Interview

Timothy Snyder: Die Deutschen schließen die Augen vor dem russischen Faschismus

Der US-Historiker im Interview: Snyder sagt, die Deutschen hätten aus der Vergangenheit nicht gelernt. Siehe Ostpolitik, Atomausstieg, Gerhard Schröder.

Timothy Snyder während eines Gesprächs.
Timothy Snyder während eines Gesprächs.imago/Alex Halada

Timothy Snyder zählt zu den renommiertesten Osteuropa-Historikern und Holocaust-Forschern der Welt. Der Professor an der Yale University hat zahlreiche Bücher veröffentlicht. Sein bisher wichtigstes Buch beschäftigt sich mit den Gebieten der Ukraine, Ostpolens, des Baltikums, von Belarus und dem Westen Russlands. In diesen „Bloodlands“, wie der Titel des Buches lautet, wurden Millionen Menschen von Deutschen, Sowjets und ihren Helfern ermordet. Seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten 2016 äußert sich Snyder auch immer wieder politisch und warnt vor den Gefahren des Faschismus für demokratische Gesellschaften. Immer wieder wies er dabei auch auf den Charakter des russischen Regimes hin. Am 20. April schrieb er einen Tweet, in dem er die deutsche Haltung zum russischen Krieg in der Ukraine kritisierte. Mit uns sprach er nun über diesen Tweet und die Vergangenheitsbewältigung Deutschlands seit 1945.

Herr Snyder, in einem Tweet vom 20. April schrieben Sie: „Dreißig Jahre lang haben die Deutschen den Ukrainern Vorträge über den Faschismus gehalten. Als der Faschismus dann tatsächlich kam, finanzierten die Deutschen ihn, und die Ukrainer starben im Kampf gegen ihn.“ Was bringt Sie zu diesem harten Urteil über die Ukraine-Politik Deutschlands?

In der deutschen Öffentlichkeit hat man es versäumt, den russischen Faschismus zu konzeptualisieren. Es gab eine Art magisches Denken in dieser Hinsicht. Solange die Deutschen Beziehungen zu den Russen hatten, war es irgendwie unvorstellbar, dass das russische Regime faschistisch war. Denken Sie zurück an 2014, als Russland das letzte Mal in die Ukraine einmarschierte. Der russische Faschismus war überall präsent. Russische Faschisten erhielten Zugang zu den prominentesten Sendungen in den russischen Medien. Die offizielle russische Staatsposition war, dass der ukrainische Staat zerstört werden musste, weil die Rechte der russischen „Volksgenossen“ verletzt wurden. Russland war zu diesem Zeitpunkt bereits das Zentrum einer internationalen rechtsextremen Bewegung. Es gab einige hervorragende deutsche Journalisten, die über diese Themen berichtet haben, und ich habe selbst einiges von ihnen darüber erfahren. Aber in der deutschen öffentlichen Debatte ging es in erheblichem Maße darum, das Opfer zu kritisieren: Irgendwie war immer die ukrainische extreme Rechte das Problem. Und das war der Hauptfokus, obwohl die ukrainische Rechte nicht nur im Vergleich zur russischen extremen Rechten, die sogar den russischen Staat regiert, und sogar im Vergleich zur deutschen extremen Rechten, von geringer Bedeutung war. Nur wenig in der deutschen öffentlichen Diskussion hat die Deutschen damals auf die Möglichkeit vorbereitet, dass ein ukrainischer Jude mit 73 Prozent der Stimmen zum Präsidenten der Ukraine gewählt werden würde.

Das widerspricht in der Tat dem Narrativ, dass die Ukraine einer Entnazifizierung bedarf. Um einmal auf den finanziellen Aspekt zu sprechen zu kommen: Nun scheint sich Deutschland nach langer Diskussion doch entschieden zu haben, russisches Gas und Öl schnellstmöglich mit einem Embargo zu belegen. Sie scheinen aber dennoch mit Deutschland zu hadern?

