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Treffen zwischen Lawrow und Cavusoglu in der Türkei: Der Kampf um Einfluss

Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat sich mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu getroffen. Was sind die Folgen? Ein Gastbeitrag.

Sergej Lawrow (l), Außenminister von Russland, war in die Türkei gereist. Mit Mevlüt Cavusoglu, Außenminister der Türkei, sprach er unter anderem um die Sicherung von Weizenexporten aus der Ukraine.
Sergej Lawrow (l), Außenminister von Russland, war in die Türkei gereist. Mit Mevlüt Cavusoglu, Außenminister der Türkei, sprach er unter anderem um die Sicherung von Weizenexporten aus der Ukraine.Burhan Ozbilici/AP/dpa

Bei der gemeinsamen Pressekonferenz von Sergej Lawrow und seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu ging es unter anderem um die Zukunft der ukrainischen Getreideexporte aus Häfen über das Schwarze Meer, die unter Kiews Kontrolle stehen. Ferner verwies Lawrow auf die geopolitische Ausgangslage, kritisierte die Politik der USA und EU scharf und erläuterte die gemeinsamen Perspektiven von Ankara und Moskau.

Beide Außenminister lehnten westliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten der eigenen oder anderer Länder ab. Bemerkenswert ist hierbei, dass der einflussreiche Nato-Staat Türkei die westlichen Bündnispartner rügt, als auch in welchem Ausmaße sich Ankaras Außenpolitik unabhängig von der Doktrin Brüssels macht und die eigenen geopolitischen Perspektiven betont. Welches Gewicht die Türkei innerhalb der Nato besitzt, wird schon an den Beitrittsverhandlungen Schwedens und Finnlands deutlich, die sich auch innenpolitisch auf die Aspiranten des Nordatlantischen Bündnisses auswirken.

Dem Treffen in Ankara war ein zweitägiger Gipfel in Moskau vorausgegangen zur Annäherung Syriens und der Türkei.

Ankaras und Moskaus geostrategische Gemeinsamkeiten

In diesem Zusammenhang ließen das russische und das türkische Außenministerium verlautbaren, dass Diplomaten beider Staaten die Vorbereitungen für ein geplantes Gipfeltreffen der Außenminister Russlands, der Türkei, Irans und Syriens besprochen hätten.

Nicht nur als Anrainer des Schwarzen Meeres besitzen Russland und die Türkei gemeinsame, geostrategische Interessen. Diese gehen geographisch weit darüber hinaus, von Nordafrika und Syrien über den Südkaukasus bis hin nach Zentralasien.

Ende 2020, als es zum Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan kam, warf Moskau sein geopolitisches Gewicht in die Waagschale, um im „Nahen Ausland“, wie man in Russland die ehemaligen Sowjetrepubliken zu nennen pflegt, seinen Einfluss zu verstärken und auszubauen.

Russland verstärkt seine Rolle, in die es seit dem Ende der Sowjetunion zunehmend geraten ist, nämlich sich als weltpolitische Schutzmacht der orthodoxen Welt zu inszenieren. Ob im Nahen und mittleren Osten, auf dem Balkan, in Nord- und Ostafrika, oder jetzt im Südkaukasus, vertritt Moskau die Interessen der Staaten, deren Bevölkerung zur Mehrheit der orthodoxen christlichen Gemeinschaft angehören, was spätestens seit dem Beginn des Bürgerkrieges in Jugoslawien zu Beginn der 1990er Jahre zu erkennen war. Dies fügt sich in eine historische Kontinuität, welche schon im Krimkrieg und dessen Ursachen – in den 1850er Jahren – ihren Anfang nahm.

Im Westen – wo ahistorische und areligiöse Betrachtungsweisen dominieren – wird dieses Phänomen unterschätzt oder nicht wahrgenommen, aber unverkennbar ist, dass Russlands Eingreifen im syrischen Bürgerkrieg, oder die historische Funktion als Schutzmacht der Armenier und Serben, vor allem aber der Einmarsch in der Ukraine von Wladimir Putin in diese Richtung instrumentalisiert wurde. Im Nahen Osten kommt die Weltgemeinschaft an Russland schon lange nicht vorbei.

