Die Rede Wladimir Putins anlässlich der Annexion von vier teilbesetzten ukrainischen Regionen Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja fand im Georgssaal des Großen Kremlpalastes statt. Im selben Saal wie Putins Rede anlässlich der Krim-Annexion im März 2014. Obwohl die Zusammensetzung der Gäste mit den Festivitäten vom März 2014 vergleichbar war, könnte die Stimmung jedoch unterschiedlicher kaum sein.
Von patriotischer Aufbruchsstimmung und allgegenwärtiger Begeisterung des sogenannten „Russischen Frühlings“ blieb nichts zurück. In den Äther blickten ausgezehrte, sorgenvolle, erschöpfte Gesichter. Resignation und Ratlosigkeit waren förmlich spürbar. Der traditionell kurze „Russische Frühling“ machte endgültig dem langen, kalten und trostlosen „Russischen Herbst“ Platz.
Heldenpantheon des neuen Russlands
Inhaltlich bot Wladimir Putins Rede nichts grundlegend Neues. Eingangs skizzierte der Kremlchef die historische Bedeutung der zu annektierenden Gebiete und gedachte aller russischen Gefallen der Kampfhandlungen – bereits an dieser Stelle schrillten die ersten Alarmglocken. Wir werden stets der Helden des „Russischen Frühlings des Jahres 2014“ gedenken, betonte Putin und zählte dabei Ethnonationalisten und Kriegsverbrecher Alexander Sachartschenko, Arsen Pawlow, Wladimir Schoga und andere Namen auf.
Das Heldenpantheon des neuen Russlands nimmt damit klare und umso erschreckendere Formen an. Pikanterweise übersah Putin geflissentlich die in Ungnade gefallenen zentralen politischen Figuren des Frühjahres 2014 Alexey Tschalyj und Natalja Poklonskaja.
Vom nicht allzu „lebendigen Volkskörper“
Mit Kritik an Politikern der spätsowjetischen Epoche sparte Wladimir Putin nicht. Die von Staatschefs der drei slawischen Sowjetrepubliken abgeschlossenen Belovezha-Abkommen, welche die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten und das Ende der UdSSR bedeuteten, haben die russische Volkseinheit zerstört, klagte Putin an. Wie bereits nach der Oktoberrevolution wurde dadurch der „lebendige Volkskörper“ auseinandergerissen. Mit der „Wiedereingliederung“ von Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja werde ein Akt historischer Gerechtigkeit vollzogen.
Ein Scheinangebot an die Ukraine
Die Ukraine rief Putin dazu auf das Kämpfen mit sofortiger Wirkung zu beenden und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Denn Russland sei stets zu Verhandlungen bereit gewesen und sei es nach wie vor. Daran habe sich nichts geändert, so Putin. Über die Regionen Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja werde jedoch nicht mehr verhandelt. Diese Verbindung halte nämlich für die Ewigkeit, zeigte sich Putin siegessicher.
Westens Weltherrschaftspläne
Der Westen habe „kalte und hoffnungslose 1990er-Hungerjahre“ Russlands für eigene Zwecke missbraucht. Nachdem Moskau jedoch wiedererstarkt sei, entfaltete der „kollektive Westen“, allen voran die USA, einen „hybriden Krieg gegen Russland“. Seine Souveränität werde Moskau jedoch zu verteidigen wissen. Russland werde sich niemals zu einem gesichtslosen Sklavenhaufen degradieren lassen. Können wir es denn wirklich wollen, dass an Stelle der Worte „Mama“ und „Papa“ die Begriffe „Elternteil 1“ und „Elternteil 2“ treten, richtete Putin eine Frage direkt an die russische Bevölkerung.
Die sogenannte „regelbasierte Ordnung“ des Westens sei nichts als eine Farce. Der Westen solle seine „Weltherrschaft der Despotie und Apartheid“ endlich aufgeben, predigte Putin. Westlicher Raubbau an der gesamten Welt müsse aufhören. So habe die EU das ukrainische Getreide geraubt und dem globalen Süden lediglich Restlieferungen überlassen.