Timothy Snyder zählt zu den führenden Osteuropa-Historikern dieser Zeit.
Timothy Snyder zählt zu den führenden Osteuropa-Historikern dieser Zeit.imago/Alex Halada

Um erst einmal den Begriff „Entnazifierung“ klarzustellen: „Entnazifierung“ bedeutet für Putin „Entukrainiserung“, in anderen Worten Genozid. Hier sind die russischen offiziellen Quellen ganz eindeutig. Als ich von der Finanzierung des Faschismus schrieb, dachte ich an die deutsche Entscheidung zum Ausstieg aus der Kernenergie, ein typischer Moment im deutschen öffentlichen Leben, in dem Selbstbeweihräucherung eine sehr merkwürdige Entscheidung umhüllt. Das war de facto eine Entscheidung, von russischem Erdgas abhängig zu werden. Die Entscheidung, Nord Stream 2 (nach 2014, Anm. d. Red.) zu bauen, war eine Belohnung für ein Russland, das gerade in die Ukraine eingefallen war. Es war von Anfang an ein Skandal. Es war eine schreckliche Außenpolitik. Sie hat Deutschland näher an Russland gebunden, während das russische Regime immer weiter in die Extreme ging. Und wie jeder Marxist hätte vorhersagen können, machte es die Abhängigkeit von russischem Gas den Deutschen schwerer, die russische Politik zu kritisieren.

In Ihrem Tweet geht es auch um das Belehren. Wir Deutschen sind mitunter sogar stolz auf unsere Vergangenheitsbewältigung. Doch das kann man auch kritisieren. Götz Aly sagte einst, Deutschland sei vom „Weltmeister im Morden“ zum „Weltmeister im Erinnern“ geworden. Hat der Krieg in der Ukraine Ihre Sicht auf die deutsche Erinnerungskultur verändert?

Lassen Sie mich zunächst zurückblicken und eine grundsätzliche Bemerkung über die Verbindung zwischen Vergangenheitsbewältigung und Ostpolitik machen, denn sie sind eng miteinander verbunden. Und zwar auf eine Art und Weise, die schon immer problematisch war. Die Ostpolitik ist in ihren historischen Ursprüngen mit der Vergangenheitsbewältigung verbunden. Die Ostpolitik beinhaltete in ihren Anfängen, nach Moskau zu fahren und Moskau als den Ort zu behandeln, an dem die Opfer des Krieges sprechen. Schon in den frühen 1970er-Jahren, während der Sowjetunion, war dies problematisch. Breschnew war weniger ein Opfer des Krieges als vielmehr der Urheber eines Kriegskults. Und obwohl es natürlich stimmt, dass die Sowjetunion unter den Folgen des Krieges von 1941 enorm gelitten hat, war die Sowjetunion im Krieg von 1939 ein Mitangreifer an der Seite Deutschlands. Moskau musste jedoch das moralische Zentrum der Ostpolitik sein, denn Moskau war der Schlüssel zu den angestrebten diplomatischen Erfolgen. Als die Sowjetunion zerfiel, wurde es aber noch problematischer, Moskau als das moralische Zentrum der Ostpolitik zu betrachten. Schließlich haben Weißrussland und die Ukraine mehr unter dem Krieg gelitten als Russland. Diese grundlegende Realität ist nie in die öffentliche Diskussion in Deutschland eingedrungen. Die Zeit nach 1991 hätte eine vernünftige Vergangenheitsbewältigung verdient, in der die Deutschen der Ukraine viel mehr Aufmerksamkeit hätten schenken sollen. Schließlich war es der deutsche Krieg um die Ukraine im Jahr 1941, der den Holocaust erst ermöglichte. Und auch Hitlers koloniales Denken über die Ukraine war wesentlich. Leider war es eher das Erbe des kolonialen Denkens, das sich durchsetzte. 30 Jahre lang fiel es den Deutschen im Allgemeinen schwer, die Ukraine als Thema zu behandeln. Das ist eine Kontinuität im deutschen Denken, die im Allgemeinen nicht hinterfragt wurde. Und es fügte sich bequem in das russische imperiale Denken gegenüber der Ukraine ein, das immer ausgeprägter geworden ist. In den 2010er- und frühen 2020er-Jahren war Moskau immer noch das Zentrum der Ostpolitik, mit tiefgreifenden Auswirkungen auf die Bewältigung der Vergangenheit. Das rechtsextreme Regime in Russland behandelte die deutsche Kriegsschuld ganz bewusst als eine Ressource, die bei Bedarf gegen die Ukraine eingesetzt werden sollte. Aber natürlich hatte Russland einheimische Mittler, die bei der Verbreitung dieser Botschaft halfen. Der wichtigste von ihnen war Gerhard Schröder. Er arbeitete hart daran, die Deutschen davon zu überzeugen, dass der Kauf russischer Rohstoffe angesichts der Geschichte eine irgendwie gerechte Handlung sei. Aber genau das Gegenteil war der Fall.