Russland als Schutzmacht der orthodoxen Christen

Die dort verbliebenen Christen, in der Geburtsstätte des Christentums, überwiegend dem orthodoxen Zweig des Christentums zugehörig, betrachten Moskau als Schutzmacht, ob in Syrien, dem Irak, Libanon oder Ägypten, gerade nach 20 Jahren von Washingtons „War on Terror“ in der Region, welcher sich verheerend auf die Region ausgewirkt hatte, vor allem aber auf die dortigen christlichen Gemeinden.

Aber was versteht man unter dem Ausspruch Moskau als drittes Rom? Hierzu ist ein kurzer historischer Exkurs notwendig.

Als im Jahr 1883 die Krönungsfeier des Imperators Alexander III. in Moskau stattfand, erklang während der Zeremonie die Kantate „Moskau“ von Pjotr Tschaikowski, in der die Geschichte des Moskauer Reiches musikalisch reflektiert wurde. Darin heißt es, Russland sei als Leitstern für die slawischen Völker Europas aufgegangen, Moskau werde „den Unterdrückten ein Befreier sein“, denn eine Prophezeiung laute: Rom ist zweimal gefallen, doch das dritte Rom besteht und ein viertes wird es nicht geben!

Dieser Ausspruch bezog sich auf den Bruch zwischen Rom und Konstantinopel, indem Konstantinopel, das spätere Byzanz – also das heutige Istanbul – sich als zweites Rom interpretierte, bis zur Einnahme durch die Osmanen, worauf Moskau dann zum dritten Rom, zum Zentrum der christlichen Orthodoxie aufstieg.

Russland als Erbe von Byzanz?

Im heutigen Russland wird das eigene Land gerne auch von Historikern als Erbe des Byzantinischen Reiches definiert. Der russisch-orthodoxe Bischof Tichon Schevkunov, der als Beichtvater des Präsidenten gilt und von manchen als „Rasputin von Putin“ bezeichnet wird, hat 2008 – pünktlich vor den Präsidentschaftswahlen – einen Film im russischen Staatsfernsehen präsentiert, der Parallelen zwischen Byzanz und Russland zieht. Der Film „Der Untergang des Imperiums“ ist eine Mahnung an das russische Volk, dass Russland ohne starke Macht das gleiche Schicksal teilen wird wie das Byzantinische Reich.

Sicherlich ist im heutigen Russland diese Version des dritten Roms keine offizielle Staatsdoktrin, auch wenn Wladimir Putin die Kirche auch als Stütze seiner Herrschaft interpretiert oder instrumentalisiert. Aber die weltpolitischen Verläufe der letzte Jahre, vor allem der vergangenen 13 Monate, haben zumindest in der Außenpolitik Modelle dieser Denkschule wieder an die Oberfläche gebracht. In Kiew begünstigte man diese Betrachtungsweise Moskaus durch das Vorgehen gegen die Orthodoxe Kirche der Ukraine.

Was nun die Türkei angeht, so fällt der Blick auf die Beziehungen zu Russland, welche in der jüngeren Vergangenheit diversen Höhen und Tiefen ausgesetzt war, pragmatisch aus. Spätestens seit dem Putschversuch gegen Präsident Erdogan, im Sommer 2016, ist die Skepsis gegenüber den USA gewachsen und wird Russland daher als Gegenwicht angesehen. Was Russlands Beziehungen zur christlichen Orthodoxie angeht, erinnern türkische Historiker gerne an jene historische Periode, in der Konstantinopel durch die Osmanen belagert wurde und führende Vertreter der orthodoxen Kirche verkündeten: „Lieber den Turban des Sultans als die Tiara des Papstes“.

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