Am 5. September 2022 erließ Russlands Präsident Wladimir Putin per Dekret die „Konzeption der humanitären Politik der Russischen Föderation im Ausland“. Das Erscheinen des Dokuments war seit Monaten zu erwarten, da an der Zentralstelle des Außenministeriums der Russischen Föderation mit Jahresanfang eine Abteilung für internationale Zusammenarbeit in den Bereichen Kultur, Wissenschaft, Bildung und Sport eingerichtet wurde; zur zentralen Aufgabe der neuen Abteilung zählt Strategieentwicklung und Koordination im Bereich der sogenannten Soft Power.
Von einer vollwertigen Außenpolitikdoktrin, wie dies von einigen Medien fälschlicherweise berichtet wurde, ist das Dokument jedoch sehr weit entfernt, ganz bedeutungslos ist es dennoch nicht.
Botschaft aus einer anderen Epoche
In Anbetracht der zur Tagesordnung zählenden Unflätigkeit russischer Führung erscheint die „Konzeption der humanitären Politik der Russischen Föderation im Ausland“ auf den ersten Blick völlig aus der Zeit gefallen zu sein. Man kann sich des Eindruckes kaum erwehren, dass die thematischen Grundlagen des Dokumentes vor knapp einem Jahrzehnt entwickelt, der Verschwiegenheit der Schreibtischlade überlassen und nunmehr nach unwesentlicher Ergänzung um aktuelle ideologisch-passende Schlagworte weiterverarbeitet wurden.
Auf knapp 30 Seiten wird in einem ruhigen, besonnenen Ton dargelegt, wie Russland die internationale Zusammenarbeit in den Bereichen Kultur, Wissenschaft, Bildung, Sport etc. mit friedvollen Mitteln, durch Konferenzen und kulturellen Austausch ausbauen solle; über die Veröffentlichung von Büchern in russischer Sprache gelte es darüber hinaus, ein positives Bild des Landes im Ausland zu vermitteln; schließlich müsse die kulturelle Attraktivität Russlands für Touristen gesteigert werden. Laut der Konzeption sei die russische Kultur die Grundlage der Soft Power Russlands. Die russische Kultur wird dabei als unikales Erbe des multinationalen Volkes der Russischen Föderation und als untrennbarer Teil der Weltkultur bezeichnet.
Der Begriff „Russische Welt“ wird stark instrumentalisiert
Das umstrittene Konzept der „Russischen Welt“ spielt im neuen Dokument ein durchaus gewichtige, wenn auch mit Sicherheit nicht alles bestimmende Rolle. Moskau solle demnach „Traditionen und Ideale der ‚Russischen Welt‘ schützen, bewahren und fördern“. Hierbei gilt es aber zu bedenken, dass der Begriff der „Russischen Welt“ bereits in den 1990er-Jahren in den politischen Diskurs Russlands Eingang fand, seit Anfang des Millenniums in offiziellen Grundlagendokumenten auftaucht und nach der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim und dem Kriegsbeginn im Donbass politisch stark instrumentalisiert wurde.

Ähnliches gilt auch für die Begriffe „Durchsetzung der Rechte“, „Schutz der Interessen“ sowie „Unterstützung bei der Bewahrung kultureller Identität“ der sogenannten Landsleute. Von der blind-rasenden Aggressivität des vom Kulturministerium der Russischen Föderation Ende Januar 2022 veröffentlichten und nach nur wenigen Wochen zurückgezogenen Projektentwurfes „Grundlagen der Staatspolitik zur Erhaltung und Stärkung der traditionellen russischen geistigen und moralischen Werte“ ist die neue Konzeption weit entfernt.
Die geistige Verwirrung der russischen Elite
Freilich finden sich in der „Konzeption der humanitären Politik der Russischen Föderation im Ausland“ nicht wenige Kuriositäten: So erscheint beispielsweise die ausdrückliche Erwähnung eines der zentralen Komponisten des 19. Jahrhunderts, Pjotr Iljitsch Tschaikowski, in einem offiziellen Dokument der Russischen Föderation (angesichts aktiver Versuche des russischen Gesetzgebers, Strafverfolgung für sogenannte Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen einzuführen) in einem pikanten Licht.
