Analyse

Türkei-Wahl: Die Meinungsumfragen hatten unrecht – Erdogan ist beliebter als gedacht

Bitter für die Opposition: Erdogan konnte bei der Präsidentschaftswahl keine 50 Prozent holen, führt aber. Wie konnte das passieren? Eine Analyse aus Istanbul.

Der türkische Präsidenten Recep Tayyip Erdogan am Wahlabend in Istanbul
Der türkische Präsidenten Recep Tayyip Erdogan am Wahlabend in IstanbulOzan Kose/AFP

„Manche feiern aus ihrer Küche heraus und manche feiern hier auf dem Balkon“, ruft Recep Tayyip Erdogan seinen Anhängern zu. Erdogan steht vor einer jubelnden Menge an der AKP-Zentrale in Ankara. Es ist seine Art, dem Oppositionskandidaten Kemal Kilicdaroglu zu sagen: „Ich habe dich besiegt“.

Noch sind nicht alle Stimmen ausgezählt. Noch hat Erdogan das Rennen um das Amt des Präsidenten in der Türkei nicht gewonnen. Doch er darf sich durchaus wie auf seiner Balkon-Rede in der Nacht zu Montag für den Moment als Sieger dieser Wahl fühlen.

Erdogan hat zwar die absolute Mehrheit verfehlt und muss in zwei Wochen gegen Kilicdaroglu in einer Stichwahl antreten. Doch mit Blick auf die Wirtschaftskrise im Land, das schlechte Krisenmanagement nach dem Erdbeben und mit Blick auf diese so erstarkte Opposition hat Erdogan viel besser abgeschnitten als gedacht. Für Millionen Türken im Land ist das ein bitterer Realitätscheck, der vor allem zeigt, dass ein großer Teil der Gesellschaft Erdogan als religiös-nationalistische Leitfigur sieht, der alles verziehen werden kann.

Viele Umfragen lagen falsch

Die regierungstreue, staatliche Nachrichtenagentur Anadolu wie auch die eher der Opposition zugeneigte Agentur Anka sehen Erdogan nach etwa 97 Prozent der ausgezählten Stimmen vorne. Demnach liegt das Staatsoberhaupt bei 49 Prozent, sein Herausforderer Kilicdaroglu von der Mitte-links-Partei CHP bei 45 Prozent.

Dabei sahen viele Meinungsumfragen bis zum Schluss ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Erdogan und seinem Rivalen voraus. Sie lagen falsch. Klar ist dafür, dass die Regierungspartei AKP und die mit ihr de facto koalierende ultranationalistische MHP ihre absolute Mehrheit im Nationalparlament behalten.

„Rückkehr zur Demokratie“? Mit Erdogan ist das unwahrscheinlich

Das hat eine große Strahlwirkung, diese Parlaments- und Präsidentschaftswahl wurde schließlich nicht grundlos „Schicksalswahl“ bezeichnet. Bleibt Erdogan als Präsident im Amt und kontrolliert auch noch das Parlament, ist zu erwarten, dass er seinen harten Kurs gegen Oppositionelle und Kritiker im Land fortführen wird. CHP-Kandidat Kilicdaroglu hingegen warb damit, die Rechtstaatlichkeit in der Türkei wiederherzustellen, politische Gefangene wie Osman Kavala zu befreien und die „Rückkehr zur Demokratie“ zu ebnen. Das alles klingt in der Türkei – anders als in den vergangenen Wochen – plötzlich wieder nur noch theoretisch.

Bei der Stichwahl dürfte dem Außenseiter Sinan Ogan von der ultranationalistischen Ata-Allianz eine wichtige Rolle zukommen. Auch er bewarb sich um das Amt des Präsidenten und landete wie erwartet weit hinter Erdogan und Kilicdaroglu. Andererseits überzeugte er mit 2,8 Millionen (rund 5,3 Prozent) Stimmen mehr Wähler als gedacht. Im Duell wird nun wichtig sein, welche Wahlempfehlung Ogan abgibt. Es ist gut möglich, dass er am Ende Erdogan unterstützt. „Ich werde Kilicdaroglu nur unterstützen, wenn die HDP aus dem politischen System ausgeschlossen wird“, sagte er am Sonntag dem Spiegel in einem Interview.

