Kolumne

Slavoj Zizek: ChatGPT sagt das, was unser Unbewusstes radikal verdrängt

Chatbots sind Maschinen der Perversion und sie verschleiern das Unbewusste mehr als alles andere, schreibt Slavoj Zizek. Eine Analyse digitaler Intelligenz.

Slavoj Zizek
Slavoj Zizekimago

Vor einiger Zeit habe ich einen Unfall beschrieben, der mir passiert ist: Ein schwarzer Freund war so begeistert von dem, was ich gerade gesagt habe, dass er mich umarmte und ausrief: „Jetzt kannst du mich einen ‚N....r‘ nennen!“

Kürzlich behauptete ein Kritiker, dass diejenigen, die hier mit mir übereinstimmen, „verrückt“ seien: „Das Problem ist, dass Žižeks Argumentation auf seiner Freiheit beruht, rassistische Ausdrücke zu verwenden. Žižek verwendet das N-Wort als Argument gegen die politische Korrektheit und impliziert damit, dass schwarze Menschen, die nicht wollen, dass man sie rassistisch beschimpft, politisch korrekt seien. Und daher unvernünftig. Und sicher, vielleicht hat es den Mann, mit dem er gesprochen hat, überhaupt nicht gestört. Aber ob man das N-Wort als Nicht-Schwarzer sagt oder nicht, sollte nicht davon abhängen, ob man eine einzelne schwarze Person findet, die es einem ‚erlaubt‘. Die Art, wie man Worte verwendet, sollte darauf beruhen, wie man die Welt versteht. Beim N-Wort handelt sich um ein Wort, das benutzt wurde, um den Besitz einer Rasse durch das Eigentum einer anderen direkt zu rechtfertigen. Das ist es, was mich beschäftigt, Mann.“

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Zur Person
Slavoj Zizek wurde am 21. März 1949 in Ljubljana, SR Slowenien, Jugoslawien, geboren. Er ist Philosoph, Forscher am Institut für Philosophie der Universität Ljubljana und internationaler Direktor des Birkbeck Institute for the Humanities der Universität London. Er ist außerdem Professor für Philosophie und Psychoanalyse an der European Graduate School und Global Distinguished Professor für Germanistik an der New York University und arbeitet zu Themen wie Kontinentalphilosophie, Psychoanalyse, Politische Theorie, Kulturwissenschaft, Kunstkritik, Filmkritik, Marxismus, Hegelianismus und Theologie. Er gehört zu den bekanntesten lebenden Philosophen der Welt und ist Kolumnist der Berliner Zeitung.

Es war ein Ausdruck der Freundschaft

Lassen Sie mich die Dinge absolut klarstellen: Genau wie ein Chatbot ignoriert mein Kritiker den offensichtlichen Kontext meines Beispiels. Ich habe das N-Wort nicht in einer Kommunikation verwendet (und tue es auch nie), und der Schwarze, der mir sagte: „Jetzt kannst du mich ‚N....r‘ nennen!“, meinte offensichtlich nicht, dass ich es wirklich tun sollte. Es war ein Ausdruck der Freundschaft, der auf der Tatsache beruhte, dass Schwarze dieses Wort gelegentlich untereinander auf ironisch-freundliche Weise verwenden.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass, wenn ich ihn wirklich als ‚N....r ‘ ansprechen würde, er im besten Fall verärgert reagieren würde, als ob ich den offensichtlichen Punkt nicht verstanden hätte. Seine Bemerkung gehorchte der Logik eines „Angebots, das abgelehnt werden soll“, was ich an anderer Stelle ausführlich erläutert habe. Ein Beispiel: Wenn ich etwa sage „Was Du jetzt für mich getan hast, war so nett, dass Du mich umbringen könntest und es mir nichts ausmachen würde!“, dann erwarte ich definitiv nicht, dass mein Gegenüber „Okay!“ sagt und ein Messer zückt.

Die Dummheiten von Chatbots sind genau ihr Wert

Meine Vermutung ist, dass Chatbots zumindest jetzt noch nicht auf derartige Angebote reagieren können, die abgelehnt werden sollen. (Lassen wir an dieser Stelle die seltenen Fälle außer Acht, in denen in einem sehr spezifischen Kontext nicht nur das N-Wort von einer nicht-schwarzen Person verwendet werden kann, ohne eine schwarze Person zu verletzen, sondern, was noch wichtiger ist, in denen die NICHT-Verwendung dieses Wortes, sondern dessen subtile Andeutung durch damit verbundene Ausdrücke fast noch verletzender sein kann. Das Gleiche gilt übrigens auch für den Ausdruck „Gott hilf mir!“. Wenn an diesem Punkt Gott erscheinen und wirklich für mich in die Welt eingreifen würde, wäre ich total schockiert.)

