Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat Gegenkräfte geweckt, von denen die Moskauer Inspiratoren dieses bonapartistisch anmutenden Abenteuers wohl nur verschwommene Vorstellungen hatten. Russische Strategen, die noch im Februar von einem „Blitzkrieg“ träumten, schicken ihre Soldaten jetzt in einen Stellungskrieg. Denn der Kampf gegen eine von Nato-Ländern mit mehr und mehr Artillerie und Panzern ausgerüstete ukrainische Streitmacht sei schwieriger geworden, räumen jüngst auch Moskauer Hardliner ein.
Den Umfang der westlichen Waffenhilfe für ihre ukrainischen Gegner gehört zu den vielen Auswirkungen ihres Krieges, die Moskaus Militärs offenkundig nicht in ihre Planungen einbezogen hatten. Die wenigen sicherheitspolitischen Analytiker, die vor dem Krieg in der Art vorsichtiger Fürstenaufklärer russischen Militärs die westliche Perzeption des Moskauer Agierens näherzubringen versuchten, haben offenkundig nicht viel erreicht.
Zielsetzung: Russland aus der gesamten Ukraine drängen?
Zugleich stellt sich die Frage, mit welcher Perspektive und welchem Ziel die westliche Waffenhilfe für die angegriffene Ukraine erfolgt. Bundeskanzler Olaf Scholz sagte zwar, Russland dürfe den Krieg nicht gewinnen. Der Kanzler, der seine Worte bewusst wählt, sprach jedoch nicht davon, dass die Ukraine siegen müsse.
Gewichtige Nato-Verbündete aber reden anders. Die britische Außenministerin Liz Truss nannte in einer Rede in London am 27. April die britischen Ziele im Ukraine-Krieg. „Der Krieg in der Ukraine ist unser Krieg“, sagte sie. Der „ukrainische Sieg“, so Truss, sei „ein strategischer Imperativ für uns“. Und sie kündigte an: „Wir werden eins draufsetzen. Wir werden weiter und schneller vorgehen und Russland aus der gesamten Ukraine vertreiben.“
Die gesamte Ukraine – das heißt im Selbstverständnis der ukrainischen und der westlichen Politik auch die von Russland Ende Februar einseitig als Staaten anerkannten „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk. Diese Gebiete werden bereits seit acht Jahren nicht mehr von der Regierung in Kiew kontrolliert. Die „gesamte Ukraine“ bedeutet im britischen Verständnis, dass dazu auch die Schwarzmeer-Halbinsel Krim gehört, seit 18. März 2018 nach einer Militärintervention und einem völkerrechtlich umstrittenen Referendum nach russischer Auffassung ein Teil Russlands.
Dass die militärische Führung der Ukraine die von Nato-Ländern gelieferten Waffen auch zur Einnahme der Krim nutzen will, hatte der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Generalmajor Kyrylo Budanow, noch Mitte April in einem Spiegel-Interview bekannt gemacht. Budanow zeigte dem Moskauer Korrespondenten des Magazins eine Landkarte und sagte: „Wir brauchen schwere Waffen, um die besetzten Gebiete zu befreien – alles, was auf dieser Karte hier rot gefärbt ist“. Der Korrespondent fragte nach: „Heißt das, sie wollen diese Waffen auch, um die Krim zurückzuholen?“ Darauf antwortete der ukrainische Militärgeheimdienst-Chef: „Natürlich“.

Deutsche Waffen – aber wofür genau?
Die politische Führung Großbritanniens weiß der ukrainische Generalmajor dabei auf seiner Seite. Eine ähnliche Position wie die britische Außenministerin vertritt der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin. Der sagte bei einem Besuch in Kiew Ende April:
„Wir wollen Russland so geschwächt sehen, dass es solche Dinge wie bei der Invasion der Ukraine nicht mehr tun kann.“
Eine logische Fortsetzung dieses US-amerikanischen Ansatzes lieferte der Sekretär des nationalen Sicherheitsrates der Ukraine Oleksej Danilow am 3. Mai: „Mit Russland können wir nur eine Kapitulation unterzeichnen.“ Ähnlich maßlos hatten sich zuvor russische Propagandisten im Moskauer Staatsfernsehen über die Ukraine geäußert.
