Montagsdemo

Heißer Herbst in Leipzig: Danke für nichts, Putin und Trump

Tausende versammeln sich auf dem Augustusplatz, um gegen steigende Energiepreise zu demonstrieren. Die Umarmung von Rechts nimmt die Linke natürlich nicht an.

Die politische Linke und Rechte wollen einen Heißen Herbst. Beide beginnen mit ihren Montagsdemos heute in Leipzig. 
Die politische Linke und Rechte wollen einen Heißen Herbst. Beide beginnen mit ihren Montagsdemos heute in Leipzig. dpa / Sebastian Willnow

Leipzig - „Eins, zwei oder drei, ob ihr wirklich richtig steht, seht ihr, wenn das Licht angeht.“ Das war der zentrale Satz einer inzwischen abgesetzten Quizshow für Kinder. Und die Kinder mussten sich danach entscheiden für die eine richtige Zahl, denn hinter den anderen beiden versteckten sich falsche Antworten auf Fragen wie: „Was ist der Blubber?“ Oder: „Was versteht man bei Schokolade unter fettreif?“

An diese Quizshow konnte man am Montagabend denken, als Tausende Menschen in Leipzig zusammenkamen, um den sogenannten Heißen Herbst einzuläuten. Und der Ort, an dem sie das taten, der Augustusplatz in Leipzig, verlangte eben allen eine Entscheidung ab: Wo hinstellen?

1) Bei der Kundgebung der rechtsextremen Kleinstpartei „Freie Sachsen“ vor dem Gewandhaus, wo dieses Transparent alle Quizteilnehmer begrüßte: „Das deutsche Volk steht nicht hinter unserer korrupten Regierung“?

Oder 2) nur ein Hamburger Absperrgitter weiter, wo die Straßenbahn Richtung Stötteritz oder Mitliz fährt und Polizisten sich zur Sicherheit aller in einer noch durchlässigen Kette aufgestellt hatten; wo vielleicht so etwas wie die Mitte der Gesellschaft an diesem Abend stand oder einfach nur die Unentschlossenen ihren Zuschauerplatz suchten?

Oder doch 3) vor der Oper bei der Partei die Linke, die ja ebenfalls und noch mal durch ein Gitter getrennt zu einer Kundgebung geladen hatte und wo diese Botschaft prangte: „Es gibt keine Solidarität von Rechts“?

Also, eins, zwei oder drei, wo wird das Licht angehen? Oder werden bald eher alle Lichter ausgehen?

Danke für nichts, Putin und Trump

Es gab an diesem Montagabend in Leipzig keine sogenannte Querfront, natürlich nicht, und das obwohl beide Kundgebungen nur wenige Meter voneinander entfernt waren. Auch keinen Schulterschluss zwischen Linken und Rechten, kein „Getrennt marschieren, gemeinsam schlagen!“, wie es sich die „Freien Sachsen“ und andere rechte Gruppierungen gewünscht und am vergangenen Wochenende vor allem in Prag mit Neid beobachtet hatten.

Dort auf dem Wenzelsplatz waren Zehntausende auf die Straße gegangen, rechte Populisten Seite an Seite mit Kommunisten, prorussischen Extremisten und anderen Menschen, die gegen steigende Energiepreise demonstrierten, den Sturz der Regierung forderten, und alle unter dem Motto „Die tschechische Republik zuerst“ vereint. Was an den neuen Slogan der AfD erinnert: „Unser Land zuerst!“ Danke für nichts, Putin und Trump.

Was es in Leipzig tatsächlich gab: gleich acht fast zeitgleich angekündigte Demonstrationen und Kundgebungen, und man musste zumindest im Vorfeld den inneren Hufeisenschmied bemühen, um auseinanderhalten zu können, welches Demomotto aus welcher Ecke des politischen Gemüsegartens stammt: „Heißer Herbst statt kalte Füße!“ war jedenfalls – wenn auch grammatikalisch nur fast richtig – ähnlich temperiert wie „Heißer Herbst gegen soziale Kälte“. Wobei ja das Einzige, was die Kalte-Füße-AfD mit der Die-soziale-Kälte-Linke verbindet, die schwachen Umfragewerte sind, dazu ein fehlendes Mobilisierungsthema und eine hier und da noch immer romantisierende Nähe zu Russland.

