Bevor in dieser Woche klar wurde, dass die Geschosse, die in der polnischen Grenzgemeinde Przewodów einschlugen, nicht von der russischen Armee abgefeuert wurden, sondern wahrscheinlich fehlgeleitete ukrainische Flugabwehrraketen waren, fragten sich Millionen auf Facebook, Twitter und anderen Plattformen, ob das nun der Moment sei, in dem die Nato, wollte sie glaubwürdig bleiben, Russland angreifen müsste.
Man kann sich die Frage immer noch stellen, denn sehr wahrscheinlich ist sie gar nicht so hypothetisch, wie sie klingt: Angesichts der enormen Mengen an unpräzisen, meist noch aus Sowjetzeiten stammenden Geschossen, die die russische Armee in den letzten Tagen abgefeuert hat, ist es durchaus möglich, dass einige außerhalb der Grenzen der Ukraine landen und dort Menschen töten werden. Und dann stellt sich die Frage wirklich, ob die Nato direkte Kriegspartei wird und wie sie darauf reagieren soll.
Die Nato will keine Kriegspartei sein
Hinzu kommt, dass bald schon die Zerstörungen der zivilen Infrastruktur in der Ukraine und die Zahl der Vertriebenen in und außerhalb der Ukraine so groß sein werden, dass die westlichen Regierungen vor der Frage stehen, Unruhen zu Hause zu riskieren, wo immer weniger Menschen bereit sein werden, ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen, ob sie die Hilfe für die Ukraine reduzieren wollen (was durchaus zu noch mehr Flüchtenden führen kann) oder – ja, was könnte dieses andere „oder“ sein?
Denn wie weit man auch immer gehen mag, eines darf bekanntlich ja nicht passieren: dass die „rote Linie“ überschritten wird, ab der sich dann die Nato und Russland in einer direkten militärischen Konfrontation befinden. Genau aus diesem Grund haben die USA im Frühjahr den polnischen Vorstoß abgelehnt, ukrainischen Piloten amerikanische F16-Kampfbomber zur Verfügung zu stellen, sie von Polen aus starten zu lassen und die fehlenden Flugzeuge dann durch neuere aus den USA aufzustocken.
Das, so hieß es damals in Washington, hieße, die rote Linie zu überschreiten. Klingt zunächst einleuchtend, es steckt aber eine bizarre Logik dahinter: Belarus, das Russland erlaubt, ukrainische Städte von russischen Militärbasen in Belarus aus mit Flugzeugen und Raketen anzugreifen, ist weder in den Augen der Nato noch der Ukraine eine Kriegspartei und wird von keinem der beiden angegriffen. Ukrainische Piloten, die von polnischen Basen aus russische Ziele in ihrem Heimatland angreifen, würden dagegen die Nato zur Kriegspartei machen?
Polen wurde nicht angegriffen, sondern Opfer eines Unfalls
Verständlich wird das erst, wenn man davon ausgeht, dass gar nicht wichtig ist, was genau passiert, sondern wie es die jeweils andere Seite wahrnimmt. Oder, um es noch weiter zu komplizieren: wie die eine Seite glaubt, dass ihre Handlungen von der anderen wahrgenommen werden.
Man kann das am Beispiel der kleinen polnischen Gemeinde mit dem unaussprechlichen Namen wunderbar durchexerzieren: Dort fiel eine Rakete vom Himmel und tötete zwei Menschen. Hätte sich Russland dazu bekannt und das gerechtfertigt, wären die staatlichen Medien in einen (weiteren) nationalistischen Taumel verfallen und hätten die Sektkorken knallen lassen, hätte die Nato jetzt den Bündnisfall, denn Polen und wohl auch die meisten Nato-Mitglieder würden das als absichtlichen Angriff interpretieren.
Ganz anders sähe die Sache aus, hätte sich Russland dazu bekannt und dafür entschuldigt und damit klargemacht, dass es keinen Krieg mit der Nato will. Die wäre dann wohl gespalten in Regierungen, die „den Russen“ das abnehmen, und solche, die das Ganze für eine Finte halten, weil sie „den Russen“ grundsätzlich nie trauen.
