Reportage

Israel: Bedrohungen aus dem Inland, Iran und Libanon, Jerusalem wirkt wie ein Pulverfass

Nach der Stürmung der al-Aqsa-Moschee am Jerusalemer Tempelberg droht die Situation zu eskalieren. Die Sorge vor einem Krieg in Israel ist groß. Eine Reportage aus Jerusalem.

Eine christliche Pilgerin versucht, einen israelischen Sicherheitsbeamten zu überzeugen, eine orthodoxe Kirche in Jerusalem zu erreichen. Netanjahu hatte den Zugang aus Sicherheitsgründen gesperrt.
Eine christliche Pilgerin versucht, einen israelischen Sicherheitsbeamten zu überzeugen, eine orthodoxe Kirche in Jerusalem zu erreichen. Netanjahu hatte den Zugang aus Sicherheitsgründen gesperrt.AHMAD GHARABLI / AFP

Regen und Sonnenschein wechselten sich in den vergangenen Tagen in Jerusalem oft im Stundentakt ab, mitunter gab es sogar Gewitter mit Hagel. Die einzige Konstante bildete der stramme Wind, der über die Stadt hinweg fegte. Das Wetter gleicht sich dieser Tage der (sicherheits-)politischen Situation in Jerusalem an und wieder einmal ist es der Tempelberg, der Ausgangspunkt und Hauptschauplatz der neuen Eskalation ist.

Anschläge und Raketenhagel in Nahost

Raketen auf israelisches Territorium aus gleich drei Richtungen: aus dem Gaza-Streifen, dem Libanon und dann auch noch aus Syrien. Israelischer Beschuss als Reaktion in alle drei Richtungen. Dazu noch Tote durch islamistische Terroranschläge auf der einen und sogenannte israelische „Sicherheitsoperationen“ mit Todesopfern auf der anderen Seite. Auch wenn all diese Aktionen nicht miteinander verglichen werden sollten, so zeigen sie doch: Die Eskalationsspirale dreht sich dieser Tage im Nahen Osten immer weiter und ein Flächenbrand droht. Neben den der Öffentlichkeit bekannten Anschlägen der vergangenen Tage sollen insbesondere in Jerusalem und dem Westjordanland einige weitere verhindert worden sein.

In Libanon zeigen bewaffnete Israel-Feinde ihre Solidarität mit den Palästinensern.
In Libanon zeigen bewaffnete Israel-Feinde ihre Solidarität mit den Palästinensern.imago

Stürmung von al-Aqsa-Moschee als Auslöser

Der Stein des Anstoßes für diese neue Stufe der Eskalation war die Stürmung der al-Aqsa-Moschee auf dem Jerusalemer Tempelberg vor knapp einer Woche. Israelische Polizisten drangen gewaltsam in die drittheiligste Stätte des Islam ein, die Bilder gingen um die Welt, Entrüstungsstürme, insbesondere in der arabischen Welt, waren die Folge. 

In den folgenden Tagen kamen täglich einige hundert jüdische Siedler auf den Tempelberg, viele von ihnen starteten provokative Gebetsaktionen, die dort eigentlich untersagt sind – begleitet wurden sie meist von stark bewaffneten israelischen Sicherheitskräften.

Am Dienstagnachmittag rief die radikal-islamische Hamas die Muslime auch noch dazu auf, in Scharen zum Tempelberg zu pilgern und dort zu übernachten. Wenig später wurde die Nachricht verbreitet, dass Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den Tempelberg bis zum Ende des Ramadans am 21. April für alle Juden schließen lässt.

Die Information machte wie ein Lauffeuer die Runde, nach einem Gefühl der Entspannung suchte man allerdings vergebens: Je nach eigener Haltung zum Konflikt gab es entweder Angst vor einer weiteren Eskalation oder die Freude darüber, dass man nun neuen Stoff für Provokationen habe – jüdische Siedler könnten das Verbot nutzen, um weiter mobil zu machen.

Die zentrale Figur dabei ist wieder einmal Itamar Ben-Gvir, Israels Minister für nationale Sicherheit. Und tatsächlich: Nur kurze Zeit nach der Ankündigung Netanjahus folgte die Reaktion des Vorsitzenden von jener Partei, die ins Deutsche übersetzt „Jüdische Stärke“ heißt. Das Verbot sei ein „schwerer Fehler“, der die Situation nur noch weiter eskalieren lassen könnte, so der Minister, der der radikal-religiösen Bewegung angehört.