Definitiv Distanz, das wollte die Linke schaffen in Leipzig. Und das konnte man auch hören, vor allem aber lesen. Auf eher linken Transparenten, Plakaten und Schildern stand: „Kriegslasten für einen kapitalistischen Machtkampf? Raus aus der Nato“, „Wir frieren nicht für eure Profite“, „Keinen Krieg mit deutschen Waffen, Schluss mit dem Völkermord“, „Krieg ist der größte Klimakiller“, „Planet vor Profit“, „Lindner enteignen“. Dazu manchmal passend trug man folgende T-Shirtbotschaften: „Ficken für den Frieden“, „Keine Macht den Doofen“, „Live now, die later“, „God hates us all“.

Der Leipziger Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann hatte die auch in der eigenen Partei umstrittene Idee, den Montag für diese Kundgebung zu buchen und als Hauptredner Gregor Gysi, der kurz vor acht Uhr abends die Bühne betrat. Über ihm an der Fassade der Oper stand „Future now!“, was mehr mit dem Programm der Bühne zu tun hatte als mit den politischen Ambitionen des Redners.

Aber Gysi hat es immer noch drauf. Er freute sich, dass seine Partei endlich wieder in der Lage ist, solche Kundgebungen zu organisieren, und er sprach gleich zu den rechten Gästen, die sich ins Publikum gemischt hatten: „Nehmen Sie sich eine demokratische Partei, ich sage Ihnen nicht welche.“ Der Montag, erinnerte Gysi alle, gehöre nicht den Nazis. Und dann wurde er grundsätzlich: Warum sei Erdogan der Vermittler in diesem Krieg und nicht Scholz oder Macron? Wie kann Deutschland nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs an diesem Krieg verdienen? Wie könne es sein, dass alle vierzehn Minuten ein Mensch durch eine deutsche Waffe sterbe? Und warum stecke eigentlich so viel FDP in der Ampelregierung? Dafür gab es besonders viel Applaus.

Niemand kann daran gehindert werden für oder gegen etwas auf die Straße zu gehen

Es ist anders diesmal in Leipzig, anders als zuletzt, als hier Menschen auf die Straße gingen. In der Pandemie konnte man noch selbst Einfluss nehmen, selbst eine Entscheidung treffen, ob man sich impfen lassen will oder nicht. Die Folgen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine sind dagegen unausweichlich, unabwendbar. Sie sind jeden Tag auf dem Einkaufszettel nachzulesen, sie werden bald als Rechnung verpackt in den Briefkästen landen. Man kann vielleicht aus Trotz beschließen, nichts für Gas und Strom zu bezahlen, wie die Initiative „Don’t pay, UK“ es in Großbritannien vorschlägt. Nur bringt das auch nichts. Also Plakat malen und raus.

Friedliche Demonstrationen sind ein demokratisches Grundrecht, niemand kann daran gehindert werden, für oder gegen etwas auf die Straße zu gehen. Und wer wüsste das besser als die Leipziger. Kundgebungen und Proteste auf und um den Augustusplatz herum haben eine lange Geschichte in der Stadt: Novemberrevolution 1918, Maidemonstration 1953, Montagsdemos ab 1989, Anti-Hartz-Bewegung ab 2004, Legida und Anti-Legida ab 2015, „Querdenker“-Demonstrationen und andere Spaziergänge gegen die Corona-Maßnahmen ab 2020. Und jetzt ist schon wieder Montag. Und schon wieder sind die Leute hier.

So unübersichtlich ein Ort ist, an dem mehrere Kundgebungen stattfinden, so unterschiedlich sind auch die Meinungen.

„Fast jeder zweite Deutsche will demonstrieren“

Was tun, wenn man der Meinung ist, dass das Ölembargo Ostdeutschland mehr schadet als Putin? Dass Nord Stream 2 besser in Betrieb genommen werden sollte? Was tun, wenn die Erhöhung des Kindergelds um 18 Euro nicht ausreicht, um die gestiegenen Essenspreise in Schulen und Kitas auszugleichen? Wenn man den nächsten Nebenkostenbescheid fürchtet oder grüne Politik für existenzgefährdend hält? Was tun, wenn man auf keine persönlichen Zufallsgewinne in diesem Herbst hoffen kann? Was wenn die Solidarität mit der Ukraine Grenzen kennt? Was wenn die Erde flach ist und Hillary Clinton ein Echsenmensch, wenn Chemtrails uns vergiften und Bill Gate Corona erfunden hat? Was wenn man Verschwörungsgläubigen oder Kriegsschuldverdrehern oder Nazis oder anderen antidemokratischen Kräften nicht die Meinungshoheit überlassen will?