Nun hat Russland aber jede Verantwortung abgelehnt und abgestritten, Polen beschossen zu haben. Die Wirkung ist die gleiche wie bei einer Entschuldigung – die zwei polnischen Bürger in Przewodów sind immer noch tot, der Getreidespeicher liegt immer noch in Schutt und Asche, und dass eine Rakete eingeschlagen ist, ist auch unzweifelhaft. Nur die Wahrnehmung ist anders: Polen fühlt sich nicht mehr angegriffen, sondern als zufälliges Opfer eines unbeabsichtigten Angriffs oder sogar Unfalls, und die Nato hat keinen Bündnisfall.
Die russische Regierung spielt mit der Unsicherheit der Nato
Es geht also gar nicht darum, ob eine rote Linie überschritten wird, sondern nur darum, wie die andere Seite das interpretiert und wie gut die eigene Seite diese Interpretation vorhersehen kann. Vielen Menschen, von Journalisten über Intellektuelle bis zu Politikern, gefällt das gar nicht. Sie hätten es gerne klarer. Klarer wird es aber leider nicht mehr, ja, man kann sogar bezweifeln, dass es jemals klar war. Und diese Unklarheit kann man durchaus auch zum eigenen Vorteil nutzen.
Die russische Regierung tut das bereits seit Langem, u. a. dadurch, dass sie ständig Zweifel darüber sät, welche Mittel sie einzusetzen bereit ist – und Gebiete annektiert, die sie gar nicht kontrolliert und die sie auch dann noch für sich reklamiert, wenn sie sie wieder verliert, wie zuletzt in Cherson. Gehört Cherson nun zur Russischen Föderation, hat Präsident Selenskyj bei seinem Besuch dort Russland betreten? Und wie ernst kann man eine Atomwaffendoktrin nehmen, die postuliert, sie werde solche Waffen bei einer Verletzung russischen Territoriums anwenden, dann aber stattdessen den eigenen Truppen den Rückzug befiehlt, wenn es zurückerobert wird?
Die russische Regierung spielt mit dieser Unsicherheit; sie sorgt dafür, dass wir die vermeintliche „rote Linie“ woanders sehen, als wir sie ohne diese Unsicherheit sehen würden. Es ist wie ein Marsch in einem Sumpf: Solange man nicht sicher ist, ob man nach dem ersten Schritt versinkt, macht man lieber keinen Schritt vorwärts. Auch wenn man es könnte. Aber jetzt ist es Zeit, den ersten Schritt zu machen. Die andere Seite weiß nämlich auch nicht, wo genau sie versinken wird. Zumal fast alle westlichen Staaten mehr Erfahrung darin haben, mit der Unsicherheit über rote Linien fertig zu werden, als Russland.
Krieg in der guten alten Zeit
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, zogen die verfeindeten Staaten ihre Diplomaten aus den feindlichen Hauptstädten ab, erklärten sich den Krieg, mobilisierten ihre Soldaten und schickten sie mit schweren Waffen ausgerüstet und in neuen Uniformen über die Grenze. So verlangte es das Völkerrecht: Wer in den Genuss der Haager Landkriegsordnung und der Rot-Kreuz-Konvention kommen wollte, der musste dafür sorgen, dass seine Soldaten auch als solche zu erkennen waren, dass sie einem einheitlichen Kommando unterstanden und ihre Waffen offen trugen. Unter diesen Bedingungen durften sie legal andere Kombattanten umbringen und von ihnen umgebracht werden. Das war grausam, aber irgendwie berechenbar. Allerdings galt das nur, wenn die Europäer sich gegenseitig umbrachten.
In den Kolonialkriegen des ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts galt es nicht: Die Gegenseite war nicht nur rechtlos, sie war geradezu nicht existent für die Europäer. In der Afrika-Konferenz von 1985 verlangten die Kolonialmächte voneinander, das Territorium, auf das sie in Afrika Anspruch erhoben, auch tatsächlich zu kontrollieren. Nur dann würden die anderen es als legitimen Besitz anerkennen. In der Regel kontrollierten die Kolonialmächte aber nur die Küstenregionen; das Landesinnere raubten sie aus (und nannten das Steuererhebung), und wenn jemand dagegen protestierte, starteten sie Feldzüge, die meist zu einer starken Reduktion der Steuerpflichtigen führten, weil die entweder flohen oder umgebracht wurden. An den Grenzen zu den benachbarten Kolonialmächten stellte man demonstrativ Militärposten auf, was suggerieren sollte, dass man auf sein Gebiet Anspruch erhob und es kontrollierte.
