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Antisemitismus in Kunst und Kultur: „Radical chic, aber deutsch“

Ausgerechnet eine Konferenz am Wannsee sagt dem Antisemitismus in Kunst und Kultur den Kampf an. Was hat der deutsche Kulturbetrieb damit zu tun? Ein Kommentar.

Besucher der Documenta Fifteen sitzen auf den Stufen des Fridericianums in Kassel.
Besucher der Documenta Fifteen sitzen auf den Stufen des Fridericianums in Kassel.Uwe Zucchi/dpa

Ein warmer Donnerstagmorgen am Wannsee. Genauer, an jenem Ort, an dem sich am 20. Januar 1942 führende Nazis trafen, um den Mord an über sechs Millionen Juden zu planen. Ein Ort unter Vorzeichen also. Hierher, in die Gedenk- und Bildungsstätte, haben die Amadeu-Antonio-Stiftung, das American Jewish Committee Berlin und der Zentralrat der Juden in Deutschland eingeladen, um unter der Frage „Von der Kunstfreiheit gedeckt?“ das zu diskutieren, was den deutschen Kunst- und Kulturbetrieb seit Jahren erzittern lässt: Antisemitismus.

Gesäumt von gestutzten Zierbüschen, herrschaftlichen Treppen und Sockelskulpturen steht das zum See hin geöffnete Konferenzzelt. Der Wind zieht durch, auf dem See die Segler. Mit der Geschichte vor Augen, unangenehm idyllisch – in Deutschland liegen Schönheit und Schrecken nah beieinander.

Das Schreckgespenst Antisemitismus ist real

Anders als im namensgebenden Song von Danger Dan „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ wird am Wannsee nicht im seichten Gewässer schnell zu bestimmender Feinde wie Alexander Gauland gefischt, sondern in bedeutend trüberen Untiefen geangelt. Im Zentrum steht das juste milieu des deutschen Kulturbetriebes.

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Peter Truschner
Zum Autor
Jonathan Guggenberger studierte Bildende Kunst, Film- und Politikwissenschaft in Berlin, wo er auch lebt. Als Researcher forschte er zu Antisemitismus auf TikTok und ästhetischen Strategien des Videoaktivismus in sozialen Medien, u.a. an der Hebrew University in Jerusalem. Er veröffentlichte zu filmhistorischen, kulturkritischen und politischen Themen in den Bereichen Antisemitismus, Exil, Feminismus, Kritische Theorie und soziale Bewegungen. In diesem Jahr folgen Beiträge in Sammelbänden bei Bertz+Fischer und dem Verbrecher-Verlag. Als Filmemacher liegt ihm politische Ästhetik näher als ästhetisierte Politik. Dieses Jahr erscheint sein Spielfilmdebüt „Rattenkönig“. Zurzeit ist er Pressesprecher eines politischen Verbandes. Davor schrieb er Werbefilme in London und Berlin.

Schnell wird klar, was anhand von Fällen wie der Initiative „GG5.3 Weltoffenheit“ oder der Documenta Fifteen bereits im Detail diskutiert wurde: Das Schreckgespenst Antisemitismus ist real. Es treibt sein Unwesen in den Grundfesten deutscher Kulturinstitutionen ebenso wie in bestimmenden kuratorischen und künstlerischen Diskursen der Gegenwart. Zeit also, einen Schritt weiterzugehen und zu fragen, welcher Haltung der Antisemitismus im deutschen Kulturbetrieb und seine reflexhafte Abwehr in den vorgezeichneten Debatten entspringen.

Eine Interpretation von „People’s Justice“

„Radical chic“ – so hatte 1970 der amerikanische Journalist Tom Wolfe das Kokettieren der Upper Class mit militantem Linksradikalismus bezeichnet. Dabei galt ihm die soziale Camouflage vor allem als Mittel zum Zweck der Camouflierten: Distinktion, Selbstvergewisserung und soziokulturelle Aufwertung ökonomischer Macht.

Doch seitdem hat sich viel verändert. Klassenfragen sind der Frage nach individuellen Privilegien gewichen, und Militanz zeigt sich im Westen weniger im bewaffneten Widerstand unterdrückter Minderheiten, sondern mehr in jenem ihrer Unterdrücker, also scheinunterdrückter Nazis (auch der russischen). Doch was sich nicht geändert hat, das ist die politisch diffuse Faszination für Befreiungskämpfe und die moralisch wie ökonomisch genehme Selbsterhöhung durch anbiederndes Hofieren.