Aber habe ich mich nicht dennoch zu sehr auf die übliche akademische Reaktion auf Chatbots verlassen, indem ich die Unvollkommenheit und die Fehler, die ChatGPT macht, verspottet und angeprangert habe? Gegen diese vorherrschende Meinung, die von Chomsky und seinen konservativen Gegnern geteilt wird, verteidigt Mark Murphy in einem Dialog mit Duane Rousselle die Behauptung, dass „künstliche Intelligenz nicht als Ersatz für Intelligenz/Sensibilität als solche funktioniert“.

Deshalb sind „die Dummheiten, Ausrutscher, Fehler und schwachsinnigen Kurzschlüsse, die ein Chatbot begeht – seine ständigen Entschuldigungen, wenn er etwas falsch macht – genau sein Wert“, der es uns (den „echten“ Personen, die mit einem Chatbot interagieren) ermöglicht, eine falsche Distanz zu ihm aufrechtzuerhalten und zu behaupten, wenn der Chatbot etwas Dummes sagt: „Das bin nicht ich, das ist die KI-Maschine.“

ChatGPT sei ein Unbewusstes

Rousselle und Murphy begründen diese Behauptung mit einer komplexen Argumentationslinie, deren Ausgangsprämisse lautet, dass „ChatGPT ein Unbewusstes ist“. Die neuen digitalen Medien externalisieren unser Unbewusstes in KI-Maschinen, so dass diejenigen, die mit KI interagieren, keine geteilten Subjekte mehr sind, d.h. Subjekte, die einer symbolischen Kastration unterworfen sind, die ihnen ihr Unbewusstes unzugänglich macht. Wie Jacques-Alain Miller es ausdrückte, sind wir mit diesen neuen Medien in eine universalisierte Psychose eingetreten, da die symbolische Kastration jetzt ausgeschlossen ist.

An die Stelle eines horizontal geteilten Subjekts tritt also ein vertikaler (nicht einmal geteilter) Parallelismus, ein Nebeneinander von Subjekten und dem externalisierten maschinellen/digitalen Unbewussten: Narzisstische Subjekte tauschen über ihre digitalen Avatare Nachrichten aus, in einem flachen digitalen Medium, in dem einfach kein Platz für die „undurchsichtige Monstrosität des Nachbarn“ ist.

Das digitale Unbewusste ist „ein Unbewusstes ohne Verantwortung“

Das Freudsche Unbewusste impliziert Verantwortung, die durch das Paradoxon des starken Schuldgefühls signalisiert wird, ohne dass wir überhaupt wissen, woran wir schuldig sind. Das digitale Unbewusste ist im Gegenteil „ein Unbewusstes ohne Verantwortung, und das stellt eine Bedrohung für die soziale Bindung dar.“ Ein Subjekt ist nicht existentiell in seine Kommunikation involviert, da diese von der KI und nicht vom Subjekt selbst durchgeführt wird.

„So wie wir einen Online-Avatar erschaffen, um uns mit anderen auszutauschen und uns Online-Gruppen anzuschließen, könnten wir nicht auf ähnliche Weise KI-Persönlichkeiten nutzen, um riskante Funktionen zu übernehmen, wenn wir müde werden? So wie Bots zum Schummeln in wettbewerbsorientierten Online-Videospielen eingesetzt werden oder ein fahrerloses Auto die kritische Reise zu unserem Ziel navigieren könnte? Wir lehnen uns einfach zurück und feuern unsere digitale KI an, bis sie etwas sagt, das völlig inakzeptabel ist. Dann schalten wir uns ein und sagen: ‚Das war nicht ich! Es war meine KI.‘“

Für Freud ist der Traum der königliche Weg zum Unbewussten

Deshalb bietet die KI „keine Lösung für die Segregation und die grundlegende Isolation und den Antagonismus, unter denen wir immer noch leiden, denn ohne Verantwortung kann es kein Nach-Geben geben“ (im Original: „post-givenness“). Rousselle führte den Begriff „Nach-Geben“ („post-givenness“) ein, um „den Bereich der Mehrdeutigkeit und der sprachlichen Ungewissheit zu bezeichnen, der eine Annäherung an den anderen im Bereich des so genannten Nicht-Bezugs ermöglicht. Es geht also direkt um die Frage der Unmöglichkeit, wie wir uns auf den anderen beziehen. Es geht um den Umgang mit der undurchsichtigen Ungeheuerlichkeit unseres Nächsten, die niemals ausgelöscht werden kann, selbst wenn wir ihm die besten Bedingungen bieten“.

Diese „undurchsichtige Monstrosität des Nachbarn“ betrifft auch uns selbst, denn unser Unbewusstes ist ein undurchsichtiges Anderes im Innersten des Subjekts, ein Durcheinander von schmutzigen Genüssen und Obszönitäten. Für Freud ist der Traum der königliche Weg zum Unbewussten, so dass die Unfähigkeit, die undurchsichtige Monstrosität des Subjekts zu berücksichtigen, logischerweise auch die Unfähigkeit zu träumen bedeutet.

