Ukraine-Krieg

Vertreibung und Massengräber: Begeht Russland in der Ukraine einen Völkermord?

Warum es schwer ist, die Kriegsverbrechen in der Ukraine juristisch zu kategorisieren.

Butscha am 18. April 2022: Nadia (rechts) bei der Beerdigung dreier Menschen, einer davon ist ihr Ehemann.
Butscha am 18. April 2022: Nadia (rechts) bei der Beerdigung dreier Menschen, einer davon ist ihr Ehemann.AFP

Berlin-Es ist zur Zeit sehr viel von Völkermord die Rede. Selbst der amerikanische Präsident hat Russland Völkermord vorgeworfen, nachdem bereits der ukrainische Präsident Selenskyj diesen Vorwurf erhoben hat und mehr und mehr Medien auf diesen Zug aufgesprungen sind. Für die Öffentlichkeit ist Völkermord zum schlimmsten aller Verbrechen geworden, und wo immer ein Massaker besonders viele Opfer fordert oder als besonders grausam empfunden wird, taucht dieser Vorwurf auf.

Dabei gibt es viele Kriegsverbrechen, denen mehr Menschen zum Opfer gefallen sind als manchen sogenannten Völkermorden. So sind in Syrien bisher viel mehr Menschen durch Kriegsverbrechen ums Leben gekommen als in Srebrenica durch Völkermord. In den hochemotionalen öffentlichen Debatten um Massengräber, angeblich in der Ukraine gesichtete fahrende Krematorien und Raketenangriffe auf Wohnblocks wird aber etwas anderes vergessen: Die juristische Definition von Völkermord erfordert gar keine hohen Opferzahlen. Genau betrachtet erfordert sie nicht einmal ein einzelnes Todesopfer.

Was bedeutet der Begriff „Völkermord“?

Entscheidend ist die Absicht der Täter: Wenn sie „gewöhnliche Verbrechen“ wie Folter, schwere Körperverletzung oder Deportation begehen und dabei die Absicht verfolgen, eine bestimmte Gruppe ganz oder teilweise auszurotten, dann machen sie sich auch dann des Völkermords schuldig, wenn sie ihr Ziel gar nicht erreichen und kein einziges Mitglied dieser Gruppe zu Tode kommt. Was aber verbirgt sich juristisch hinter diesem Vernichtungswillen? Zum einen heißt das, dass sich eines Völkermords bereits derjenige strafbar macht, der nur einen Teil der Gruppe töten will, wobei dieser Teil besonders wichtig und für den Erhalt der gesamten Gruppe unabdingbar sein muss. Im Fall Srebrenica befand das Internationale Jugoslawientribunal, dass bereits die Absicht, die Männer in einer so patriarchalischen Gesellschaft wie in Bosnien auszurotten, genügt.

Zum anderen bedeutet „die Gruppe vernichten zu wollen“ keineswegs, alle ihre Mitglieder umbringen zu wollen. Es genügt, wenn es die Absicht der Täter ist, die Gruppe als solche zu vernichten, das heißt, dafür zu sorgen, dass diese Gruppe nicht mehr fähig ist, kollektive Entscheidungen zu treffen und als Gruppe zu überleben. Das war eine häufige Strategie europäischer Kolonialmächte in Afrika: Man ermordete oder deportierte die Anführer eines Volkes oder Stammes mit ihren Familien und reduzierte die entsprechende Gruppe dann zu einer Ansammlung von Individuen ohne eigene Hierarchie, die irgendwann in einer größeren Gruppe aufgingen oder von den Kolonialherren assimiliert wurden.

Eine Frau liest aus dem Koran auf einem Friedhof in der Nähe von Srebrenica.
Eine Frau liest aus dem Koran auf einem Friedhof in der Nähe von Srebrenica.AP

Wenn ein Politiker heute mit einer solchen Absicht die Führung einer anderen Gruppe auch nur deportiert, ist das selbst dann Völkermord, wenn alle Mitglieder dieser Führungselite die Deportation überleben. Ganz nüchtern formuliert: Für die Frage, ob Russland in der Ukraine Völkermord begeht, sind deshalb Angriffe auf die ukrainische Regierung, Versuche zur Ermordung von Präsident Selenskyi und Raketenangriffe auf Verwaltungsgebäude wichtiger als die Zahl der zivilen Opfer, die bei Geiselerschießungen, der Zerstörung von Wohnblocks und wahllosen Angriffen auf Zivilisten ums Leben gekommen sind.