Nun mag man fragen, was das mit gegenwärtigen Antisemitismusdebatten zu tun hat?
Werfen wir dafür einen Blick nach Kassel: An zentralem Ort der Documenta Fifteen prangte einst das monumentale Gemälde „People’s Justice“ des Kunstkollektivs Taring Padi.

Zur Eröffnung unter klatschendem Beifall enthüllt – der zur Konferenz gezeigte Film von Leon Kahane und Fabian Bechtle gibt diese Szene symptomatisch wieder –, zeigt das Bild eine Welt, die in zwei Lager zerfällt: auf der einen Seite der militärisch-industrielle Komplex westlicher Moderne, inklusive der viel besprochenen antisemitischen Karikaturen und der kaum besprochenen sexistischen Darstellung lüstern dekadenter Frauen. Auf der anderen Seite das einfache Volk, die Unterdrückten. Darüber schwebt mahnend der gerechte Rat der Toten. Sicherlich, das ist nur eine der möglichen Interpretationen.

„People“ sind die Deutschen doch wieder

Hieß es bei der WM 2006 noch „Die Welt zu Gast bei Freunden“, so schwangen sich 2022 deutsche Kulturmanager begeistert auf, um auszurufen: „Die Welt zu Gast bei Geläuterten“. In Anbetracht der Verstrickung Deutschlands in das globale Ungleichgewicht sollte international signalisiert werden, dass man seine Lektion erneut gelernt hat – dieses Mal mit Blick auf deutsche Kolonialverbrechen. Oder nicht?

Denn selten ging es in dieser politisch aufgeladenen Documenta um die Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus. Vielmehr standen Israel als vermeintliches Kolonialprojekt und der „Westen“ als Ganzes unter Beschuss. Künstlerisch-rituelle Praktiken des Widerstands wurden gefeiert. Wozu kurzerhand auch die Verherrlichung palästinensischen Terrors durch die Künstlergruppe Tokio Reels verklärt wurde.

Allesamt Indikatoren für ein Kunst- und Politikverständnis, das Heilsversprechen weniger in der konkreten Verstrickung von Geschichte und Gegenwart oder Lokalem und Globalem verortet, sondern im Holzschnitt eines manichäischen Weltbildes: „People’s Justice“ eben. Nicht der Freiheitskampf der Indonesier, sondern aller „People“. Und „People“ sind die Deutschen doch wieder.

Die Verhüllungsspiele von Kassel

Einmal aufgerichtet, eignete sich dieses Bild, um national wie international anzuzeigen, dass man auf der richtigen Seite steht. Dass man dabei in der Thematisierung des Eigenen, historisch wie gegenwärtig, möglichst vage blieb, war Programm. Ein Programm, das auch abseits der Documenta durch die teils ebenso manichäische Feindbestimmung postkolonialer Theorien begünstigt wird. Ein Programm, in dem Jüdinnen und Juden nur als antisemitische Verzerrungen, als „weiß“ und „europäisch“ gelesene Privilegienträger oder als Kronzeuginnen antizionistischer Selbstgerechtigkeit erscheinen. Ein Programm, zwei Funktionen: Distinktion und Selbstvergewisserung. „Radical chic“ – aber ohne Jüdinnen und Juden.

Dass reale Juden, vor allem jene, die sich positiv oder gar nicht zu Israel äußern, nicht mehr als ein Störfaktor in diesem Bild sind, hätten eigentlich nicht erst die Verhüllungsspiele von Kassel zeigen müssen. Doch der deutsche Kulturbetrieb scheint sich mit Konsequenzen schwer zu tun – auch nach dem zigsten Skandal. Eine Strategie, da ist sich der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn im Zelt am Wannsee sicher: „Relativierung, De-Thematisierung und Ablenkung“.

Kulturpessimismus und Antisemitismus

Anstatt also im Land der Täter auf die Kritik von Betroffenen zu hören – was schließlich ein Paradigma als Sprachrohr der Unterdrückten wäre –, wird arg- und ahnungslos mit Kunstfreiheit argumentiert. Wie sehr man sich damit in die Nähe zur „dunklen Scholle“ begibt, also dem, was der Kunstkritiker Wolfgang Ullrich als vermeintliche Kunstfreiheit im Fahrwasser des rechten Kulturpessimismus beschreibt, scheint egal zu sein. Jüdinnen und Juden sollen sich schließlich nicht so haben.