„This time muslims make boom, boom“

Die Angst vor Provokationen, die das Fass zum Überlaufen bringen könnten, war groß. Doch es folgten zwei Tage ohne größere Ausschreitungen, obwohl das Ende des jüdischen Pessach-Fests neue Gefahren mit sich brachte. An religiösen Feiertagen ist in Jerusalem immer mit Provokationen zu rechnen, in diesem Jahr besonders.

Doch es kamen vergleichsweise wenige Menschen zur Klagemauer, der starke Wind und die nur kurzen Regenpausen störten die Gläubigen doch sichtlich. Zeitweise waren sogar mehr stark bewaffnete Sicherheitskräfte als betende Juden vor Ort. Erst am Donnerstagabend, als die Niederschläge abklangen, kamen hunderte Gläubige – Ausschreitungen blieben jedoch glücklicherweise aus, es blieb ruhig.

Bedeckt mit Gebetstüchern: Ultraorthodoxe jüdische Männer während des Pessachfests an der Klagemauer in Jerusalem.
Bedeckt mit Gebetstüchern: Ultraorthodoxe jüdische Männer während des Pessachfests an der Klagemauer in Jerusalem.Ohad Zwigenberg/AP/dpa

Die Nervosität aufseiten der israelischen Sicherheitskräfte war jedoch spürbar – und das ist durchaus nicht alltäglich. Gegen Ende von Pessach sperrte man kurzerhand den Ausgang vom Platz vor der Klagemauer in Richtung des muslimischen Viertels. Auf die Frage, warum man dies nun tue, antwortete ein Sicherheitsmann mit sehr rudimentären Englisch-Kenntnissen: „Ramadan, you know. This time muslims make boom, boom. Because of Hamas and Iran. Very dangerous.”

Gelangte man dann mit einigen Tricks und wenigen Umwegen trotzdem auf die andere Seite dieses Zugangs, so sah man ausschließlich im Freundeskreis und Familienverband zusammensitzende Muslime, die gemeinsam das Fastenbrechen begingen. Man könnte hier nun an eine Schikane der israelischen Sicherheitskräfte glauben, denn auch das kommt hier mitunter vor, doch diesmal ist es anders. Es geht um eine reale Sicherheitsbedrohung.

Christliche Jugend musste beruhigt werden

Was oft untergeht: Auch für Christen sind es aktuell in Jerusalem ganz besondere Tage. Die Orthodoxen feiern in dieser Woche das Osterfest – gestern begingen sie ihren Karfreitag entlang der Via Dolorosa, dem Leidensweg Christi. Und auch hier sah sich Netanjahu aus sicherheitstechnischen Gründen zu Beschränkungen gezwungen, der Zutritt zur für die Christenheit zentralen Grabeskirche wurde massiv beschränkt.

Der griechische Patriarch lehnte derlei Schritte entschieden ab, Unterstützung bekommt er vom einflussreichen lateinischen Patriarchen Pierbattista Pizzaballa: „Hier werden sicherheitspolitische Gründe geltend gemacht. Der griechische Patriarch hält dies für übertrieben und mir scheint, dass er damit recht hat.“

In Jerusalem wurde diese Woche das orthodox-christliche Osterfest gefeiert.
In Jerusalem wurde diese Woche das orthodox-christliche Osterfest gefeiert.imago

Die einheimischen Christen sind nach mehreren Vorfällen, die es in den vergangenen Wochen in Jerusalem durch von Ben-Gvir angestachelte radikale jüdische Gruppen gegen ihre Glaubensgemeinschaft gerichtet gab, ruhig geblieben. Dass dies jedoch nicht selbstverständlich und auch der Verdienst der Würdenträger in der Stadt ist, betont auch Pizzaballa: „Unsere Jugend mussten wir beruhigen, sie wollte auf die Vorfälle reagieren. Wir sind jedoch nicht zum ersten Mal mit solchen Gewaltepisoden konfrontiert, sie werden uns nur stärken“, so der Patriarch, der betont: „Trotz allem sollten wir immer versuchen, die Kommunikationskanäle mit allen Religions- und Glaubensgemeinschaften offen zu halten.“

Zehntausende Orthodoxe feiern mitten im Konfliktgebiet

Die zehntausenden orthodoxen Christen feiern ihr Osterfest in der Altstadt ungeachtet der volatilen Lage. Bereits am gestrigen orthodoxen Karfreitag konnten die Massen nur in Blockabfertigung in Richtung der Grabeskirche vorgelassen werden. Von der angespannten Situation bekommt der Großteil von ihnen entweder nichts mit oder man hat einen ganz speziellen Zugang dazu.