Das Problem mit dem Völkermord-Vorwurf

Was bisher in den Berichten von Amnesty International, Human Rights Watch und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu Tage gekommen ist, sind in erster Linie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Erstere sind – grob gesagt – Verstöße gegen die Den Haager Landkriegskonventionen, oft auch Genfer Konvention genannt.

Sie verlangt, Kämpfer, die sich ergeben, zu schonen, Kriegsgefangene menschlich zu behandeln, und verbietet militärisch unnötige Grausamkeiten gegen Zivilisten. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ sind bestimmte gewöhnliche Verbrechen, die während eines „ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung“ verübt werden, vorausgesetzt der Täter hatte von diesem Angriff Kenntnis. Wer beispielsweise hochpräzise Marschflugkörper so programmiert, dass sie in einem Wohnblock außerhalb eines umkämpften Gebiets explodieren, kann sich nicht damit herausreden, er habe versehentlich ein militärisches Ziel verfehlt.

Satellitenbild: Mutmaßliches Massengrab nahe Mariupol.
Satellitenbild: Mutmaßliches Massengrab nahe Mariupol.Satellite image, Copyright: 2022 Maxar Technologies/dpa

Verübt Russland einen Völkermord? Völkerrechtler sind vorsichtig

All das ist in der Ukraine geschehen, macht diese Verbrechen aber noch nicht zu Elementen eines Völkermords. Nun sind in letzter Zeit allerdings Texte aufgetaucht, die darauf hindeuten, dass das Ziel der russischen Führung nicht nur darin besteht, die Ukraine zu erobern oder Teile zu annektieren, sondern die Ukrainer als nationale Gruppe so zu beseitigen, dass man ihre Kultur und ihre staatliche Organisation abschafft und sie russifiziert. Damit würden aus Ukrainern dann Russen, die bisherige Führung würde durch eine russische oder von Russland gelenkte Führung ersetzt und die Ukrainer würden aufhören, als organisierte nationale Gruppe im Sinne des Römischen Statuts zu funktionieren. Historiker wie Timothy Snyder und Timothy Garton Ash haben auf diesen Zusammenhang hingewiesen.

Ein Bild aus Borodyanka, der Ukraine.
Ein Bild aus Borodyanka, der Ukraine.imago

Völkerrechtler sind da zu Recht vorsichtiger. Die von der staatlichen Agentur RIA Novosti und vom Vorsitzenden des russischen Sicherheitsrats Dmitrij Medvedjev verfassten Texte enthalten klare Hinweise auf deren genozidale Absichten im Sinne des Römischen Statuts. Man könnte sie wahrscheinlich auch als Beweismaterial vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag, wo die Ukraine Russland bereits verklagt hat, verwenden. Doch der Internationale Strafgerichtshof beschäftigt sich nicht mit der Verantwortung von Staaten, sondern von Einzelpersonen. Und für ihn ist deshalb wichtig, ob RIA und Medwedjew eine Möglichkeit haben, ihre Absichten auch umzusetzen, ob sie, juristisch ausgedrückt, über die in der Ukraine verübten Verbrechen Kontrolle ausüben.

Konkret bedeutet das den Beweis, dass sie diese Verbrechen nicht verhindert haben, obwohl sie die Macht dazu hatten, oder dass sie – wenn sie davon erst danach erfuhren – es versäumt haben, die Täter hinterher dafür zu bestrafen. Nun ist RIA eine Nachrichtenagentur, die keine Befehlsgewalt über Soldaten hat und Medwedjew ist Vorsitzender des russischen Sicherheitsrats, der den Präsidenten nur berät. Beide können weder Soldaten in den Arm fallen noch sie bestrafen. Wie es bisher aussieht, gibt es somit zwar Beweise für genozidale Absichten, aber nur von Personen, die dieses Verbrechen nicht verüben können, während es von denen, die es verüben können (Armeeführer, Soldaten und Putin als Oberbefehlshaber der Armee) keine Hinweise auf Völkermordabsichten gibt.

