An Ostern ist es wieder so weit. Die traditionellen Ostermärsche der sogenannten Friedensbewegung finden in ganz Deutschland statt, natürlich auch in Berlin. Der Wunsch nach Frieden ist richtig und verständlich – und niemand wünscht sich Frieden in der Ukraine sehnlicher, als wir Ukrainer*innen selbst.
Doch wofür gehen viele der Teilnehmer*innen in diesem Jahr tatsächlich auf die Straße? In unseren Augen ist es ein selbstbezogener Friedensbegriff, der die Opfer von Gewalt und Krieg zu Tätern erklärt und die tatsächlichen Aggressoren wissentlich verschweigt. Ein Ende von Waffenlieferungen und damit eine brutale Unterwerfung der Ukraine wird hier zu einer „pazifistischen“ Lösung des russischen Angriffskrieges verzerrt. Wir Ukrainer*innen können daher nicht anders, als demgegenüber unsere Stimme zu erheben.
Das Recht auf Selbstverteidigung
Es sind 406 Tage seit Beginn des völkerrechtswidrigen Überfalls russlands* auf die gesamte Ukraine vergangen, und damit naht bereits das zweite Osterfest im Zeichen von Zerstörung, Folter und Verschleppung, inmitten Europas.
Schon im vergangenen Jahr fiel es vielen Veranstalter*innen der traditionellen Ostermärsche für Frieden und Versöhnung schwer, den offensichtlichen Aggressor russland und seinen barbarischen Angriff auf die Ukraine zu verurteilen.
Deswegen haben wir bereits damals einen eigenen Ostermarsch organisiert, um auf das Recht auf Selbstverteidigung hinzuweisen, das allen Opfern von Gewalt und Folter immer und überall zusteht – auch der Ukraine.
Angeblich steht die Nato dem Frieden im Weg, das stimmt nicht
Leider befindet sich auch in diesem Jahr kein einziges kritisches Wort gegenüber dem völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg im Aufruf zum Berliner Ostermarsch. Die zahllosen Kriegsverbrechen russlands, inzwischen selbst vom Internationalen Strafgerichtshof verfolgt, werden nicht einmal auch nur mit einem einzigen Wort bedacht.
Die flächendeckende Zerstörung überlebenswichtiger ziviler Infrastruktur. Der systematische Einsatz von Vergewaltigungen und Folter. Die willkürlichen Hinrichtungen von wehrlosen Zivilisten in sämtlichen besetzten Gebieten. Die staatlich organisierte Entführung und Verschleppung tausender ukrainischer Kinder.
Kein einziges Wort.
Stattdessen sind es wahlweise westliche Sanktionen und Waffenlieferungen, die Nato oder amerikanische Atomwaffen, die einem Frieden in der Ukraine angeblich im Weg stehen.
Dankesrede von Serhijj Zhadan
Es ist eine beklemmende Täter-Opfer-Umkehr seitens der Veranstalter*innen, die sich durch ihre Forderungen hindurchzieht und ihren Ursprung in einem egoistischen Sankt-Florians-Prinzip zu haben scheint, das lieber des Nachbars Haus in Flammen sieht, als dass die eigene Gasrechnung steigt. Daher ist es auch nur konsequent, dass in ihrem Aufruf zum Ostermarsch wesentlich öfter von den Friedensbewegten selbst die Rede ist als von den Opfern von Krieg und Gewalt.
Serhijj Zhadan erhielt im vergangenen Oktober den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. In seiner Dankesrede erklärt er sein Unbehagen mit diesem verzerrten Pazifismus so: „Wenn wir jetzt, im Angesicht dieses blutigen, dramatischen und von russland entfesselten Krieges über Frieden sprechen, wollen einige eine simple Tatsache nicht zur Kenntnis nehmen: Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden. Es gibt verschiedene Formen eines eingefrorenen Konflikts, es gibt zeitweilig besetzte Gebiete, es gibt Zeitbomben, getarnt als politische Kompromisse – aber Frieden, echten Frieden, einen Frieden, der Sicherheit und Perspektive bietet, gibt es leider nicht. Und wenn manche Europäer (zugegebenermaßen nur ein sehr kleiner Teil) den Ukrainern ihre Weigerung, sich zu ergeben, fast schon als Ausdruck von Militarismus und Radikalismus anlasten, tun sie etwas Merkwürdiges – beim Versuch, in ihrer Komfortzone zu bleiben, überschreiten sie umstandslos die Grenzen der Ethik. Das ist keine Frage an die Ukrainer, das ist eine Frage an die Welt, an ihre vorhandene (oder nicht vorhandene) Bereitschaft, um fragwürdiger materieller Vorteile und eines falschen Pazifismus willen ein weiteres Mal das totale, enthemmte Böse zu schlucken.“

Wo russland seine Flaggen in der Ukraine hisst, wird es keinen Frieden geben
Auch der Aufruf der Berliner Friedenskooperative atmet den Geist eines neuen deutschen Biedermeiers, der die eigene historische Verantwortung in sein absurdes Gegenteil verkehrt und dabei eifrig die Sprache und Narrative der russischen Propaganda kopiert. Hoffentlich nur aus Versehen wird die russische Trikolore dabei sogar für die Farbgebung der eigenen Website verwendet.
Als Antwort darauf organisieren wir bei Vitsche auch in diesem Jahr eine eigene Osterdemonstration mit dem Namen „Ohne Freiheit, kein Frieden“, in der wir den tatsächlichen Opfern des russischen Angriffskrieges eine eigene Stimme geben wollen.