Wie man sieht, war der Erste Weltkrieg mit seinen gegenseitigen Kriegserklärungen, Invasionen und Annexionen eher die Ausnahme von der Regel. Aber weil da alles so schön aufgeteilt war in Freund, Feind, Krieg und Frieden, lehren wir das unsere Kinder bis heute im Schulunterricht.
Kriege, die einfach nicht ausbrechen wollen
Schon ein Vierteljahrhundert später, als 1939 das Deutsche Reich Polen überfiel, wurde die Erwartung, die Kriegsgegner würden sich an dieses Raster halten, bitter enttäuscht. Frankreich und Großbritannien erklärten Deutschland als Verbündete Polens nach dem deutschen Überfall zwar den Krieg, taten aber monatelang gar nichts. Auf Französisch nannte man das „le drôle de guerre“, was mit „der drollige Krieg“ nur unzureichend übersetzt ist, denn für Polen war das nicht so drollig – es blieb nun allein mit der deutschen Dampfwalze.
Als Polen besetzt war, überfiel die Wehrmacht auch gleich noch Frankreich, Belgien und die Niederlande – die beiden letztgenannten ohne jede Kriegserklärung. Die Erwartung, Kriege möchten bitteschön mit Kriegserklärungen beginnen und dann eine Invasion nach sich ziehen, besteht bis heute, sie schwingt immer mit, wenn nach einem Kriegsausbruch Kommentatoren beklagen, dem Angriff sei keine Kriegserklärung vorausgegangen. Als würde das Fehlen einer Kriegserklärung einen Krieg noch schlimmer machen, als er ohnehin schon ist.
Die Aushebelung des Kriegsrechts durch Russland
Inzwischen sind Kriegsausbrüche ohne entsprechende Formalitäten eigentlich schon die Regel. Es gilt: Wer anderswo mit Soldaten einmarschiert, der beginnt einen Krieg. Es wäre ja auch widersinnig, das zu leugnen, denn schließlich tragen die Soldaten Uniformen mit Hoheitssymbolen. Manche glauben, erst Putins „hybride Kriegsführung“ habe diese Gewohnheit abgeschafft. Der Ausdruck wurde 2014 populär, als Putin „un-uniformierte“ Truppen mit Kleidung ohne Hoheitssymbole auf die Krim und in die Donbass-Republiken (und später auch nach Mariupol) schickte, die so taten, als seien sie gar keine Soldaten.
Sie hatten keine Hoheitsembleme, ihre Fahrzeuge hatten keine Nummernschilder, waren damit aber seltsamerweise unbehelligt durch halb Russland gefahren, ohne sich dabei Strafzettel einzuhandeln. Völkerrechtsexperten diskutierten schon damals, ab wann man denn einen Staat als Aggressor brandmarken könne, der sich nicht zu seinen Soldaten bekenne. Was zum Beispiel, wenn ein Staat gar keine Soldaten mehr schickte, sondern nur noch private Söldner, von denen er sich noch dazu in der Öffentlichkeit distanzierte?
Die Macht der Privatsöldner
So neu war das Phänomen aber gar nicht. In Afrika kennt man es seit Generationen: Da stattet die eine Regierung die renitenten Gegner ihres ungeliebten Nachbarn mit Waffen aus, trainiert Kämpfer und schickt sie dann als angebliche Aufständische über die Grenze, distanziert sich aber öffentlich von ihnen. Unterliegen sie, bleibt es dabei. Gewinnen sie, übernehmen sie die Regierung und bedanken sich bei ihrem Mäzen mit Lizenzen für die Ausbeutung wertvoller Rohstoffe.