Und was verdammt noch mal soll man tun, wenn man seit Wochen diese Schlagzeilen liest: „Fast jeder zweite Deutsche will demonstrieren“, „Innenministerin warnt vor hohem gesellschaftlichen Konfliktpotenzial“, „Drohen Deutschland soziale Unruhen?“, „Ampel befürchtet Proteste und rechte Mobilisierung“, „Rechtsextremisten mobilisieren in Sachsen zu Protesten“, „Verfassungsschützer warnt vor deutschem Wutwinter“  – ja, was also tun? Zu Hause bleiben? Auf die Straße gehen? Dem Fußballphrasenkanzler Olaf „You'll never walk allone“ Scholz glauben, der verspricht: „Wir kommen, was die Versorgungslage betrifft, nach allem, was wir heute ermessen können, durch den Winter.“ Und was ermessen wir dann morgen? Die Lunte scheint an beiden Enden zu brennen.

Gysi und Elsässer sprechen in Leipzig

Seit August arbeitet eine neue Einheit im Bundesamt für Verfassungsschutz, sie trägt den nachvollziehbaren Namen „Komplex“ und soll herausfinden, wie heiß nun der Herbst und wie wütend der Winter werden könnten. Ob es etwa den Extremisten gelingt, am gesellschaftlichen Mainstream anzudocken, um dort die Wut, die Verzweiflung, die Ängste abzuschöpfen, die sie für ihre Agenda gut gebrauchen können. Die da wären: Spaltung, Destabilisierung, Radikalisierung. Zwischenstand: Die Damen und Herren Verfassungsschützer sind sich darin einig, dass es durchaus ein erhöhtes Mobilisierungspotenzial gibt, viele Gründe für soziale Konflikte und dass auch Putins Fake-News-Trolle dafür sorgen könnten, die Leute auf die Straße zu treiben. Uneinigkeit herrscht darüber, wie hoch die Bereitschaft ist, die mal mehr, mal weniger offen im Netz geteilten Gewaltfantasien tatsächlich auszuleben.

Eine Stunde, bevor Gysi seine Rede in Leipzig hielt, stand Jürgen Elsässer auf der anderen Seite der Straßenbahnlinien. Der Gründer und Chefredakteur des rechten Monatsmagazins Compact sprach Richtung Gegenveranstaltung: „Die Patrioten reichen euch heute die Hand, schlagt diese Hand nicht aus.“ Und dann stimmte der von Elsässer angeleitete Patriotenchor ein „Sahra! Sahra! Sahra!“ an, weil die in Leipzig von ihrer Partei nicht erwünschte Sahra Wagenknecht offensichtlich die Querverbindung sein soll zwischen den Fronten. Soweit ist es also schon gekommen. Als Elsässer sich anschließend beim Zitieren von Brecht und Marx und Thälmann in der Geschichte verirrte, konnte man in Ruhe die eher rechten Plakate studieren: „Nord Stream 2 jetzt, Querfront jetzt“, „Lasst euch alle impfen, ich möchte eine größere Wohnung“, „Freiheit“, „Russen und Gas = Freundschaft und Licht“, „Wir sind die Mitte“. Und auch hier noch ein Blick auf die T-Shirts: „Junge Nationalisten“, „N Scheiß muss ich“, „Sturmwehr“,„ Querdenker“, „ DDR“, „Russia“.

Dass rechte Proteste nicht aus einer materiellen Betroffenheit heraus organisiert werden, dass bei rechten Protesten nicht für soziale Gerechtigkeit, Gleichheit oder höhere Steuern demonstriert wird, dass rassistische Motive hinter einer Ich-bin-weder-links-noch-rechts-Rhetorik versteckt werden und dass die Wortführer wie Elsässer eine Art Themen-Hopping betreiben - darüber hätte man lange debattieren können an diesem Abend in Leipzig.

Doch dann wurde es dunkel und noch unübersichtlicher. Als die eher rechten Spaziergänger und die eher linken Demoläufer sich jeweils auf den Weg machten, war klar, dass es nicht bei Beschimpfungen und Beleidigungen und gezückten Mittelfingern bleiben würde. Nur einem war wohl gar nichts klar. Dem Autofahrer, der einen Polizisten anherrschte, er solle ihm den Weg freimachen. „Siehst du nicht, was hier los ist“, fragte der Beamte und bekam einen Gegenfrage zurück: „Nee, was denn?“ Tja, eins, zwei oder drei, und wer erklärt es ihm jetzt?