Interessant ist ja, dass ausgerechnet das "geistige Potenzial" für die vielen Erfolge Russland beim Sport verantwortlich sein soll und nicht etwa das Staatsdoping...
— Matthäus Wehowski (@MattheusWehowsk) September 6, 2022
Angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und des völligen Beziehungszusammenbruches mit dem Westen lässt die „Konzeption der humanitären Politik der Russischen Föderation im Ausland“ das surreale Gefühl des endgültigen Realitätsverlustes russischer Kaderdiplomatie entstehen und liefert ein weiteres Indiz für die allgegenwärtige ideologische Leere, geistige Verwirrung und Selbstverblendung russischer Führung.
Mangel an Soft Power durch Brutalität kompensiert
Doch so geduldig das Papier auch sein mag, vermag doch kein noch so gut gemeintes Dokument die Wahrheit zu verschleiern. Die ausgeprägte Schwäche Moskaus auf der kulturell-ideologischen Ebene – die sogenannte Soft Power – erweist sich als die eigentliche Achilles-Ferse der Russischen Föderation. Trotz des durchaus im ausreichenden Maße vorhandenen Potenzials gelingt es Russland seit über drei Jahrzehnten selbst im postsowjetischen Raum nur äußerst begrenzt, die eigene kulturelle Attraktivität ansprechend zu gestalten.
Letztlich wird der hegemoniale Anspruch im postsowjetischen Raum von Moskau – ungeachtet spannender Denkanstöße – nicht im Sinne des Prinzips „Führen durch Stärke“, sondern ausschließlich durch militärische, energiepolitische und wirtschaftliche Hard Power im Sinne des Prinzips „Dominieren durch Angst“ ausgeübt. Der brutale, sinn- und planlose Angriffskrieg gegen die Ukraine bildet eine eindrucksvolle Bestätigung dieser These und offenbart zugleich fundamentale Schwächen Russlands selbst im Bereich der Hard Power.
Ein System ideologischer Flexibilität im zerfallenden postimperialen Raum
Die Überkonzentration auf die Vereinigten Staaten im außenpolitischen Diskurs weist darüber hinaus Charakteristika eines postkolonialen Traumas auf und enthüllt den eigentlichen Kern des heutigen Russlands als lediglich einer von 15 Nachfolgerepubliken der Sowjetunion in einem zerfallenden postimperialen Raum. Viele der Probleme, welche die ehemaligen Republiken der Sowjetunion aufweisen, lassen sich auch in der Russischen Föderation, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, wiederfinden. Einen zentralen Punkt stellen dabei der nur in Ansätzen erfolgte Prozess des „Nation Building“ und die vage, ja amorphe Vorstellung über die nationale Identität Russlands dar.
Die Suche nach einer integralen nationalen Identität scheiterte die längste Zeit an der ideologischen Flexibilität Wladimir Putins. Denn für ein gelingendes taktisches Agieren sowie erfolgreiche Kontrolle über die Eliten und die Gesellschaft war die ideologische Allakzeptanz des Kremls eine Grundvoraussetzung. Eine hochgradig apolitische und passive, in einzelne Individuen atomisierte Bevölkerung lässt sich ungleich einfacher kontrollieren als eine jedenfalls über größere Gruppen hinweg ideologisierte und aktive Gesellschaft; wie das Beispiel der späten Sowjetunion zeigt.
Bislang war die russische Führung bereit, jede noch so absurde, marginale und radikale ideologische Strömung im Inland und mittlerweile auch im Ausland zu unterstützen und dadurch steuerbar zu machen. Die einzige Ausnahme von dieser Grundregel bildeten revolutionsaffine Bewegungen; dies aufgrund der Angst russischer Führung vor einem gewaltsamen, von außen gesteuerten Machtwechsel. Aus diesem Grunde schießt – bei aller berechtigten Kritik am repressiven Regime – die Bezeichnung des Machtsystems Putin als ein faschistisches System nach wie vor deutlich über das Ziel hinaus. Auch die Außenpolitik Russlands war die längste Zeit über interessengeleitet, zynisch, ideologisch flexibel und alles andere als idealistisch. Letzteres änderte sich aber.