Der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew.
Der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew.Peer Grimm/dpa-Zentralbild/dpa

Kriegsverbrechen sind unbestreitbar

Trotzdem kann man sie natürlich – mitsamt ihren Untergebenen bis hinunter auf die Ebene eines Gefreiten im Feld – wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgen. Dazu ist es nicht notwendig, dass sie solche Verbrechen befohlen haben – nach der Rechtsprechung des Jugoslawientribunals genügt es, wenn sie Grund hatten anzunehmen, dass ihre Einheiten solche Verbrechen begehen würden, zum Beispiel, weil sie bereits vorher Kriegsverbrechen begangen haben oder sich besonders disziplinlos verhalten hatten. Das ist zumindest bei den tschetschenischen Einheiten, deren Oberbefehlshaber sich mehrfach seiner Verbrechen rühmte, zweifellos der Fall.

Auch die Ernennung eines Generals, der bereits in Syrien Kriegsverbrechen begangen hat, zum Befehlshaber über russische Truppen in der Ukraine fällt darunter.

Genauso wenig können sich die einfachen Soldaten damit herausreden, sie hätten Befehl gehabt, Gefangene zu foltern und zu ermorden oder es sei von ihnen erwartet worden, Zivilisten nicht zu schonen. Nur wenn sie nachweisen können, dass ihnen bei einer Weigerung eine direkte und sofortige Gefahr für Leib und Leben drohte, können sie das als mildernde Umstände oder sogar als Unschuldsbeweis anführen. Mildernde Umstände gelten allerdings nur für Angeklagte, die ihre Schuld auch zugeben.

Natalia Maznychenko, die ihren Ehemann in Butcha begräbt.
Natalia Maznychenko, die ihren Ehemann in Butcha begräbt.imago

Und dann kommt die Politik ins Spiel

Die Probleme mit der Strafverfolgung russischer Verbrechen in der Ukraine sind gar nicht so sehr juristischer, sondern politischer und bürokratischer Art. Zum einen benötigt man dafür Angeklagte. Die kann man vor dem Internationalen Strafgerichtshof, aber auch vor nationalen Gerichten verfolgen. Weder vor dem ICC, noch vor deutschen Gerichten kann man sie in Abwesenheit verurteilen.

Der ICC beschäftigt sich aber nur mit besonders wichtigen Tätern und besonders schlimmen Taten. Ein Zug Soldaten, der betrunken wild um sich geschossen hat, gehört nicht dazu. Der könnte dagegen vor einem deutschen Gericht bestraft werden. Länder wie Deutschland, Belgien, Frankreich und die USA haben bereits eine Menge Erfahrung mit solchen Verfahren, die man im Juristendeutsch „universelle Gerichtsbarkeit“ nennt: Jedes Land kann auch dann Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord verfolgen, wenn Täter, Tat, Tatort und Opfer nichts mit ihm zu tun haben Deshalb standen auch schon Angeklagte aus der Demokratischen Republik Kongo und aus Syrien vor deutschen Gerichten, weniger bekannte Täter des Völkermords in Ruanda mussten sich vor belgischen, französischen und kanadischen Gerichten verantworten.

Es kann also durchaus sein, dass in den nächsten Monaten oder Jahren nach Deutschland geflüchtete Ukrainer einen ihrer Peiniger auf der Straße erkennen, anzeigen und dann in Deutschland ein Kriegsverbrecherprozess gegen einen russischen Offizier stattfindet. Weniger wahrscheinlich ist dagegen, dass das Gleiche mit einem „großen Fisch“, einem Mitglied der russischen Führung oder mit Putin selbst geschieht. Zum einen genießen solche Personen Immunität als Diplomaten oder als Regierungsmitglieder. Das ist im Prinzip kein Problem bei einer Auslieferung an den ICC, denn das Römische Statut verpflichtet die Unterzeichnerstaaten dazu, ohne Rücksicht auf Immunität auszuliefern.