Denn für sie bedeutet eine dauerhafte russische Besatzung keinen Frieden, sondern endlose Gewalt und Rechtlosigkeit. In diesem Sinne nimmt jeder, der ein Ende der Waffenlieferungen fordert, billigend in Kauf, dass das Leid der Menschen unter der Besatzung ins Unermessliche wächst, die Ukraine als unabhängiger Staat ausgelöscht wird und die Ukrainer*innen der russischen Armee zukünftig schutzlos ausgeliefert sind. Ein Blick nach Butscha, nach Charkiw und in den Donbas reicht, um zu wissen, dass dies keinen Frieden bedeutet, sondern Genozid und Gewalt, Korruption und Rechtlosigkeit.
Denn wo russland seine Flaggen in der Ukraine hisst, wird es kein Leben mehr in Frieden und Freiheit geben.
russland hat sein Militär radikal aufgerüstet
Wie auch Serhijj Zhadan sind wir der festen Überzeugung, dass ein Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine oder ein Ende der Sanktionen gegenüber russland, wie es in den Aufrufen der Friedenskooperative so dringend gefordert wird, keineswegs zu Frieden führt.
russland würde diesen Schritt nicht etwa als Friedenswillen, sondern als Schwäche oder sogar heimliche Zustimmung der europäischen Gemeinschaft begreifen. Bereits im Jahr 2014, als russland die Krym völkerrechtlich annektiert und den Donbas brutal besetzt hat, blieb eine klare Reaktion der westlichen Staatengemeinschaft aus. Die Konsequenz war jedoch das genaue Gegenteil eines dauerhaften Friedens in Europa.
Vielmehr hat russland sein Militär seither massiv aufgerüstet und nur auf den passenden Zeitpunkt gewartet, um zu einem neuen und noch härteren Schlag gegen die Ukraine auszuholen.
Wenn man eine Lektion aus der deutschen Geschichte ziehen will, dann ist sie mit Sicherheit nicht, dass man gegenüber einer brutalen Diktatur sofort und bedingungslos seine Waffen strecken sollte.
Das genaue Gegenteil ist der Fall.
Die Grundlage für einen echten Frieden nicht Angst ist, sondern Mut
Appeasement und Anbiederung an eine totalitäre Diktatur führt nicht zu Frieden, sondern geradewegs in den nächsten, noch brutaleren (Welt-) Krieg. Das tragische Beispiel von Neville Chamberlain gegenüber Hitler sollte unser historisches Gedächtnis leiten und nicht der bequeme Glauben, dass die Kapitulation vor einem verbrecherischen Regime auch nur für kurze Zeit Frieden bringt.
Ganz in der Tradition russischer Propagandist*innen manipulieren die Veranstalter*innen des Berliner Ostermarsches auch in diesem Punkt die deutsche Geschichte zugunsten der eigenen egoistischen Ziele, um Angst und Schrecken vor der allmächtigen russischen Atommacht zu schüren.
Doch die ukrainische Gesellschaft zeigt jeden Tag, dass die Grundlage für einen echten Frieden nicht Angst ist, sondern Mut. Nicht Egoismus, sondern Solidarität. Nicht Besatzung, sondern Freiheit.
Ostermarsch von Vitsche
Wir sind hoffnungsvoll, dass diese Botschaft inzwischen auch weite Teile der deutschen Gesellschaft erreicht hat. Denn die selbsternannten Friedensbewegten stehen keineswegs so geeint da, wie sie es selbst gerne auszugeben versuchen. Bereits seit 2014 gibt es eine immer größere Aufsplitterung innerhalb der Bewegung, denn bereits damals standen (viel zu) viele von ihnen bei der Annektion der Krym fest an der Seite russlands. Inzwischen ist die anhaltende Parteinahme für russland derart untragbar geworden, dass sogar die traditionellen Verbündeten vom DGB und der Linken zumindest in Hamburg dem gemeinsamen Ostermarsch eine Absage erteilt haben. Aber auch in Berlin wäre eine solche Distanzierung wünschenswert.
Eva Quistorp, langjährige und zentrale Figur der Friedensbewegung und Gründungsmitglied der Grünen, geht inzwischen klar auf Distanz zu den Veranstalter*innen der Ostermärsche: „Die Sehnsucht nach Frieden von den Ostermarschierern wird eng und selbstgerecht, wenn sie nicht erkennt, dass die Ukrainerinnerinnen [...] gezwungen sind, sich [...] militärisch und humanitär zu verteidigen. Wo sind die Ostermarschierer und die, die Verhandlungsappelle unterschreiben, bei den Solidaritätsdemos für die Ukraine seit 2014 gewesen und [wo sind sie] heute?“
Für sie selbst gibt es keinerlei Zweifel, wie sie sich gegenüber dem brutalen russischen Angriff gegen die Ukraine positioniert. Anstatt auf den Ostermärschen der Friedenskooperative dabei zu sein, wird sie auf der Kundgebung von Vitsche am Ostersamstag als Rednerin auftreten.
*Anmerkung zur Kleinschreibung von „russland“ der Gruppe Vitsche: Der Aggressorstaat wird von uns absichtlich mit kleinem „R“ geschrieben. Hinter dem russischen Angriffskrieg steckt der seit Jahrhunderten unaufgeklärt gebliebene Imperialismus russlands sowie der Mythos der russischen Überlegenheit, die das Land tief prägen. Die Achtung und Respekt, die die Großschreibung von Personen- und Staatsnamen symbolisiert, geben Ukrainer*innen dem Aggressor nicht.
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