Diana aus der Ukraine, sie war nach Kriegsbeginn aus Odessa nach Spanien geflohen, hat von den Spannungen gar nichts bemerkt, wie auch Vadim aus Serbien: „Ganz ruhig ist es hier doch nie“, wischt er alle Sorgen weg. Etwas anders sieht das ein um die 40 Jahre alter Russe, der mit Freunden in Richtung Golgota spaziert: „Konflikte sind da, um gelöst zu werden. Oft braucht es dazu eben einen Krieg.“ Ein Landsmann vor ihm, der mit einem Shirt der russischen Nationalmannschaft pilgert, lacht ihm zu. In seiner Heimat hätte dieses Wort mit einer Gefängnisstrafe enden können.

„Wir bereiten uns auf das Schlimmste vor“

Dass die Entspanntheit manchmal aber auch nur gespielt ist, zeigt eine Szene aus der Altstadt von Freitagmittag: Zwischen den in Richtung al-Aqsa-Moschee strömenden Menschenmassen haben sich auch einige christliche Pilger gemischt, die offenkundig zur Grabeskirche wollten. Ein einheimisches Kind, das mit seiner Mutter am Rande der Gasse saß und auf seinem Handy spielte, erschrak mit den Schussgeräuschen, dass es gehetzt einen Schritt zur Seite sprang. Muslime und Sicherheitskräfte im Umkreis bemerkten dies nicht einmal, hier ist man zu abgebrüht für solche Vorkommnisse.

Die israelische Polizeipräsenz in der Altstadt und im Osten von Jerusalem sowie an bekannt neuralgischen Punkten ist seit gestern trotzdem enorm. Ein Polizist in voller Montur, der jedoch wegen seines Körperbaus so aussieht, als würde er die Maschinenpistole für die Einsätze gar nicht benötigen, wird deutlich: „Passen Sie auf sich auf. Wir hoffen auf eine ruhige Zeit, aber wir bereiten uns auf das Schlimmste vor.“

In Teheran protestieren paramilitärische Gruppen und Israelhasser gegen Israel.
In Teheran protestieren paramilitärische Gruppen und Israelhasser gegen Israel.imago

Eine falsche Aktion und der Nahe Osten könnte brennen

Als wäre die Lage nicht schon volatil genug, der gestrige Freitag war der letzte im Ramadan, an dem seit 1979 auch der sogenannte al-Quds-Tag (nach dem arabischen Wort für „Jerusalem) begangen wird. Dieser wurde damals von Ayatollah Khomeini ins Leben gerufen und wird seither im Iran oft als Großdemonstration gegen die israelische Besetzung Ostjerusalems inszeniert, findet nicht selten aber auch in Hasstiraden gegen das Existenzrecht Israels seinen Ausdruck.

Nach palästinensischen Angaben pilgerten eine Viertelmillion Muslime gestern zu Mittag auf den Tempelberg, am Abend sollen es noch einmal 200.000 Gläubige gewesen sein. Unter jubelnden Zurufen wurden palästinensische Fahnen auf der Kolonnade zwischen der al-Aqsa-Moschee und dem Felsendom gehisst, es blieb jedoch ruhig.

Palästinensische Frauen spielen während des Freitagsgebets vor dem Felsendom mit einem Ball. Aktuell kommen besonders viele Muslime zum Tempelberg, um während des Fastenmonats Ramadan dort zu beten. 
Palästinensische Frauen spielen während des Freitagsgebets vor dem Felsendom mit einem Ball. Aktuell kommen besonders viele Muslime zum Tempelberg, um während des Fastenmonats Ramadan dort zu beten. Mahmoud Illean/AP/dpa

Von der Hisbollah hörte man in den vergangenen Stunden immer wieder Unterstützungszurufe für die Palästinenser, die ihrer Auffassung nach den Tempelberg gegen die Zionisten verteidigen müssten – der Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, betonte indes die „Achse des Widerstands“.

Parallel dazu gab es auch aus dem Iran heftige Drohgebärden gegen Israel und die Zusicherung der Unterstützung für eine palästinensische Intifada. Man bereitet sich in Israel auf eine Zeit der größtmöglichen Unruhen vor, dieses Wochenende könnte der Anfangspunkt für diese sein. Eine falsche Aktion dieser Stunden und Tage in Jerusalem, insbesondere am Tempelberg, würde wohl nicht nur den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern endgültig eskalieren lassen. Der ganze Nahe Osten könnte rasch in Flammen stehen.

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