Die Russin Olga K. soll im Auftrag des militärischen Nachrichtendienstes der Russischen Föderation (GRU) versucht haben, am Nato-Stützpunkt Neapel Beziehungen zu Mitarbeitern des westlichen Militärbündnisses aufzubauen. Das legen gemeinsame Recherchen eines europäischen Recherchenetzwerks bestehend aus dem Spiegel, der italienischen Tageszeitung La Repubblica, der russischen investigativen Seite The Insider sowie dem internationalen Recherchekollektiv Bellingcat nahe.
In ausführlichen Dossiers rekonstruieren diese Medien die filmreife Lebensgeschichte von Olga K., die unter dem Decknamen Maria Adela Kuhfeldt Rivera zwischen 2013 und 2018 in Neapel lebte. Die „Erfindung von Maria Adela“, wie Bellingcat schreibt, hatte jedoch bereits früher begonnen. Wie die Recherchen zeigen, befand sich die Frau bereits seit einigen Jahren in Europa.
🧵Meet Maria Adela Kuhfeldt Rivera, widow, jeweller, and socialite. The love child of a German father and a Peruvian mother, born in Callao, Peru, and abandoned in Moscow by her mother during the 1980 Olympic Games. pic.twitter.com/wHo6qSmKik
— Eliot Higgins (@EliotHiggins) August 26, 2022
Ihren Freunden und Bekannten in Neapel, die im Rahmen der Recherche befragt wurden, erzählte „Maria Adela“, sie sei als Kind eines deutschen Vaters und einer peruanischen Mutter 1978 in Peru geboren. Nach der Trennung ihrer Eltern im Jahr 1980 sei die Mutter mit der kleinen Maria Adela in die Sowjetunion gereist. Dort sei das kleine Mädchen von ihrer Mutter im Stich gelassen worden. Maria Adela sei von einer russischen Familie adoptiert worden, die sie schwer misshandelte, ihr Adoptivvater habe sie vergewaltigt. Sie wollte weg, nach Europa, was ihr 2006 schließlich gelungen sei.
Die Mission beginnt in Neapel
Die junge Frau mit der abenteuerlichen – und frei erfundenen – Vorgeschichte hielt sich zunächst in der Nähe von Rom auf, wo sie angeblich Gemmologie studierte, später in Malta und Paris – hier gründete sie ein eigenes Schmucklabel namens Serein. 2013 ließ sich Maria Adela schließlich in Neapel nieder und eröffnete eine Schmuckboutique in einem der angesagtesten Viertel der Stadt. Zu diesem Zeitpunkt soll die eigentliche Mission der mutmaßlichen russischen Agentin begonnen haben.
In dieser Zeit soll Maria Adela versucht haben, freundschaftliche Beziehungen zu mehreren Nato-Mitarbeitern aufzubauen. Sie sollte das Nato-Kommando in Neapel infiltrieren – was ihr nach Angaben ihres Umfeldes offenbar auch gelang, wie La Repubblica berichtet.
Im Jahr 2014 wurde Maria Adela in den Lions Club „Napoli Monte Nuovo“ aufgenommen, einen Club, der von Offizieren des Nato-Stützpunkts gegründet wurde und dessen Mitglieder ausschließlich Militärangehörige, Angestellte und Techniker der Atlantischen Allianz oder der 6. US-Flotte sind. Es handelt sich um die Kommandos, die die Nato-Missionen und die Aktivitäten der US-Marine in Europa verwalten – ein begehrtes Ziel für die russischen Geheimdienste. Maria Adela wurde 2015 sogar zur Sekretärin des Clubs ernannt und gehörte fortan zu dessen engagiertesten Mitgliedern. In dieser Zeit habe sie sich häufig mit Angestellten des Nato-Stützpunktes getroffen, mit einem von ihnen soll sie eine kurze Liebesaffäre gehabt haben, berichten Bekannte.
Eine moderne Mata Hari: „Sie hinterließ eine Spur von gebrochenen Herzen“
Die junge Frau mischte in der internationalen Partyszene der Stadt mit, sie nahm an Soireen und Events teil, die von Nato-Offizieren besucht wurden, und wird von Menschen aus diesen Kreisen als „charmante Kosmopolitin“ beschrieben, die sechs Sprachen spricht und das glamouröse Leben liebt, so La Repubblica. Wie Maria Adela dieses Leben finanzierte, sei jedoch für einige ihrer Bekannten schon damals unklar gewesen. Der Schmuck, den sie in ihrem Laden verkaufte, war nicht besonders wertvoll, der Umsatz nicht besonders hoch. Trotzdem war Maria Adela nicht nur sehr aktiv in elitären Kreisen in Neapel, sondern zeigte gerne auf sozialen Medien, wie sie immer wieder in teuren Locations auf der ganzen Welt Urlaub machte. Der Spiegel zitiert in diesem Zusammenhang einen deutschen Nato-Offizier, der damals im Lions Club eine führende Position hatte: „Als der Club kurz vor dem finanziellen Aus gestanden habe, habe Adela den Jahresbeitrag für alle aus eigener Tasche bezahlt. ‚Das war schon seltsam‘, sagt S.“
Diese und weitere Auffälligkeiten im Lebensstil von Maria Adela warfen in ihrem Umfeld offenbar keine größeren Fragen auf, was mit dem Charme der jungen Frau zusammenhängen könnte, so zumindest La Repubblica: „Als moderne Mata Hari war sie für ihre verführerische Art bekannt und hinterließ eine Spur von gebrochenen Herzen, bevor sie sich in Luft auflöste.“ Auch der Spiegel schreibt: „Adelas langjährige Freundin Marcelle d’Argy Smith, ehemalige Chefredakteurin der britischen Cosmopolitan, erinnert sich, dass ‚die Männer nur so auf sie flogen‘. Immer wieder habe ihre Freundin sie gebeten, sie einflussreichen Leuten aus Politik und Gesellschaft vorzustellen, sagt d’Argy Smith.“
Maria Adela und Olga K.