Willy Brandt mit Leonid Breschnew im Jahre 1971. Moskau gilt bis heute als Zentrum der Ostpolitik.
Willy Brandt mit Leonid Breschnew im Jahre 1971. Moskau gilt bis heute als Zentrum der Ostpolitik.dpa/Alfred Hennig

Also hat Deutschland Ihrer Ansicht nach die falschen Schlüsse aus dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg gezogen?

Die Deutschen denken zu Recht, dass die Demokratie von einer ständigen Aufarbeitung der Vergangenheit abhängt. Und das ist ein Grund dafür, dass Deutschland eine Musterdemokratie ist, von der andere Demokratien, einschließlich meiner eigenen, lernen können. Aber eine ständige Aufarbeitung der Vergangenheit beinhaltet auch eine ständige Aufarbeitung früherer Aufarbeitung. In Deutschland ist man versucht, zu denken, dass man die Arbeit bereits getan hat, dass der Holocaust verstanden worden ist. Aber so funktioniert dieser Prozess nicht. Der Historikerstreit der späten 1980er-Jahre ging davon aus, dass die deutschen Historiker die grundlegenden Fakten über den Holocaust kennen und dass es keine größeren Neuinterpretationen geben würde. Das erwies sich als völlig falsch. Als der Kommunismus zusammenbrach, öffneten sich die Archive und in den 2000er-Jahren begann das Zeitalter der ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Aber die öffentliche Diskussion in Deutschland über den Holocaust bleibt weitgehend in den Annahmen der westdeutschen Historiker von vor 30 Jahren gefangen. Nehmen Sie zum Beispiel die allgemeine Frage nach den Ressourcen. Wie viele Deutsche wissen, dass der Molotow-Ribbentrop-Pakt ein Beispiel für den „Wandel durch Handel“ war? Die wirtschaftlichen Beziehungen, die 1939 und 1940 zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion geknüpft wurden, waren ein wesentlicher Grund dafür, dass die beiden Mächte Europa gemeinsam umgestalten konnten. Ich behaupte nicht, dass der Vergleich exakt ist, aber ich glaube nicht, dass dieser Bezug in den deutschen Debatten über russische Rohstoffe überhaupt vorhanden war. Und dann die Nahrungsressourcen. Deutschland hat 1918 und 1941 versucht, die Ukraine zu kolonisieren. Die Sowjetunion führte nach 1930 das durch, was Stalin „interne Kolonisierung“ nannte, um die Nahrungsmittellieferungen aus der Ukraine zu kontrollieren. Das Ergebnis war der Hungertod von vier Millionen Menschen in der sowjetischen Ukraine (diese Hungersnot wird auch als Holodomor bezeichnet, Anm. d. Red.). Hitler sah dies als positives Beispiel und beabsichtigte, Stalins Kolchosen zu nutzen, um ukrainische Lebensmittel nach Deutschland zu schaffen. Diese ganze Kette von Bezügen wird in der deutschen öffentlichen Diskussion im Allgemeinen nicht erwähnt. Wäre sie vorhanden, hätte sie zu einer Ostpolitik und einer Vergangenheitspolitik geführt, die der Ukraine gegenüber aufmerksamer gewesen wäre.

Daraus erwächst eine Verantwortung für Deutschland. In Ihren Statements kritisieren Sie, dass Deutschland zu wenig tut. Warum sollte Deutschland mehr tun und was?

Eine der Innovationen des Faschismus war es, europäische Kolonialkriege nach Europa selbst zu bringen. Russland hat diese Tradition nun fortgesetzt, indem es einen Kolonialkrieg in der Ukraine führt, mit dem offenen Bestreben, die ukrainische Gesellschaft als solche zu zerstören. Eine Sache, die die Deutschen tun können, ist, über diese Situation in klaren, historischen Kategorien zu sprechen. Alles andere ergibt sich daraus.

Massengrab nach dem Massaker in Babyn Jar in Kiew, bei dem 1941 rund 40.000 ukrainische Juden ermordet wurden.
Massengrab nach dem Massaker in Babyn Jar in Kiew, bei dem 1941 rund 40.000 ukrainische Juden ermordet wurden.CC-BY SA 4.0

Wie Sie vermutlich gesehen haben, gibt es eine breite Debatte über Waffenlieferungen an die Ukraine. In Deutschland fürchten sich viele vor einem Krieg mit Russland und dem Einsatz von Atombomben. Für wie wahrscheinlich halten Sie den Einsatz von Nuklearwaffen, insbesondere auch gegen Nato-Staaten?