Aber wie stehen die Deutschen zu den Wunschbildern von einem Endsieg Kiews über Moskau? Was die vom ukrainischen Generalmajor Budanow angekündigte Schlacht um die Krim angeht, können die Deutschen auf eigene Erfahrungen zurückblicken. 1942 eroberte die Wehrmacht die damals zur Russischen Föderation innerhalb der Sowjetunion gehörende Halbinsel. Die Hafenstadt Sewastopol wurde dabei weitgehend zerstört. Die Nazis errichteten auf der Krim mithilfe von Kollaborateuren ein Terrorregime gegen die russische Bevölkerung. Im April und Anfang Mai 1944 eroberte die Rote Armee die Krim zurück. Die deutsche Wehrmacht verlor dabei 100.000 Mann.
In diesem Fall wäre ein nuklearer Krieg näher
Vor diesem Hintergrund hat die Idee, deutsche Waffen für eine Schlacht um Sewastopol zu liefern, mehr als nur einen bitteren Beigeschmack. Hinzu kommen unkalkulierbare Risiken. In Sewastopol auf der Krim befindet sich der Stab der russischen Schwarzmeerflotte, der mit 25.000 Soldaten und zahlreichen Kriegsschiffen, Kampfbooten und U-Booten ein strategisches Kernstück der Marine bildet. Von dort aus kontrolliert Russland das Schwarze Meer und versorgt seine Truppen in Syrien.
Wird die russische Flottenbasis auf der Krim im Zuge des Krieges angegriffen, gilt die Militärdoktrin der Russischen Föderation, die von Putin am 25. Dezember 2014 bestätigt wurde. Darin heißt es in Punkt 27, Russland habe „das Recht auf Anwendung der Nuklearwaffe“ bei einem Angriff mit Atomwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen. Das gelte ebenso für „eine Aggression gegen die Russische Föderation mit konventionellen Waffen, wenn die Existenz des Staats bedroht wird“. Ob dies bei einem Angriff auf die Krim der Fall wäre, bleibt offen. In jedem Fall brächte ein ukrainischer Gegenangriff auf die Halbinsel Krim mithilfe westlicher Waffen die Welt einem nuklearen Krieg bedrohlich näher.

Warum Putin mit einer allgemeinen Mobilmachung zögert
Doch der Wunsch nach einem Sieg westlicher Waffen ist nicht auf britische Minister beschränkt. Der Westen solle „alles tun, um der ukrainischen Armee zu einem Sieg über die russischen Invasoren zu verhelfen“, schrieb unter anderem Stephan Bierling, Professor für internationale Politik an der Universität Regensburg, in einem Beitrag in der FAZ am 25. April. Denn, so Bierling, eine „militärische Niederlage Moskaus wäre das Ende von Putins Herrschaft und seiner imperialen Phantasien“.
Solche Sieges-Fantasien lassen eine historische Erfahrung außer Acht. Dass Kriege mit der totalen Niederlage enden, wie Deutschlands Krieg 1939 bis 1945, ist eine seltene Ausnahme. Meist finden Kriege durch Kompromisse ein Ende. Zudem steht der Wunsch nach einem ukrainischen Sieg im Gegensatz zu einer nüchternen Einschätzung der Kräfteverhältnisse. Zwar ist Russlands „Blitzkrieg“, angezettelt in der Hoffnung, man könne ihn in wenigen Wochen gewinnen, gescheitert. Die versuchte Einschließung Kiews endete mit einem Rückzug, der einer Niederlage gleichkommt. Im Donbass verlor die russische Armee das Überraschungsmoment, das ihre anfänglichen Erfolge beim Vormarsch nördlich der Krim begünstigte. Aus dem Vormarsch ist Stellungs- und Abnutzungskrieg geworden.

Doch das bedeutet nicht, dass die russische Führung ihr Mobilisierungspotenzial bereits erschöpft hat. Weder hat Moskau bisher Freiwillige zu den Fahnen gerufen noch Reservisten einberufen noch ist die Industrie auf die Priorität von Kriegsproduktion umgestellt. Zwar hat sich der Kreml-Chef Putin der Welt seit dem 24. Februar als Hasardeur gezeigt. Doch so sehr sein Vorgehen auf den ersten Blick wohl napoleonische Züge hat, zögert er jedoch, was eine Mobilisierung angeht. Doch Moskauer Hardliner bringen dieses Thema auch in Debatten des Staatsfernsehens bereits ins Gespräch.