Putin als Sinnbild des russischen Staates
Die ideologische Flexibilität Wladimir Putins wurde – wohl auch unter dem Pandemie-bedingten Isolierungsdruck der vergangenen zwei Jahre – vom Gedanken der eigenen historischen Mission überschattet. Das sich oftmals ab- und jenseits historischer Faktenlage bewegende Geschichtsbild Wladimir Putins offenbarte sich beim Gespräch mit jungen russischen Unternehmern und Wissenschaftlern im Vorfeld des Sankt Petersburger Internationalen Wirtschaftsforums.
In der Gleichsetzung seiner Person mit Peter dem Großen trat die Überzeugung des russischen Präsidenten vom Gedanken des eigenen historischen Auserwähltseins deutlich zutage. Wirklich überraschend ist Putins Besessenheit mit dem imperialen Traum vom Russischen Reich im siebten Monat des brutalen Angriffskrieges gegen die Ukraine freilich nicht. In diese Missionsidee versunken krönt sich Putin – darin Napoleon Bonaparte nicht unähnlich – gleichsam selbst zum rechtmäßigen quasi-monarchischen Herrscher ganz Russlands – und damit zum Sinnbild des russischen Staates.
„Russische Welt“: Zeit, Steine zu sammeln
Ein zentrales Element dieses imperialen politischen Bewusstseins bildet ein durch handausgewählte geschichtliche Fakten begründeter Missionsgedanke der „Russischen Welt“ und des sogenannten Sammelns russischer Erde. Ursprünglich stand dieser Begriff für die räumliche Ausdehnung des Herrschaftsbereiches des Großfürstentums Moskau durch Eroberung und Eingliederung der Gebiete des unter dem Ansturm der Mongolen im 13. Jahrhundert zerfallenen mittelalterlichen altostslawischen Großreiches Kiewer Rus, dem historischen protostaatlichen Vorläufer der drei ostslawischen Staaten – Belarus, Russland und der Ukraine.
Insofern geht die Argumentationslinie, wonach Russland ohnehin über genug Landmasse verfügt und keine weiteren Expansionen bedarf, weit am eigentlichen Thema vorbei. Ewgenij Anisimow, Professor an der Europäischen Universität Sankt Petersburg und der führende Historiker zur Petrinischen Epoche Russlands, attestiert im Interview mit Novaya Gazeta. Europe der Vorstellung des Raumes eine besondere, im Rahmen des russischen politisch-historischen Bewusstseins am meisten wertgeschätzte Bedeutung. Demnach hat die räumliche Ausdehnung Russlands für die Politik und Bevölkerung einen Selbstwert an sich. Denn allein die Tatsache, dass das Land so riesig ist, stellt bereits einen gewichtigen Grund zum Nationalstolz dar.
Der lange Abgesang des untergegangenen Imperiums
Unabhängig vom weiteren Verlauf des Ukraine-Krieges ist der imperiale Traum Russlands von der Einigung der sogenannten Russischen Welt ausgeträumt. Putin trat zwar als später Geburtshelfer der „Russischen Welt“ an, stellte sich jedoch als ihr endgültiger Grabträger heraus. Das letzte imperiale Aufbäumen des letzten europäischen Imperiums zerbarst in tausend Splitter, doch der lange Abgesang wird noch eine Zeit lang nachklingen.
Wladimir Putins politisches Vermächtnis hätte das Wiedererstarken Russlands als eine innenpolitisch stabile sowie regional dominierende und global respektierte Großmacht sein sollen, retrospektiv betrachtet wird Putins politisches Erbe in die Geschichtsbücher aber als der endgültige, sang- und klanglose Untergang imperialer Bestrebungen Russlands und der Beginn und die eigentliche Initialzündung einer längeren Periode innerer Destabilisierung mit aktuell kaum absehbaren Folgen eingehen.