Jeder, der einen Krieg mit Russland befürchtet, sollte alles tun, um der Ukraine zum Sieg zu verhelfen, und zwar so schnell wie möglich. Der Weg, eine Eskalation zu verhindern, besteht darin, dass die Ukrainer eine Situation schaffen, in der Putin glaubt, verhandeln zu müssen. Es gibt keinen anderen Weg, den Krieg zu beenden. Ich verstehe, dass einige Deutsche wollen, dass die Ukraine einfach aufgibt. Das ist jedoch in mehrfacher Hinsicht unrealistisch und äußerst gefährlich. Zunächst einmal sind es die Ukrainer, die kämpfen, nicht die Deutschen oder die Amerikaner. Die Ukrainer haben sich zum Kampf entschlossen, obwohl viele von uns nicht damit gerechnet haben. Sie werden nicht aufhören, nur weil wir sie dazu auffordern. Die russische Besatzungspolitik in der Ukraine besteht darin, Frauen und Kinder zu deportieren und lokale Eliten und Männer im wehrfähigen Alter zu ermorden oder sie als Kanonenfutter zu benutzen. Es handelt sich um einen langfristigen Versuch, ukrainische Kinder als Russen zu erziehen und ganz allgemein die ukrainische Nation zu vernichten. Die Ukrainer verstehen das und deshalb kämpfen sie. Selbst wenn sie aufgeben würden, würde der Krieg als Völkermord weitergehen, nur ohne jeden Widerstand. Mir ist klar, dass die Vorstellung, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt, für viele Menschen in Deutschland immer noch schwer zu verstehen ist. Das liegt zum Teil an der falschen Richtung der Ostpolitik und der Vergangenheitsbewältigung, die beide einen übertriebenen Respekt vor Russland gefordert und eine abschätzige Behandlung der Ukraine zugelassen haben. Aber wenn Krieg und Faschismus von Europa ferngehalten werden sollen, muss die Ukraine diesen Krieg gewinnen. Im Faschismus geht es um Willen und Macht, und deshalb wird der Faschismus nur durch eine Niederlage diskreditiert. Hätten die Ukrainer nachgegeben, wie viele Menschen in Deutschland anscheinend erwartet haben, wäre das ein großer Sieg nicht nur für Russland, sondern für die extreme Rechte in ganz Europa und für Trump in den Vereinigten Staaten gewesen. Das Gleiche gilt für einen zukünftigen russischen Sieg. Wenn Russland diesen Krieg gewinnen sollte, wäre das ein Triumph für den Faschismus überall. Was den Atomkrieg angeht: Nein, ich halte ihn für unwahrscheinlich. Die russische nukleare Erpressung ermöglicht es den Menschen jenseits der Ukraine, sich als Opfer von etwas Imaginärem vorzustellen und ihre Augen von den tatsächlichen Opfern eines tatsächlichen Krieges abzuwenden.

Die russische Führung hat die Offensive im Donbass verkündet und es heißt immer wieder, dass Russland sich mit dem Donbass und den bisher eroberten Gebieten zufriedengeben könnte. Halten Sie das für wahrscheinlich?

Nein, natürlich nicht. Das ist noch nicht einmal jetzt wahr. Russische Truppen befinden sich noch in den Regionen Charkiw, Saporischschja und Cherson, und es werden Vorbereitungen getroffen, die Region Cherson an Russland anzugliedern. Das ist nicht der Donbass und das sind keine Gebiete, die früher von Russland gehalten wurden. Aber nun zu Ihrer Frage. Wenn die Russen im Osten der Ukraine verlieren, werden sie den Sieg verkünden. Wenn sie im Osten der Ukraine gewinnen, werden sie Kiew angreifen. Und so weiter.

In einem Beitrag von Klaus Bachmann in unserer Zeitung hieß es, man könne angesichts der Kriegsverbrechen in der Ukraine nicht von Völkermord sprechen. Sehen Sie die Kriegsverbrechen in der Ukraine als Völkermord an?