Ein Kriegsverbrecher? Wladimir Putin.
Ein Kriegsverbrecher? Wladimir Putin.AFP

Slobodan Milosevic wurde nie verurteilt

Allerdings steht jedes Land, das das versucht, dann vor dem Problem Südafrikas, dessen Regierung vor sechs Jahren dem vom ICC per Haftbefehl wegen Völkermords gesuchten sudanesischen Präsidenten Omar Hassan Al-Bashir eilig die Flucht aus dem Land ermöglichte, nachdem ein südafrikanisches Gericht seine Auslieferung nach Den Haag angeordnet hatte. Al-Bashir besuchte damals unbehelligt viele Länder, die ihn hätten ausliefern müssen, wurde aber nicht behelligt, weil die Regierungen um das Wohlergehen ihrer Bürger fürchteten, die im Sudan als Blauhelme oder bei Hilfsorganisationen arbeiteten.

Anwälte der Regierung in Pretoria verteidigten die Nacht-und-Nebel-Aktion später mit dem Argument, das Römische Statut sei für Südafrika genauso bindendes internationales Recht wie die Wiener Konvention, nach der Staatsoberhäupter Immunität genießen. Selbst wenn sich jedoch ein Staat findet, der Putin trotz Immunität an den ICC ausliefert, so ist es mehr als fraglich, ob der ICC auch imstande ist, ihn zur Verantwortung zu ziehen.

Das einzige amtierende Staatsoberhaupt, dem es bisher so ergangen ist, war Slobodan Milosevic. Doch er wurde nie verurteilt, nach einem sechs Jahre langen Prozess starb er, bevor ein Urteil erging und nachdem er mit Verfahrenstricks den Prozess verschleppt und über seine Unterstützer in Serbien Zeugen eingeschüchtert hatte. Internationale Strafgerichte haben in der Regel nur dann eine Chance, einen Prozess erfolgreich zu Ende zu führen, wenn ihnen kein Staatsapparat entgegentritt, der den Prozess sabotiert.

Wenn Staaten die internationale Gerichtsbarkeit sabotieren

Der ICC hat bisher nur Angeklagte verurteilt, die in ihrem Heimatland bewaffnete Rebellengruppen befehligt und die entsprechende Regierung gegen sich hatten. Regierungsvertreter kamen in der Regel ungeschoren davon.

Das war in Bosnien anders, aber dort hatten westliche Staaten Truppen stationiert, die Verhaftungen durchführen, Beweise sichern und Zeugen schützen konnten.

Im Fall Kenias führte eine ICC-Anklage gegen die Anführer verfeindeter Parteien, deren Anhänger sich gegenseitig massakriert hatten, sogar zu einem Schulterschluss und einem Bündnis der beiden. Die Verfahren mussten eingestellt werden, weil der Anklage nacheinander die wichtigsten Zeugen der Anklage abhandenkamen: Sie verschwanden, wurden eingeschüchtert oder ermordet. Das Gleiche geschah mit Angeklagten der Kosovarischen Befreiungsarmee UCK, die vor dem Jugoslawientribunal wegen Kriegsverbrechen an serbischen Zivilisten angeklagt waren. Nur Hashim Thaçi, einst Anführer der UCK, konnte vor einem UN-Sondergericht verurteilt werden, nachdem er nach der Anklageerhebung zurückgetreten war.

Doch Russland ist nicht Kosovo, es gibt keine internationalen Truppen in Russland, die Beweise sichern, Verdächtige festnehmen, Zeugen schützen könnten. Die Vorstellung, die russischen Behörden könnten dies für den ICC tun, ist nur dann realistisch, wenn man davon ausgeht, dass es in Russland zu einem Umsturz kommt und die neue Regierung umgehend die westlichen Forderungen erfüllt und Putin an den ICC ausliefert. Nichts spricht im Moment für ein solches Szenario. Und selbst wenn es eines Tages geschieht und Putin und seine Führungsclique noch am Leben sind, ist es wahrscheinlicher, dass sich ein anderes Szenario wiederholt: Aus Furcht vor dem Zorn seiner Anhänger und der Macht derjenigen im russischen Geheimdienst und der Armee, die auch nach seinem Sturz noch zu Putin halten, wird sich auch jede neue Regierung weigern, Putin auszuliefern.