So tat es Liberia mit Sierra Leone zwischen 1991 und 2002, weshalb der Staatschef Liberias, Charles Taylor, später zu fünfzig Jahren Haft verurteilt wurde. So tat es Uganda 1990 mit Rwanda, wo es zunächst eine ugandafreundliche Regierung installierte, bis beide Regierungen dann Milizen zu den Rohstoffvorkommen im Ost-Kongo schickten und sich darüber zerstritten, wer das größte Stück vom Kuchen beanspruchen durfte. Auch im Tschad und im Sudan kannte man hybride Kriegführung lange bevor Putin sie in Europa einführte, nur nannte man das dort nicht so.
Zur Kriegspartei werde ein Staat erst, meinten deshalb nach 2014 manche Experten, wenn er dabei seine Luftwaffe einsetze. Wenn Bomber und Jagdflugzeuge aus einem Staat in einem anderen Staat Ziele zerstören, kann der Herkunftsstaat das ja nicht auf wild gewordene Privatleute schieben, die außer Kontrolle geraten sind. Diese Argumentation ist auch bereits ein wenig antiquiert – wenn Menschen wie Elon Musk genug Geld haben, in den Weltraum zu fliegen, liegt auch ein kleines Bombergeschwader nicht mehr jenseits ihrer Möglichkeiten. Putins ehemaliger Koch, Jewgeni Prigoschin, der die Söldnertruppe Wagner befehligt, ist nicht mehr weit davon entfernt, auch einen rein privaten Krieg entfesseln zu können.
Wie ein Krieg wahrgenommen wird, zählt
Auch das Prinzip, wonach erst der Einsatz seiner eigenen Kampfflugzeuge ein Land zum Aggressor macht, liegt inzwischen in Trümmern. 2019 wurden Ölförderungsanlagen in Saudi-Arabien mit Drohnen und Marschflugkörpern angegriffen, zu denen sich niemand bekannte. Saudi-Arabien beschuldigte die Huthi-Rebellen im Jemen der Attacke. Die operieren von einem Staat aus, dessen Regierung mit Saudi-Arabien befreundet ist.
Hat damals der Jemen Saudi-Arabien den Krieg erklärt? Nein, denn die jemenitische Regierung ist ja mit Saudi-Arabien verbündet, und letzteres fühlte sich nicht von ihr angegriffen, sondern von den Rebellen. Und wieder geht es nur darum, wie so ein Angriff wahrgenommen wird. Denn kaputt waren die Förderanlagen ja so oder so.
Die Grenze zwischen Krieg und Frieden verschwimmt
Als Kriege noch etwas berechenbarer waren und nach fest vereinbarten Regeln erklärt wurden, wäre wohl kaum jemand auf die Idee gekommen, ein Territorium ohne klare Grenzen zu annektieren, die sich noch dazu fast täglich verändern. Russland hat im Februar 2022, drei Tage vor der Invasion in der Ukraine, die zwei Donbass-Republiken anerkannt, allerdings in den Grenzen, die beide aus der unabhängigen Ukraine als Oblast-Grenzen mitbrachten – obwohl dieses von Russland anerkannte Gebiet von der sogenannten Kontaktlinie, einer Art Waffenstillstandsgrenze, durchschnitten wurde und die russische Armee den westlichen Teil des Gebiets, das der Kreml da anerkannte, noch gar nicht erobert hatte. Das tut sie nach dem ukrainischen Vormarsch nun auch nicht mehr.
Viele in Westeuropa haben damals befürchtet, Russland werde die Annexionen als Vorwand nutzen, bei einem ukrainischen Vormarsch Atomwaffen zu ihrer Verteidigung einzusetzen. Inzwischen ist Cherson komplett unter ukrainischer Kontrolle, die russische Armee ist auf das Südufer des Dnjepr geflohen, und Putin hat keine Atomwaffen eingesetzt. Offenbar betrachtet er Cherson trotz der feierlichen Annexion also doch nicht als russisches Territorium, lässt seinen Sprecher aber das Gegenteil behaupten.