Wenn Sie Abschnitt 2 der Völkermordkonvention von 1948 lesen, werden Sie feststellen, dass dort fünf Handlungen beschrieben werden, die als Völkermord gelten. Die Russen haben bereits unbestreitbar alle fünf dieser Handlungen in der besetzten Ukraine durchgeführt. Die einzige Frage, die bleibt, ist die nach der Absicht, eine nationale Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten. Ich glaube nicht, dass diese Absicht sehr schwer zu finden ist. Wissenschaftler, die sich mit Völkermord befassen, werden bestätigen, dass Putins wiederholtes Beharren darauf, dass es keinen ukrainischen Staat und keine ukrainische Nation gibt, eine typische prägenozidale Rhetorik ist. Die russische Siegeserklärung, ein Text, der für das erwartete Ergebnis der Kapitulation Kiews vorbereitet und versehentlich veröffentlicht wurde, sprach von einer endgültigen Lösung der ukrainischen Frage. Ein von einem offiziellen russischen Pressedienst veröffentlichtes Handbuch zum Völkermord beschrieb klar die Schritte, die Russland unternehmen sollte, um die ukrainische Nation zu eliminieren. Der Hauptverlag für russische Schulbücher wurde angewiesen, Verweise auf die Ukraine und Kiew zu entfernen. Abgesehen davon möchte ich betonen, dass Verbrechen, die von Russen in der Ukraine begangen wurden, auf andere Weise verfolgt werden können.

Sie bezeichnen Russland immer wieder als faschistischen Staat. In Deutschland hingegen wird meist von einer Autokratie gesprochen. Inwiefern ist Russland für Sie faschistisch und nicht einfach nur autokratisch?

Timothy Snyder über Russlands Diktator Wladimir Putin: „In der deutschen Öffentlichkeit hat man es versäumt, den russischen Faschismus zu konzeptualisieren.“
Timothy Snyder über Russlands Diktator Wladimir Putin: „In der deutschen Öffentlichkeit hat man es versäumt, den russischen Faschismus zu konzeptualisieren.“dpa/Alexander Zemlianichenko

Ich würde diese Frage umkehren und fragen: Inwiefern ist Putins Regime nicht faschistisch? Es hat eine einzige Partei, einen Führerkult, einen Totenkult, einen Kult eines goldenen Zeitalters, das durch Gewalt durch Säuberungen wiederhergestellt werden soll, eine überwältigende Staatspropaganda, ein hakenkreuzähnliches Symbol, einen Vernichtungskrieg, Massendeportationen, Hassreden, Massenmord an Zivilisten. Putins Lieblingsdenker, Iwan Iljin, war ein Faschist. Sogar die Ablehnung der ukrainischen Staatlichkeit durch das Putin-Regime ist mit Antisemitismus verbunden. Die Tatsache, dass die Ukraine einen jüdischen Präsidenten hat, wird zum Beispiel von Dmitrij Medwedew (ehemaliger Präsident Russlands und Putin-Vertrauter, Anm. d. Red.) als Grund dafür angeführt, dass die Ukraine kein echter Staat ist. Außenminister Sergej Lawrow spielte mit erschreckenden antisemitischen Stereotypen, als er sagte, Hitler sei ein Jude. So reden Antisemiten, die sagen wollen, sie seien in Wahrheit die Opfer.

Sie sind einer der bekanntesten Mahner gewesen, der auch vor dem 24. Februar immer wieder vor der Gefahr durch Putins Russland gewarnt hat. Sind Sie erleichtert, dass zumindest jetzt die Welt den Charakter des russischen Regimes besser wahrnimmt?

Das Problem sind wir. Was ist es, das uns hindert, Probleme mit der Demokratie, seien sie extern oder intern zu erkennen, sodass wir dann davon überrascht werden, wenn eine Krise daraus entsteht? Als Russland in die Ukraine einmarschierte, war eine sehr verbreitete deutsche Reaktion: „Wie hätten wir das wissen können?“ Aber es waren Faktoren innerhalb der deutschen Gesellschaft, die den russischen Faschismus und die russische Aggression unsichtbar machten. Ich meine das keineswegs als Kritik an Deutschland allein. Meine eigene Demokratie hat tiefere Probleme. Es waren Faktoren innerhalb der amerikanischen Gesellschaft, die Trump möglich gemacht haben, auch wenn Putin ihn dabei unterstützte und froh war, dass er an der Macht war. Es ist wichtig, Russland daran zu hindern, Demokratien direkt zu zerstören, dieses Mal in einem Angriffskrieg. Aber wir können die russischen Aktionen auch zum Anlass nehmen, uns selbst genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich bin zuversichtlich, dass dies nun auch in Deutschland geschehen wird.

Was denken Sie, in welche Richtung sich Russland noch weiterentwickelt? Kommt es zu einem Sturz Putins?

Es ist schwer vorstellbar, dass es eine russische Politik gibt, die für das Putin-Regime riskanter ist als eine Invasion in der Ukraine. Ich gehe davon aus, dass es eine Reihe von Russen gibt, die sich dessen bewusst sind.