Das abrupte Ende kam 2018. Maria Adela schrieb ein Status-Update auf Facebook, danach gab es von ihr monatelang keine Spur mehr. Ihre Bekannten von damals sagen, dass sie nie verstanden hätten, warum die Frau Italien so plötzlich verließ.
Eine mögliche Erklärung liefert La Repubblica: „Die wichtigste Spur, die Maria Adela mit dem russischen Geheimdienst in Verbindung bringt, ist der russische Pass, mit dem sie nach Italien einreiste. Dieser gehört zu derselben Spezialserie, die auch von den Agenten des GRU verwendet wurde, die versuchten, Sergej Skripal und den bulgarischen Waffenhersteller Emilian Gebrev mit Nowitschok zu vergiften. Nur einen Tag, nachdem Bellingcat und The Insider im September 2018 die Identität dieser Agenten entlarvt hatten, verließ Maria Adela plötzlich Neapel und flog nach Moskau, um nie wieder aufzutauchen.
2018 meldete sie sich ein letztes Mal auf Facebook und verkündete, sie habe eine Wahrheit, die sie „endlich enthüllen“ möchte: Sie sei an Krebs erkrankt, habe sich einer Chemotherapie unterziehen müssen, das sei der Grund, warum sie so lange abgetaucht sei. Das Facebook-Profilbild von Maria Adela, die sonst immer lange, schwarze Haare hatte, zeigt zu diesem Zeitpunkt eine Frau mit kurzer, blonder Bobfrisur.
Seitdem fehlt von Maria Adela jede Spur. Dem internationalen Recherchenetzwerk ist es jedoch gelungen, Informationen aus veröffentlichten russischen Datenbanken miteinander zu verknüpfen und Fotos durch Gesichtserkennungssoftware zu vergleichen, die zur mutmaßlich wahren Identität von Maria Adela führten: „Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei Olga K. und Maria Adela um ein und dieselbe Person“, schreibt der Spiegel. Der Ausgangspunkt soll ein Foto aus einem alten Reisepass der Russin Olga K. gewesen sein. Entscheidende Hinweise sollen Bellingcat zudem von einem russischen Whistleblower geliefert worden sein: Ein Foto von Olga K.s Führerschein aus dem Jahr 2021, das zu einem hohen Prozentsatz mit Maria Adelas Gesicht übereinstimme, und schließlich das Bild auf Olga K.s Whatsapp-Profil: Eine Frau mit blonder, kurzer Bobfrisur – dasselbe Bild, das Maria Adela auf ihrem Facebook-Profil zuletzt benutzt hatte.
Die internationale Recherche enthält viele weitere Details darüber, wie die mutmaßliche russische Spionin in Europa agierte und wie ihre Identität entlarvt worden ist.
Eine „Illegale“ im Dienst von Russland
Maria Adela soll Russland in dieser Zeit als sogenannte Illegale gedient haben. „Es sind Männer und Frauen, die mit aufwendig konstruierten Lebensläufen über Jahre unauffällig im Westen leben, fest integriert in die Gesellschaft der Länder, die sie ausspionieren“, schreibt der Spiegel. Adela K. gehöre offenbar zu jenen Agentinnen, für die der russische Staat großen Aufwand betreibt, so der Spiegel weiter: „Moskau konstruiert für die Topleute komplette Tarnidentitäten und schickt sie in verschiedene Länder der Welt. Dafür, dass sie ihr Leben dem Geheimdienst verschreiben, werden diese Männer und Frauen fürstlich bezahlt. Nach Spiegel-Informationen unterhalten die Geheimdienste GRU und SWR insgesamt bis zu 70 ‚Illegale‘.“
Was bis heute noch fehlt, ist die Antwort auf die wichtigsten Fragen: An welche Informationen versuchte Maria Adela während ihrer Zeit in Neapel zu gelangen, und hat sie über ihre Kontakte tatsächlich Zugriff auf Dokumente der Nato erhalten? Bislang gebe es keine Beweise, dass europäische Nachrichtendienste oder der Nato-eigene Nachrichtendienst über eine russische Spionin im Nato-Umfeld auf europäischem Gebiet Bescheid wussten, schreibt der Spiegel.