Statt Freiheit und Demokratie bringe der Westen sowie die USA „Sklaverei und Unterdrückung“. Die Vereinigten Staaten seien die wahren Erben Goebbels'scher Lügen, polterte Putin. Die USA herrschen ganz unverschämt global mittels Faustrecht. So habe Washington die beiden Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 zu zerstören versucht. Denn schließlich verstehe doch jeder, wessen Interessen Angriffe auf die Energieversorgungsinfrastruktur Europas dienen können. Ein köstlicher Hinweis auf die – von Putin-Fans dies- und jenseits des Ural – geliebte und scheinbar alles zu erklären vermögende Cui bono-Frage.
Nach wie vor seien Deutschland, Japan und Südkorea durch die USA okkupiert und in ihrem Handeln unfrei. Spannenderweise sprach Putin im übernächsten Satz vom „totalitären und militaristischen Charakter“ Deutschlands und legte damit eine schier unüberwindbare Logiklücke offen. Zugegebenermaßen handelte es sich bei Weitem nicht um den ersten und auch nicht um den letzten Denk- und Logikfehler des russischen Präsidenten an diesem Tage.
Auch eine neuerliche Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen wollte sich Wladimir Putin nicht nehmen lassen. Die USA sei der einzige Staat, welcher jemals Atomwaffen in einem militärischen Konflikt eingesetzt und damit einen Präzedenzfall geschaffen habe, sprach Putin süffisant.
Die Diktatur der westlichen Eliten richte sich gegen alle Gesellschaften, auch gegen die Völker der westlichen Staaten selbst. Die totale Verleugnung des Menschen, die Untergrabung des Glaubens und der traditionellen Werte, die Unterdrückung der Freiheit nehme die Züge einer „verkehrten Religion“ an – eines regelrechten Satanismus, beschwerte sich Russlands Staatschef. In der Bergpredigt, erinnerte Putin die globale Zuhörerschaft, habe Jesus Christus die falschen Propheten mit den Worten „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ angeprangert. Mit den Worten: „Die giftigen Früchte ihrer Untaten werden für die Menschen bereits offenbart – auch im Westen.“ setzte sich Putin kurzerhand mit Jesus Christus gleich und erreichte damit den absoluten Tiefpunkt seiner schockierenden Rede.

Mit den einem Kampfaufruf gleichenden Worten „Die Wahrheit ist auf unserer Seite! Hinter uns Russland!“, beendete Putin seine wirren Ausführungen. Die offizielle Zeremonie schloss mit der Unterzeichnung der Beitrittsabkommen mit den teilbesetzten ukrainischen Gebieten Donezk, Cherson, Luhansk und Saporischschja zur Russischen Föderation ab.
Freies Assoziieren und Stammtischparolen
Auch wenn Wladimir Putins Rede inhaltlich nichts grundlegend Neues bot, war der Grad an Absurdität und Abstrusität wahrlich überraschend. Bereits nach etwa einem Drittel der Redezeit könnte man glatt den Eindruck gewinnen, dass Putin den Vereinigten Staaten den Krieg erklären möchte. Die annektierten Gebiete und die Ukraine waren letztlich nicht viel mehr als eine Randnotiz.
Über weite Teile glichen die Ausführungen Wladimir Putins einem freien Assoziieren mit einem nur in Ansätzen vorhandenen roten Faden. In der Tat drängte sich der Eindruck auf, weniger einem erfahrenen Staatsmann und Präsidenten einer atomaren Großmacht als vielmehr einem klassischen Stammtischpolterer zuzuhören. Shaun Walker vom „The Guardian“ fühlte sich durch Wladimir Putins Äußerungen gar mehr an einen verärgerten Taxifahrer als an einen Staatschef erinnert.
Von einem in sich stimmigen, einigenden politischen Narrativ, der von russischen Medien angekündigten umfassenden Problemdarlegung und einer klaren Lösungsskizze war Putin an diesem Nachmittag weit entfernt. Einen zwingenden Nachteil muss diese Tatsache aus der Sicht des langjährigen russischen Staatschefs jedoch keinesfalls bedeuten – dank vager Erläuterungen und amorpher Andeutungen gelang es Putin Deutungshoheit über seine weiteren Schritte und maximale Flexibilität in der Entscheidungsfindung zu wahren. Damit bewies Wladimir Putin einmal mehr die Fähigkeit zum taktischen Lavieren und ließ sich nicht in die Karten schauen.
