatsfernsehen übertragenen Besprechung mit dem Verteidigungsminister Sergej Schojgu als Oberbefehlshaber auf und gab öffentlichkeitswirksam einen direkten militärischen Befehl. Interessanterweise handelte es sich dabei nicht um einen Angriffsbefehl.
Den geplanten Sturm des Stahlwerkes „Asow-Stahl“ bezeichnete Putin als nicht sinnvoll. Um die „Leben der russischen Soldaten und Offiziere zu schonen“, gab der Präsident Russlands den Befehl, die Erstürmung abzusagen, stattdessen solle das Gebiet großräumig abgesperrt werden.
Weiter solle den ukrainischen Verteidigern erneut ein Angebot unterbreitet werden, die Waffen niederzulegen. Im Gegenzug würde die russische Seite ihr Leben, würdige Behandlung in Übereinstimmung mit völkerrechtlichen Vorgaben sowie eine qualifizierte medizinische Versorgung garantieren. Die sogenannte „Befreiung“ der beinahe zwei Monate belagerten und vollständig zerstörten Hafenstadt bezeichnete Putin als einen großen Erfolg und gratulierte dem Verteidigungsminister sowie den russischen Streitkräften. Die daran beteiligten russischen Truppen seien allesamt Helden und für Auszeichnungen vorzusehen, so Putin.
Putin der Gemäßigte?
Nicht nur der – angesichts militaristischer Rhetorik der vergangenen Wochen – ungewöhnliche Inhalt des Befehls von Putin, sondern auch der Zeitpunkt scheinen wesentlich zu sein.
Der Befehl erfolgte nur wenige Stunden, nachdem der Machthaber Tschetscheniens Ramsan Kadyrow den Sturm auf das Stahlwerk „Asow-Stahl“ auf seinem Telegram-Kanal angekündigt hatte. Damit distanzierte sich Putin deutlich von der „Partei des Krieges“ und inszenierte sich als gemäßigter, um das Leben russischer Soldaten und selbst um das Leben und die Gesundheit der Feinde besorgter verantwortungsvoller Politiker. Gleichzeitig gibt Putin Kadyrow zurückhaltend, aber klar zu verstehen, dass die regelmäßigen aggressiven Ankündigungen des tschetschenischen Diktators vom Kreml mittlerweile als Grenzüberschreitungen aufgefasst und aufmerksam beobachtet werden.
Selbstverständlich bedeuten die publikumswirksam inszenierten Worte Putins keinesfalls einen kardinalen Politikwechsel des Kremls. Bedeutungslos ist die ausdrückliche Veränderung in der öffentlichen Rhetorik des russischen Präsidenten dennoch nicht.
Offenbar ist die russische Präsidialverwaltung – eine die zentrale Amtsausübung des Präsidenten der Russischen Föderation koordinierende Behörde, nach Ansicht der Experten eine Art Schattenkabinett des Präsidenten und das eigentliche Hauptquartier der Machtsystems – nach Durchführung entsprechender Umfragen zum Ergebnis gelangt, dass das öffentliche Bild „Putin, der gemäßigte Kriegsherr“ in der Bevölkerung aktuell besser ankommt als das Bild „Putin, der blutrünstige Kriegsfalke“. Diese jüngste Inszenierung dient somit der Popularitätssteigerung Putins und deutet darauf hin, dass nach Informationen der Präsidialverwaltung die Stimmung in der Bevölkerung langsam in Richtung Kriegsmüdigkeit auszuschlagen beginnt.
Das sind die ersten hoffnungsvollen Nachrichten seit Wochen. Überbewertet sollten sie gleichwohl nicht werden. Denn eine Inszenierung des Präsidenten der Russischen Föderation als „Putin, der Friedensstifter“ scheint nach wie vor in weiter Ferne zu liegen. Auch ein Sturm des Stahlwerkes „Asow-Stahl“ ist nach einer Umgruppierung sehr wohl möglich, wenn auch nur wenig wahrscheinlich, scheint doch aus der Sicht des Kremls ein Aushungern der Eingeschlossenen zielführender zu sein.