Das clowneske Merkmal der père-verse-ity (Hinwendung zum Vater)

„Wir träumen heute außerhalb von uns selbst, und daher funktionieren Systeme wie ChatGPT und das Metaverse, indem sie sich selbst den Raum anbieten, den wir verloren haben, weil die alten kastrativen Modelle auf der Strecke geblieben sind.“ Mit dem digitalisierten Unbewussten bekommen wir eine direkte In(ter)vention des Unbewussten – aber warum werden wir dann nicht von der unerträglichen Nähe der jouissance (Genießen) überwältigt, wie es bei Psychotikern geschieht?

Hier bin ich versucht, Murphy und Rousselle zu widersprechen, wenn sie sich darauf konzentrieren, wie mit KI-Maschinen „Genuss aufgeschoben und verleugnet werden kann: wie wir etwas völlig und entsetzlich Obszönes erschaffen und keine Verantwortung dafür übernehmen können. Die Genialität besteht darin, das gespaltene Subjekt so zu imitieren, dass wir dennoch offen sagen können: ‚Das ist nicht meins‘. Das Vergnügen entsteht gerade dadurch, dass man an diesem Punkt die Handlungsfähigkeit verleugnet: Man zeigt auf die KI und sagt: ‚Seht, wie idiotisch sie ist‘. Das clowneske Merkmal der père-verse-ity (Hinwendung zum Vater) eines Großteils des Online-Konservativismus ist genau das Bedürfnis, den Vater wieder auferstehen zu lassen. Von Trump bis hin zu diversen triumphalistischen Selbsthilfe-Lifestyle-Gurus sehen wir, dass sie als prothetische Vaterfiguren fungieren. In diesen Veranstaltungen sehen wir die Versuche einer reaktionären Wiederauferstehung der prothetischen phallischen Logik des ‚Alles‘ und eine Ära der Erfindung, um diese Logik aufrechtzuerhalten. (...) Indem es nicht gelingt, eine kastrierende Figur zu manifestieren, gibt es jetzt eine direkte Erfindung des Unbewussten ohne den väterlichen Strukturierungspunkt.“

Die perverse Rückkehr des obszönen Vaters

Es ist also die Perversion (oder père-version, „Version des Vaters“, wie Lacan es ausdrückt) und nicht die psychotische Abschottung, die die KI charakterisiert. Das Unbewusste ist nicht in erster Linie das von einer kastrierenden väterlichen Figur unterdrückte Real der „jouissance“, sondern die symbolische Kastration selbst in ihrer radikalsten Form, was die Kastration der väterlichen Figur selbst bedeutet, die Verkörperung des großen Anderen – Kastration bedeutet, dass der Vater als Person nie auf der Ebene seiner symbolischen Funktion ist.

Die perverse Rückkehr des obszönen Vaters (Trump in der Politik) ist nicht dasselbe wie die des psychotischen Paranoikers. Warum eigentlich? Bei Chatbots und anderen Phänomenen der KI haben wir es mit einer umgekehrten Verwerfung zu tun: Es ist nicht so (um Lacans klassische Formel zu wiederholen), dass die ausgeschlossene symbolische Funktion (Name-des-Vaters) im Realen wiederkehrt (als Agens der paranoischen Halluzination); es ist im Gegenteil das Reale der undurchsichtigen Monstrosität des Nachbarn, der Unmöglichkeit, einen undurchdringlichen Anderen zu erreichen, der im Symbolischen wiederkehrt, in der Gestalt des „freien“, reibungslos funktionierenden Raums des digitalen Austauschs.

Das Unbewusste ist verdrängt

Eine solche umgekehrte Abschottung charakterisiert nicht die Psychose, sondern die Perversion – was bedeutet, dass, wenn ein Chatbot obszöne Dummheiten produziert, es nicht einfach so ist, dass ich sie ohne Verantwortung genießen kann, weil „es die KI war, die das getan hat, nicht ich“. Was passiert, ist vielmehr eine Form der perversen Verleugnung: Obwohl ich genau weiß, dass die Maschine und nicht ich die Arbeit macht, kann ich sie als meine eigene genießen.

Das wichtigste Merkmal, das es hier zu beachten gilt, ist, dass die Perversion weit davon entfernt ist, das (bisher verdrängte) Unbewusste offen zur Schau zu stellen: Wie Freud es ausdrückte, ist das Unbewusste nirgends so verdrängt, so unzugänglich wie in einer Perversion. Chatbots sind Maschinen der Perversion und sie verschleiern das Unbewusste mehr als alles andere: Gerade weil sie uns erlauben, all unsere schmutzigen Fantasien und Obszönitäten auszuspucken, sind sie repressiver als selbst die strengsten Formen der symbolischen Zensur.

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