Der Dschungel ist neutral, genau wie die Unsicherheit
Es ist nicht viel übrig geblieben von den alten Konzepten darüber, wie Kriege funktionieren. Nichts ist mehr, wie es war, von der Kriegserklärung bis zum Angriff. Ist Deutschland Kriegspartei, weil es Waffen an eine Kriegspartei liefert und deren Soldaten ausbildet? Vor über fünfzig Jahren im südafrikanischen Grenzkrieg war die Regierung in Pretoria dieser Ansicht. 1978 bombardierte sie deshalb sogar ein Flüchtlingslager in Angola, in dem sie namibische Rebellen vermutete, die von angolanischen Milizen ausgebildet wurden, um in Südafrika Anschläge auszuführen. Offenbar unterscheidet sich die Wahrnehmung der russischen Regierung aber deutlich von der der südafrikanischen.
Es ist, als tappe man im Nebel umher: Ein Staat annektiert Ländereien, die er nie erobert hat, und behauptet dann, Gebiete gehörten ihm, obwohl seine Armee von dort gerade geflohen ist. Menschen stimmen über den Beitritt eines Gebiets zu Russland ab, das unter ukrainischer Kontrolle steht. Und keiner kann genau sagen, ab wann man Kriegspartei ist: Wenn man Soldaten über die Grenze schickt, wenn man ein anderes Land bombardiert oder wenn man das alles tut, sich aber öffentlich davon distanziert oder sogar dafür entschuldigt? Klingt absurd und lächerlich, aber jetzt wird es richtig ernst, denn wie ein berühmter Söldner-Anführer einmal sagte: „Der Dschungel ist neutral – jede Seite kann ihn für sich nutzen.“ Genau wie die Unsicherheit.
Humanitäre Katastrophe oder humanitäre Zonen?
In absehbarer Zeit werden die massiven russischen Luftangriffe auf zivile Ziele in der Ukraine zusammen mit dem Zusammenbruch der Wasser- und Stromversorgung und dem Winter (der in der Ukraine üblicherweise um einiges härter ist als in Deutschland) zu einer humanitären Katastrophe führen, durch die noch mehr ukrainische Flüchtlinge nach Westen getrieben werden. Zum Teil werden sie in der Westukraine unterkommen, zum Teil werden sie nach Polen, Moldawien, Rumänien und in die Slowakei gehen, und ein großer Teil wird am Ende wohl auch in Deutschland ankommen. Angesichts drohender Rezession, zweistelliger Inflationsraten und hoher Energiepreise klingt das wie ein Drehbuch für einen Film über Radikalisierung, Fremdenfeindlichkeit und den Anstieg autoritärer Tendenzen.
Es wird mit Sicherheit dazu führen, dass in Deutschland mehr Menschen fordern werden, „auf Russland zuzugehen“ und die Ukraine zu einem schnellen Frieden zu zwingen. Das Problem mit dieser Forderung ist gleich ein doppeltes: Die humanitäre Katastrophe wird damit nicht größer, kleiner wird sie allerdings auch nicht. Und ein dermaßen erzwungener Frieden kann zum Sturz Selenskyjs und zu einem Partisanenkrieg in der Ukraine führen, wenn sich genug Militärs finden, die diesen Frieden ablehnen und weiterkämpfen.
Natürlich kann man einfach warten, bis das alles passiert, und dann reagieren. So wie man ja auch nach Kriegsausbruch warten konnte, bis Öl und Gas knapp wurden, die Preise durch die Decke gingen, und erst dann Überlegungen anstellte, wie man diesen Preisanstieg und den Mangel an Energieträgern ausgleichen kann. Um sich zu überlegen, wie man auf die Massenvertreibung von Ukrainern durch russische Angriffe auf Kraftwerke und Wasserwerke reagiert, ist es eigentlich auch schon zu spät und zu kalt. Tun wir es trotzdem. Denken wir darüber nach, ob man die humanitäre Katastrophe durch die Schaffung humanitärer Zonen verhindern kann.
