Kommentar

Wir von der Letzten Generation brechen Gesetze, Olaf Scholz bricht die Verfassung

Die Letzte Generation bricht Gesetze. Klimaaktivist Raphael Thelen sagt, dies sei legitim. Denn die Bundesregierung tue es auch. Ein Kommentar.

Eine Aktivistin der Letzten Generation blockiert die Straße vor dem Hauptbahnhof in Berlin am 6. Mai. 
Eine Aktivistin der Letzten Generation blockiert die Straße vor dem Hauptbahnhof in Berlin am 6. Mai. Paul Zinken/dpa

Straßen blockieren. Immer und immer wieder. Das habe ich die letzten Wochen getan. Neben mir saß Daniel, eine Hand auf den Asphalt geklebt. Er ist 16. Er sitzt da – nicht zu Hause bei seinen Eltern oder mit Freunden im Park –, weil er eine Scheißangst hat. Vor seiner Zukunft.

Schon heute schwindet das Grundwasser, seit fünf Jahren herrscht Dürre in Berlin. Jahr für Jahr brennen die Wälder. Das West-Nil-Virus breitet sich aus, weil die Temperaturen steigen.

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Paula Winkler
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Raphael Thelen arbeitete als Journalist unter anderem für den Spiegel und die Zeit, berichtete mehrere Jahre über die Klimakrise, bevor er 2023 zur Letzten Generation wechselte.

Fast Forward 60 Jahre: Daniel, dann 76, hätte wahrscheinlich Bock, seinen Ruhestand zu genießen, vielleicht ein Haus mit Gemüsebeet in Köpenick, ein paar Enkel. Bei drei Grad mehr wird das aber nichts. Die Welt ist dann eine Hölle aus Hitzewellen, Überschwemmungen, Hungersnöten. Da blüht nichts im Beet. Da springen keine Kinder durchs Planschbecken.

Nicht legal, aber legitim

Stefan Rahmstorf, einer der weltweit führenden Klimawissenschaftler, sagt: „Ich halte eine 3-Grad-Welt für eine existenzielle Gefahr für die menschliche Zivilisation.“

Nötigung im Straßenverkehr. Sachbeschädigung. Kunstblut aufs Grundgesetzdenkmal. Was wir tun, was Daniel tut, ist nicht legal. Aber es ist legitim.

2021 sprach das Bundesverfassungsgericht ein bahnbrechendes Urteil, sagte, die Klimaschutzgrenzen des Paris-Abkommens seien verfassungsrechtlich bindend, konkretisierte Artikel 20a, in dem steht: Der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen – Klimaschutz ist Teil der Verfassung.

Folge des Urteils war: Der Gesetzgeber muss einen Plan vorlegen, wie Deutschland in den Grenzen des Paris-Abkommens bleibt, wie wir die Kipppunkte des Klimas vermeiden, unsere Lebensgrundlagen schützen. Aber das passiert nicht.

Die Würde des Menschen ist unantastbar

Ja, die Regierung erlässt ein paar Maßnahmen, schraubt hier und da am Problem herum. Aber nichts Durchdachtes, kein Konzept. Es reicht nicht, dass die Politik sich ein paar Ziele gesetzt hat, aber nicht sagt, wie sie sie erreichen will. Klimaschutz „ins Blaue hinein“, wie die Verfassungsrichter es so hübsch formulierten, reicht nicht, nicht, wenn es um unser aller Zukunft geht. Klimakanzler wollte Olaf Scholz sein. Doch seine Regierung bricht die Verfassung. Das leitet sich aus dem Urteil des höchsten Gerichts unseres Landes ab.

Und nicht nur das. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Auf diesem Satz beruht unser ganzes Zusammenleben, und er wurde formuliert aus der historischen Erfahrung heraus, dass die Würde sehr wohl antastbar, ja verletzlich ist wie kaum etwas anderes.

Herr Scholz muss die Verfassung schützen

Deshalb haben wir eine Demokratie, einen Rechtsstaat, Gleichberechtigung – all jene Errungenschaften, die zu unserer gesellschaftlichen DNA gehören. Aber die werden wir nicht erhalten können, wenn Rahmstorf recht behält, unsere Zivilisation zusammenbricht. „Damit das nicht in einer Welt des Fatalismus endet, wo alle sagen, man kann ja gar nichts tun, ist es umso wichtiger, konkret zu werden, in dem, was man tun kann.“

Herr Scholz, das haben Sie vor anderthalb Jahren gesagt gegenüber zwei Vertretern der Letzten Generation. Es ist an der Zeit, dass sie zu Ihren Worten stehen, die Verfassung schützen und unser aller Lebensgrundlagen – dann können Daniel und ich auch wieder aufhören, Gesetze zu brechen.

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