Doch die Nähe ist kein Zufall: Kulturpessimismus und Antisemitismus, eine deutsche Liaison möchte man fast sagen. Der antimoderne wie antisemitische Kunstbegriff eines Richard Wagner oder Joseph Beuys setzt sich auch in der Gegenwart der Documenta Fifteen fort. Nur der rechte Fleck, den die Shoah vor dem Hintergrund deutscher Geschichte hinterlässt, soll weichen. Oder wie der Historiker Moishe Postone mal sagte: „Die bloße Erwähnung von Nazismus wird unmittelbar mit Gräuelbeispielen in Vietnam, Palästina usw. ‚beantwortet‘.“ In abstrakter Geste von Kolonialismus und Rassismus zu sprechen, um über Antisemitismus zu schweigen, das entlastet.

Die Utopie von einer postkolonialen Welt

Externalisierung also. Die sieht man im Fall der Documenta hier wie da – auch in der Annahme, der Antisemitismus sei lediglich ein Importprodukt. Das eigene Unbehagen an antisemitischen Wissensbeständen und unaufgeklärter Vergangenheit wird ausgelagert. In den Füllbehältern eines romantisierenden Bildes des globalen Südens oder der Palästinenser werden die Restbestände des eigenen Ressentiments reingewaschen.

Nicht zuletzt der Vorwurf des Antisemitismus oder eben das Pochen von Jüdinnen und Juden auf (nationale) Selbstbestimmung holen einen da in den unbehaglich trüben Morast der deutschen Geschichte zurück. Störenfriede der „Wiedergutwerdung“ (Eike Geisel) sind nicht die Antisemiten selbst, sondern die, die sie benennen.

Da bleibt auch ein deutscher Kulturbetrieb deutsch, mag er sich noch so versöhnend der Idee einer einträchtig widerständigen, postkolonialen Welt in der Kunst hingeben. Wie weit diese Kunst mit ihrer unspezifischen Utopie vom einstmaligen Anliegen postkolonialer Theorien entfernt liegt, hatte die Künstlerin Hito Steyerl in einem Zeit-Artikel dargelegt, bevor sie ihre Arbeit von der Documenta zurückzog.

Wie stehst du zu BDS?

Doch schon die „Weltoffenheitsinitiative“ und der von Historiker Dirk Moses initiierte Streit über die historische Singularität der Shoah hatten diese verdächtige Unschärfe durscheinen lassen: Opferkonkurrenzen zwischen Betroffenen der Shoah und des Kolonialismus wurden befeuert, während sich zentrale deutsche Kulturinstitutionen ohne historische Aufarbeitung, aber mit sozioökonomischer Macht als Opfer gerieren.

Anstatt die Vergangenheit der eigenen Institutionen aufzuarbeiten (die Documenta und das Goethe-Institut könnten das anhand ein und derselben Person, dem NS-Verbrecher Werner Haftmann, gemeinsam tun), wird gekonnt auf die Hot Topics der Gegenwart geschwenkt. Dass sich im Fall der „Weltoffenheitsinitiative“ die Big Player der deutschen Kultur durch die nahezu wirkungslose BDS-Resolution des Bundestags in ihrer Existenz bedroht sahen, ist entweder ein schlechter Scherz oder schlichtweg Ausdruck einer Haltung, in der das Hofieren von Antisemitismus zum Lackmustest eines deutschen Sonderweges des radical chic geworden ist.

Radical chic heißt hier nämlich nicht mehr nur Camouflage der eigenen sozioökonomischen Privilegien, sondern auch eine Machtdemonstration gegenüber dem eigenen Betrieb: Wie stehst du zu BDS?

Eine Debatte über Kunstfreiheit

Der Ausschluss, den diese Frage vor dem Hintergrund informeller Netzwerke und ihrer Gatekeeper-Funktion für deutsche Förderbürokratien produziert, wiegt bedeutend schwerer als das, was die BDS-Resolution bisher bewirken konnte. Das dringt auch im bitteren Selbstzeugnis der zum Wannsee geladenen jüdischen Künstler durch.

Doch was tun gegen die unheilvolle deutsche Beziehung von Schrecken und Schönheit? Mit abnehmender Sonne über dem Wannsee wird auch diese Frage beantwortet: Aufarbeitung und Accountability. Und zuletzt eine Debatte über Kunstfreiheit. Von ihren Grenzen gedacht, nicht als Freifahrtschein für chic Germans.

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