Interessanterweise war über mehrere Stunden nur der Eröffnungspart von Wladimir Putins Rede unter Hinweis „Fortsetzung folgt“ auf offizieller Webpräsenz des russischen Präsidenten zu sehen. Der Rest sollte deutlich später erscheinen. So konnte man sich des Eindruckes kaum erwehren, dass auch die Kremlmitarbeiter mit den wirren Ausführungen des russischen Präsidenten nicht zurechtkamen.
Völkischer Nationalismus à la Russe
Nach dem offiziellen Part verlagerten sich die Feierlichkeiten auf den Roten Platz. Im Rahmen eines aufwendigen Konzertes trat Wladimir Putin erneut vors Publikum, um seine zunehmend vom geradezu religiösen Eifer erfüllten Hasspredigten gegen den Westen fortzuführen.

Die Festlichkeiten bestätigten die allerschlimmsten Befürchtungen. Russlands Regime bedient sich unverhohlen wesentlicher Elemente des völkischen Nationalismus. Die aufwendig inszenierte Darbietung der Staatshymne Russlands erfolgte durch den russischen Musiker Shaman, welcher mit der im Juli 2022 erschienenen – vulgär völkischen – Single „Ich bin Russe“ („Ja russkij“) die Herzen vieler russischer Nationalisten im Sturm eroberte.
Es sollte jedoch noch wesentlich schlimmer kommen: Neben Wladimir Putin sprach an diesem Abend unter anderem auch Iwan Ochlobystin. In seiner gewohnt exzentrischen Manier meinte Ochlobystin, die sogenannte Spezialmilitäroperation solle weder in eine „Anti-Terror-Operation“ noch in einen „Vaterländischen Krieg“ umbenannt werden, vielmehr bedürfe es der Verkündung eines „Heiligen Krieges“. Denn die „Alte – von Wahnsinnigen, Perversen und Satanisten angeführte – Welt“ habe sich zu fürchten. Im Gegensatz zu Russland fehle dem Westen der „wahre Glaube“ und die „wahre Weisheit“.
Ochlobystin ist eine seit den frühen 90er-Jahren bekannte schillernde Persönlichkeit, über viele Jahre Enfant terrible russischer Medienszene, Produzent, Regisseur, Schauspieler, orthodoxer Priester und seit 2011 auch Hobbypolitiker. Ochlobystin ist für seine radikalen nationalkonservativen, antiwestlichen, antiliberalen, offen homophoben Positionen bekannt. Seit 2014 gilt Ochlobystin als ein aktiver Verfechter des russischen Krieges im Donbas. Noch Anfang dieses Jahres würde die schirre Vorstellung eines gemeinsamen Auftrittes von Wladimir Putin und Iwan Ochlobystin völlig absurd anmuten. Für den eigenen Machterhalt ist Putin aber zu allem bereit.
Die scharfe Rechtswendung des Putin’schen Regimes sollte mittlerweile nicht überraschen – und dennoch war diese Entscheidung über viele Jahre keinesfalls vorgezeichnet: Über viele Jahre scheuten Russlands Führung und Wladimir Putin vor einer zu starken Instrumentalisierung des russischen Ethnonationalismus und warnten bei zahlreichen Gelegenheiten vor seinem enormen Sprengkraftpotential für einen Vielvölkerstaat wie Russland. Die langjährige Ablehnung des russischen Ethnonationalismus durch den Kreml kam beispielsweise in der umstrittenen Verunglimpfung des (damals noch nicht) führenden Oppositionspolitikers Alexey Nawalny als russischen Nationalisten.
Ein neuer volksnäherer, nationalerer und Botox-freier Putin?
Schließlich gilt es auch ein kleines pikantes, aber nicht unwichtiges Detail zu beachten: Bei seiner gestrigen Rede hat Wladimir Putin im Gegensatz zu seinen üblichen Auftritten auffällig Botox-frei ausgesehen. Angesichts der minutiösen Inszenierung des Auftrittes kann es sich wohl kaum um ein Zufall handeln. Vielmehr dürfte es um die Erstpräsentation eines neuen Öffentlichkeitsbildes Wladimir Putins handeln.
Die zahlreichen Falten verleihen Putin ein zu seinem offen zur Schau gestellten radikal-nationalistischen Weltbild passendes Image eines bodenständigen und volksnahen Politikers – des Vaters wiedererwachter russischer Nation.
Vor den Augen der sprachlosen Welt entfaltete sich am gestrigen Tage der nächste Akt einer schrecklichen Tragödie.