Regierungen müssen mit Rache alter Seilschaften rechnen

Das Schicksal des serbischen Premierministers Zoran Djindjić zeigt das. Er ließ sich auf einen Handel mit dem Jugoslawientribunal ein und wurde von einer Gruppe Kriegsverbrecher, die ihre eigene Auslieferung fürchtete, erschossen. Das zeigt, wie riskant eine Zusammenarbeit mit der internationalen Justiz selbst für eine demokratische russische Regierung wäre. Auch sie müsste mit der Rache der alten Seilschaften rechnen. Al-Bashir wurde schon vor Jahren gestürzt, doch ihn an den ICC auszuliefern, hat bisher noch keine sudanesische Regierung gewagt.

Es hat allerdings auch Fälle gegeben, in denen gestürzte Anführer sofort an internationale Straftribunale ausgeliefert wurden, weil die neuen Machthaber sie schnell loswerden wollten und ihrer eigenen Justiz ein so schwieriges Verfahren nicht zutrauten. So kam Milosevic nach Den Haag, deshalb lieferte die Regierung Djindjić Beweise gegen ihn. Geholfen hat es allerdings nichts.

Frieden oder Gerechtigkeit?

Der Ruf nach internationaler Strafjustiz ist angesichts von Massengräbern und Bombenterror gegen Zivilisten verständlich, aber politisch riskant. Oft nämlich sind Waffenstillstandsverhandlungen, Friedensverhandlungen und Demokratisierungsprozesse nur deshalb erfolgreich, weil sie Amnestieregelungen enthalten, die es den Verbrechern in den Kommandozentralen erträglicher machen, ihre Macht abzugeben. Ohne glaubwürdige Sicherheitsgarantien für sich und ihre Familien sind sie geneigt, bis zum bitteren Ende zu kämpfen, was den Konflikt nur verlängert und damit die Zahl der zivilen Opfer und Zerstörungen in die Höhe treibt.

Davon mussten sich die westlichen Alliierten zuletzt in Libyen überzeugen. Muhammar Al-Ghadafi war sich klar darüber, dass er in allen Ländern, in die er sich hätte zurückziehen können, mit Strafverfolgung oder Auslieferung an den ICC rechnen musste, kämpfte bis zu seinem bitteren Ende und ruinierte dabei sein Land. Der ICC, der nach der russischen Invasion Georgiens acht Jahre brauchte, bis er ein Ermittlungsverfahren eröffnete, entscheidet nun bereits nach zwei Monaten über ein Ermittlungsverfahren wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine, obwohl der Krieg noch andauert. Ist ein solches Ermittlungsverfahren erst einmal eröffnet, kann es nur noch der UN-Sicherheitsrat für maximal ein Jahr aussetzen.

Sollten also irgendwann in der fernen Zukunft Mitglieder der russischen Führung Straffreiheit verlangen als Gegenleistung für einen Waffenstillstand, Friedensschluss, die Freilassung von Geiseln oder Kriegsgefangenen, dann sind der Staatengemeinschaft die Hände gebunden. Amnestien erkennt der ICC nicht an. Viele Experten haben schon bisher befürchtet, der Bürgerkrieg in Kolumbien und der Kampf gegen die Apartheid in Südafrika, die beide mit Amnestien endeten, hätten viel länger gedauert und viel mehr Opfer gefordert, hätte der ICC sich da eingemischt. Mit anderen Worten: Dass jetzt der ICC, aber auch nationale Staatsanwaltschaften in Polen und Deutschland, dass Experten der EU und der UNO in der Ukraine ermitteln, wird den Verhandlungsspielraum künftiger Unterhändler einengen und den Krieg wahrscheinlich verlängern. Das ist das Dilemma solcher Situationen: Wer mehr Gerechtigkeit will, bekommt unter Umständen mehr Opfer und mehr Zerstörung.

Klaus Bachmann ist Professor für Sozialwissenschaften an der Warschauer SWPS Universität.