Immer noch ist im russischen Oberbefehlshaber der langjährige Zögerer zu erkennen, ein „rational kalkulierender Machtmensch“, wie ihn Jürgen Habermas in seinem Essay „Krieg und Empörung“ in der Süddeutschen Zeitung am 29. April nannte. Das Zögern des Zaren zeigt sich derzeit vor allem darin, dass er den Appell an das Volk zur Mobilisierung bisher vermieden hat.
Stalin könnte Putin immer noch helfen
Fortgesetzte Luftangriffe und Artillerieschläge der Ukraine auf russisches Gebiet wie zum Beispiel auf die Grenzregion Belgorod mithilfe von westlichen Waffen könnten dies ändern. Kämen dabei russische Zivilisten ums Leben, könnte Putin angesichts der vorherrschenden Stimmung im Land versuchen, das Land des Angreifers als den Angegriffenen darzustellen. Dann könnte er jene gewaltige Energiequelle aus der russischen Geschichte anzapfen, derer Stalin sich rund zwei Wochen nach Beginn des deutschen Überfalls 1941 bediente. Der frühere Seminarschüler Stalin rief am 3. Juli 1941 in Rückgriff russisch-orthodoxer Sprachmuster die „Brüder und Schwestern“ zum „vaterländischen Befreiungskrieg“ auf, gegen die „Zerstörung der nationalen Kultur“. Es ginge, so Stalin damals, „um Leben und Tod der Völker der Sowjetunion“. Und er erinnerte an das Schicksal Napoleons, der „als unbesiegbar galt, aber besiegt wurde“.

Damit gelang es Stalin, Millionen von Russen zu mobilisieren, die bis dahin seinem Regime innerlich fremd gegenübergestanden hatten, einem Regime, das ungleich härter war als das gegenwärtige in Russland. Die Beliebtheit Stalins bei vielen einfachen russischen Bürgern ist in den letzten Jahren, durch Umfragen belegt, gewachsen, vor allem weil sein Name für den Sieg steht.
Das deutet darauf hin, dass die Enkel derer, die damals Stalins Rede im Rundfunk hörten, im Ernstfall für massiv vorgetragene Mobilisierungsbotschaften immer noch ansprechbar sind. Für liberale Mitteleuropäer in postheroischen Gesellschaften mag das fremdartig anmuten. Aber eine weitsichtige Analyse des Kriegsgeschehens müsste die Möglichkeit einer solchen Eskalation mit einbeziehen.
Schon seit den Sanktionen nach der russischen Intervention auf der Krim 2014 breitet sich zwischen St. Petersburg und Wladiwostok die Stimmung einer belagerten Festung aus. Wer seit dem 24. Februar mit Bürgern in Russland sprach, konnte feststellen, dass diese Belagerungs-Atmosphäre seither stärker geworden ist. Da staatsferne Medien im Zuge des Krieges ausgeschaltet wurden, gelingt es dem Regime unwidersprochen, die Waffenlieferungen aus dem Westen an die Ukraine als einen groß angelegten Angriff der Nato-Länder auf Russland darzustellen. In keinem Moment seit dem Untergang der Sowjetunion sind die Worte westlicher Politiker bei so vielen Russen auf so taube Ohren gestoßen wie heute.
Eine Quelle der Eskalation
Darin liegt eine potenzielle Dynamik zur Mobilisierung und Eskalation durch die Moskauer Staatsmacht, gegen die weder der Westen noch der eloquente russischsprachige Präsident der Ukraine einen wirksamen Hebel haben. Dabei spielt in der russischen Sicht auch ein Aspekt eine Rolle, der in westlicher Wahrnehmung übersehen wird. Ein großer Teil der Länder, die jetzt der Ukraine Waffen zum Kampf gegen die russische Armee liefern, stellte ab 1941 Soldaten beim Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion, von Rumänien und der Slowakei über Frankreich bis nach Spanien. Und so unterschiedlich die Konstellationen damals und heute waren – die Erinnerung daran ist auf der russischen Seite eine Quelle der Eskalation.