Humanitäre Schutzzonen sind eigentlich nichts Neues. Bisher verstand man darunter eine von der Uno beaufsichtigte Schutzzone für Zivilisten, die von den Kriegsparteien nicht angegriffen werden darf oder, wenn sie entsprechend robust geschützt wird, nicht angegriffen werden kann. Das Konzept klingt schöner, als es ist, denn meist scheitert es daran, dass die Uno so etwas mit den Kriegsparteien aushandelt, sich dann aber niemand findet, der bereit ist, das Leben seiner Soldaten zu riskieren, um bewaffnete Kämpfer auch tatsächlich auf Abstand zu halten. Weshalb die Zivilisten, die geschützt werden sollen, dann oft doch von der einen oder anderen Seite massakriert werden, wie seinerzeit in Srebrenica und in Rwanda. Dort befanden sich solche Zonen mitten in feindlicher Umgebung, was es in der Regel unmöglich macht, sie zu verteidigen.
Die Ukraine müsste eine Schutzzone fordern
Hinzu kommt, dass ihre Einrichtung die Zustimmung des UN-Sicherheitsrats braucht und der meist darauf achtet, das entsprechende Mandat so abzufassen, dass die Uno-Truppen eigentlich fast nichts dürfen. In Srebrenica durften sie zur Selbstverteidigung zurückschießen, aber nicht, um unbeteiligte Zivilisten zu verteidigen. Und die niederländischen Blauhelme, die sich damals den bosnischen Serben in Srebrenica mehr oder weniger ergaben, hatte man absichtlich nur mit leichten Waffen ausgerüstet, damit sich die bosnischen Serben nicht provoziert fühlten.
Das alles wäre in der Ukraine ganz anders. Dort wäre die Zone nicht in feindlichem Gebiet, sondern entstünde in Zusammenarbeit mit einer befreundeten Regierung und in sicherem Abstand von der Front. Für ihre Errichtung braucht auch gar keine Entscheidung des UN-Sicherheitsrats. Bittet die Ukraine darum, darf die Nato auf ukrainisches Gebiet vorrücken und dort eine Schutzzone einrichten: mit Flugabwehrgeschützen und sogar der Durchsetzung einer No-fly-Zone.
Im Frühjahr wollte das in der Nato niemand, weil es die Gefahr barg, dass dann Nato-Geschütze, bedient von Nato-Soldaten russische Kampfbomber vom Himmel holen würden. Das galt damals als Ausbruch des Dritten Weltkrieges. Heute wissen wir: Ja, das kann sein, hängt aber davon ab, ob es Russland auch so sieht. Bisher ist die ukrainische Flugabwehr fix genug, die russische Armee von Flächenbombardierungen wie in Syrien abzuschrecken.
Russland schickt vor allem Raketen und Drohnen, also Geschosse ohne Piloten. Daran würde eine Schutzzone nichts ändern. Niemand zwingt die Nato, die russischen Raketenstellungen in der Russischen Föderation oder in Belarus zu beschießen. Es genügt, die Früchte ihrer Arbeit unschädlich zu machen. Schießt man Drohnen und Raketen ab, werden Piloten nicht in Mitleidenschaft gezogen. Das Problem damit liegt paradoxerweise eher auf der ukrainischen Seite.
Eine Schutzzone würde allen helfen
Eine humanitäre Schutzzone ohne UN-Mandat kann nur mit ukrainischer Zustimmung entstehen. Sie müsste allerdings auch beinhalten, dass die Zone nicht zum Rückzugsgebiet für die ukrainische Armee wird. Andernfalls wird sie zum legitimen Ziel für russische Angriffe und aus ist es mit dem Schutz der Zivilbevölkerung. Die Nato müsste dann die Zone nicht nur gegen Russland, sondern auch vor einem Eindringen ukrainischer Soldaten schützen, und die ukrainische Regierung würde die Souveränität über die Schutzzone verlieren, oder besser gesagt: aufgeben müssen.
Deshalb ist eine solche Zone auch etwas anderes als eine reine No-fly-Zone. Eine No-fly-Zone wäre äußerst unangenehm für die Nato und Russland, eine humanitäre Zone unter robustem militärischen Schutz wäre äußerst unangenehm für Kiew, würde vielen ukrainischen Ausgebombten aber die Flucht ins Ausland und den westlichen Nachbarstaaten die Härten einer erneuten Flüchtlingswelle ersparen. Und sie würde paradoxerweise sogar der russischen Propaganda entgegenkommen. Um das zu verstehen, muss man ein wenig in die jüngere osteuropäische Geschichte eintauchen.
