Analyse

War es ein „Inside Job“? Wladimir Putin will sich nach dem angeblichen Drohnenangriff der Ukraine rächen

Russische Medien behaupten, die Ukraine habe Moskaus Präsidentenpalast mit Drohnen angegriffen. Die Wahrheit kennen wir nicht. Russland wird dennoch Vergeltung üben. Eine Analyse.

Angeblich wurde am Mittwoch der Kreml von Drohnen angegriffen.
Angeblich wurde am Mittwoch der Kreml von Drohnen angegriffen.imago

Am frühen Nachmittag des 3. Mai 2023 meldete die staatliche russische Nachrichtenagentur TASS unter Verweis auf den Pressedienst des Kremls, dass in der Nacht auf Mittwoch ein Drohnenangriff auf die Präsidentenresidenz des Kremls vereitelt wurde. Angeblich wurden dabei zwei Drohnen durch die Radarkontrollsysteme außer Gefecht gesetzt.

Moskau beschuldigte die Ukraine, den „Anschlag“ ausgeführt zu haben und wertete diesen als „Terrorangriff“. Laut Kremlsprecher Dmitri Peskow kam der russische Staatschef Wladimir Putin nicht zu Schaden, denn er befand sich zum Zeitpunkt der Drohnenangriffe nicht im Kreml, sondern in seiner Residenz Nowo-Ogarewo.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wies jedwede Vorwürfe des russischen Regimes zurück und erklärte, dass die Ukraine „weder Putin noch Moskau angreifen“ würde. Denn die Ukraine verteidigte ihr Territorium und selbst dafür gäbe es nicht genug Waffen. Vielmehr wären die Urheber der angeblichen „Anschläge“ im Kreml zu suchen.

Infobox image
Prokofief Foto
Zum Autor
Dr. Alexander Dubowy ist Politik- und Risikoanalyst sowie Forscher zu internationalen Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum. Er ist Mitarbeiter der Berliner Zeitung am Wochenende.

„Al-Kaida, Al-Nusra-Front, Isis“

Zu diesem Zeitpunkt lief die Propagandamaschine des Kremls bereits auf Hochtouren. So bezeichnete Russlands Parlamentschef Wjatscheslaw Wolodin auf seinem Telegram-Kanal den Drohnenangriff als einen „Terrorakt gegen den Präsidenten“ Putin und einen „Angriff gegen Russland“. Dabei verglich Wolodin die Ukraine mit den internationalen Terrororganisationen „Al-Kaida, Al-Nusra-Front, Isis“.

Der Westen wurde aufgrund der Waffenlieferungen an die Ukraine nicht nur zum „Sponsor“, sondern auch zum „unmittelbaren Komplizen terroristischer Aktivitäten“. Nach Ansicht Wjatscheslaw Wolodins könnte es nach den Drohnenangriffen vom 3. Mai 2023 „keine Verhandlungen“ mit der Ukraine geben. Gleichzeitig kündigte Wolodin martialisch an, den „Einsatz von Waffen“ zu fordern, welche in der Lage wären, das „Kiewer Terrorregime zu stoppen und zu vernichten“.

Selbstverständlich sah sich auch Dmitri Medwedew, stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrates, ehemaliger Staatspräsident (2008–2012) und langjähriger Regierungschef Russlands (2012–2020), durch die aktuellen Ereignisse zu einer weiteren verbalen Entgleisung genötigt und veröffentlichte die nachfolgende Meldung auf seinem Telegram-Kanal: „Nach dem heutigen Terroranschlag gibt es keine andere Möglichkeit mehr als die physische Beseitigung von Selenskyj und seiner Clique. Er muss nicht einmal den Akt der bedingungslosen Kapitulation unterschreiben. Hitler hat sie, wie wir wissen, auch nicht unterschrieben. Es gibt immer einen Nachfolger wie den Pseudo-Präsidenten Admiral Dönitz ...“

Der Vorsitzende der Partei Gerechtes Russland, Sergej Mironow, bezeichnete das „vereitelte Attentat“ auf Putin als „Kriegsgrund“ und Anlassfall zur „Eliminierung“ der gesamten Führungsspitze der Ukraine.

Margarita Simonjan, Chefredakteurin des Medienunternehmens Russia Today, verlieh unmittelbar nach Bekanntwerden der Drohnenangriffe gegen den Kreml auf Telegram ihrer Hoffnung Ausdruck, dass Russland im Angriffskrieg gegen die Ukraine „nunmehr richtig loslegen“ würde. Doch nur wenige Stunden später schrieb sie scheinbar enttäuscht, dass es sich wohl nicht um einen „schlauen Plan Moskaus“ handelte, der Ukraine einen „Kontrollschuss in den Kopf“ zu verpassen; widrigenfalls würde eine „Eskalationsmeldung die andere jagen“.

Angesichts der unbegründeten „Terrorvorwürfe“ gegen die ukrainische Regierung erscheint das eisige Schweigen der russischen Systempolitiker und Berufspropagandisten mit Blick auf die jüngsten russischen Angriffe gegen zivile Objekte in Cherson, Uman, Kiew, die unzähligen Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte sowie den regelmäßigen Einsatz von Terrormethoden gegen die ukrainische Zivilbevölkerung besonders perfide.

Eine False-Flag-Operation des Kremls?

Doch handelte es sich nunmehr um einen gezielten ukrainischen Angriff oder um eine russische False-Flag-Operation? Auch wenn einige durchaus beachtenswerte Anhaltspunkte für das Letztere vorliegen, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt ernsterweise nur eines mit absoluter Sicherheit gesagt werden: Wir wissen es einfach nicht.

Doch warum sollte ausgerechnet ein angeblicher ukrainischer Drohnenangriff ohne Menschenopfer oder auch nur nennenswerte Schäden einen Wendepunkt bedeuten sowie eine grundlegende Änderung der russischen Kriegstaktik in der Ukraine nach sich ziehen? Schließlich hat der Kreml die ukrainischen Angriffe in den russischen Grenzregionen nicht für innenpolitische Zwecke instrumentalisieren können.

Abgesehen davon benötigte Russland auch bislang keine Rechtfertigung in Form von angeblichen oder tatsächlichen ukrainischen Angriffen für die regelmäßigen nuklearen Drohgebärden und die systematischen Übergriffe auf kritische zivile Infrastruktur sowie zivile Objekte (inklusive Wohnhäuser) in der Ukraine.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht entscheidend, ob es sich um eine False-Flag-Operation Russlands oder eine Operation der Ukraine handelt. Denn die russische Propagandamaschine wird diesen Vorfall für die eigenen Zwecke jedenfalls zu instrumentalisieren wissen.

Die unmittelbaren Reaktionen Russlands werden, wie bereits nach den Angriffen auf die Kertsch-Brücke im Oktober 2022, sehr wahrscheinlich in Form von gezielten Angriffen gegen zivile kritische Infrastruktur und Wohnobjekte zeitnahe folgen. Doch wäre dies weder neu noch überraschend. Den Rubikon hin zum systematischen Terror als Kriegsmittel hat Putins Regime spätestens im Oktober 2022 endgültig überschritten.

Doch folgenlos wird dieses Ereignis nicht vorübergehen. Das Putin-Regime wird diese Angriffe sehr wahrscheinlich zum Anlass für weitere Repressionsmaßnahmen und eine Säuberungswelle innerhalb der Eliten nehmen. Damit werden die Drohnenangriffe unabhängig von ihrem Ursprung den Weg in Richtung einer totalitären Diktatur in Russland endgültig ebnen.

Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de