Auch die Ukraine wurde aufgeteilt
Von den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert – und dann noch einmal 1939 durch den Hitler-Stalin-Pakt – hat man in Deutschland mancherorts schon gehört. Weniger bekannt ist, dass auch jenes Gebiet, das heute Ukraine heißt, unter verschiedene Großmächte aufgeteilt war. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges gehörten der Osten und das Zentrum zum Russischen Reich, der Westen dagegen zu Österreich-Ungarn. Galizien gehörte zum österreichischen Landesteil, die Karpatho-Ukraine zu Ungarn.
In der Zwischenkriegszeit kam Galizien zu Polen, die Karpatho-Ukraine zur Tschechoslowakei, bis Hitler die zerschlug und Ungarn sich die Karpatho-Ukraine (in der viele Ungarn lebten) unter den Nagel riss. Nach dem Zweiten Weltkrieg sicherte sich Stalin Ostgalizien und Wolhynien und verleibte es der Sowjet-Ukraine ein, Westgalizien blieb bei Polen. Bevor es so weit war, fielen katholische Polen über griechisch-katholische und orthodoxe Ukrainer in Galizien und Wolhynien her und vertrieben sie.
Weil die Wunden bis heute nicht verheilt sind, streut die russische Propaganda seit Jahren Salz hinein, in der Hoffnung, Polen und Ukrainer auseinandertreiben zu können. Eine Nato-Schutzzone, die aufgrund des bisherigen Kriegsverlaufs und der Konzentration der Flüchtlinge in den ehemaligen polnischen Gebieten errichtet werden müsste, wäre natürlich Wasser auf die Mühlen dieser Propaganda.
Russische Fernsehzuschauer und all die Länder, die russische Medien nicht aus ihren Kanälen verbannt haben, würden sofort erfahren, dass der Krieg in der Ukraine nicht stattfindet, weil Russland die Ukraine überfallen hat, sondern weil Polen und Ungarn jene Teile der Ukraine annektieren wollten, auf die sie früher einmal Anspruch erhoben haben. Erschwerend kommt hinzu, dass aus dem Umfeld des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán in den letzten Jahren immer wieder Äußerungen kamen, die perfekt in dieses Propaganda-Szenario passen.
Die Nato kann ein Signal senden
Genau wie Russland Pässe unter russischsprachigen Ausländern in seinen Nachbarstaaten verteilte, verteilte Ungarn auch Pässe an ungarischsprachige Karpatho-Ukrainer, Serben und Slowaken. Am 17. November dieses Jahres gratulierte so ein rechtsradikaler ungarischer Abgeordneter Polen zu seinem Unabhängigkeitstag und wünschte Polen „eine gemeinsame Grenze mit Ungarn“. Die hatte Ungarn zum letzten Mal nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei durch Hitler und der ungarischen Annexion der Karpatho-Ukraine 1939. Deshalb dürfte eine solche humanitäre Zone besonders in den westlichen Landesteilen der Ukraine böse Erinnerungen an die Zeiten wachrufen, als die Ukraine unter ihren Nachbarn aufgeteilt war.
Auch hier gilt: Es ist weniger wichtig, was ist, aber extrem wichtig, wie es wahrgenommen wird. Das gilt auch für Russland, das mit seinen Angriffen auf die zivile Infrastruktur weiter eskaliert, offenbar um seine Verhandlungsposition bei den sich langsam anbahnenden Waffenstillstandsverhandlungen zu verbessern. „Wir können die ukrainische Armee nicht besiegen“, sagen sie, „aber wir können die Zivilbevölkerung ausrotten.“
Die Nato kann ein Signal senden, das den zweiten Teil dieser Behauptung entwertet und damit die ukrainische Verhandlungsposition stärkt – ohne dabei Russland zu bedrohen. Die Botschaft lautet: „Wir können die Zivilbevölkerung schützen.“ Es könnte sein, dass sie damit auch den sozialen Zusammenhalt und die Demokratie in den Mitgliedsländern schützt, mit denen es zurzeit angesichts von Wirtschafts- und Migrationskrisen nicht gerade zum Besten bestellt ist.