Kilicdaroglus Stil als Versöhner

Die prokurdische HDP wird von der türkischen Regierung als politischer Arm der verbotenen PKK gesehen und dämonisiert. Auch deshalb hatte Kilicdaroglu sie von Anfang an nicht in das von ihm angeführte Oppositionsbündnis eingeladen – er wollte nationalistische Wähler nicht verprellen. Trotzdem unterstützte die HDP Kilicdaroglu, dazu verzichtete sie auf einen eigenen Präsidentschaftskandidaten. Kilicdaroglu hielt im Gegenzug einen Kanal zu der Partei offen, was zu seinem Stil als „Versöhner“ in diesem Wahlkampf passte.

In der Nacht zu Montag zeigte er sich im Beisein seiner Bündnispartner. Er warf der Regierung vor, die Auszählung von Stimmen in CHP-Hochburgen zu blockieren. „Es gibt Wahlurnen, die sechs oder elf Mal ausgezählt wurden. Akzeptiert endlich den Willen der Wähler, damit wir ein endgültiges Ergebnis sehen“, sagte Kilicdaroglu in Ankara.

Rund 192.000 Wahlurnen wurden in mehr als 1000 Wahllokalen aufgestellt

Bereits 90 Minuten nach Schließung der Wahlurnen prasselte es Kritik, weil Anadolu schon sehr frühe Ergebnisse präsentierte. Sie stammten wohl aus Regionen, die sich schnell abzählen ließen und wo Erdogan eine Mehrheit hat. Dies führte dazu, dass Erdogan um 18:30 Uhr im Rennen um das Präsidentenamt mit 60 Prozent vorne lag. Erst im Laufe der Stunden purzelte sein Vorsprung auf unter 50 Prozent. Der populäre CHP-Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, sprach von einer Manipulation der öffentlichen Meinung.

Dabei hatte diese so historische Wahl erstaunlich gut begonnen. Die Türken drängten bereits in den Morgenstunden in die Wahllokale. Personalausweis vorzeigen, Wahlzettel kriegen, stempeln, eine Unterschrift, fertig. So problemlos wie an einer Grundschule im Istanbuler Stadtbezirk Fatih lief die Abgabe der Stimmen auch im Rest Landes. Rund 192.000 Wahlurnen wurden in mehr als 1000 Wahllokalen aufgestellt. Die Wahlbeteiligung wird auf 86 Prozent beziffert – 55 Millionen von insgesamt 64 Millionen Wahlberechtigten nahmen an dieser Parlaments- und Präsidentschaftswahl teil.

Kilicdaroglu zeigt sich weiterhin siegessicher

Und jetzt? Kilicdaroglu zeigt sich weiterhin siegessicher. Er werde die Stichwahl gegen Erdogan gewinnen, sagte er. Sicherlich sind seine mehr als 24 Millionen für die Opposition geholten Stimmen auch ein beachtliches Ergebnis. Es sind aber 2,3 Millionen weniger, als Erdogan holte.

Der Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu. 
Der Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu. Alp Eren Kaya/i mago

Die Opposition und ihre Unterstützer wissen nun, dass sie im Grunde nicht viel wissen. Denn es waren vor allem die vielen Meinungsinstitute, die der Opposition einen großen Boost prognostizierten und sie so siegessicher machten. Nachdem ein Präsidentschaftskandidat kurz vor den Wahlen zurücktrat, sahen einige Umfragen Kilicdaroglu vor Erdogan, sogar mit absoluter Mehrheit.

Die letzte Chance, Erdogan zu besiegen

Spätestens mit dieser Wahl ist klar: Meinungsumfragen bringen im Ring gegen Erdogan nicht immer etwas. Klar ist aber auch, dass ein großer Block in der Türkei keine Alternative zu Erdogan sieht. Entweder weil Kilicdaroglu ihnen als Kopf der säkularen CHP nicht religiös oder fanatisch genug ist – oder weil sie schlicht keinen Leader in ihm sehen.

Eine andere Erklärung lässt sich kaum finden, da Kilicdaroglu das Momentum auf seiner Seite hat. Da ist die Inflation im Land, die die Lebens- und Energiepreise explodieren lässt. Da ist das Katastrophenmanagement nach den schweren Erdbeben im Südwesten des Landes, das viele AKP-Wähler gefrustet zurückließ. Da ist der Istanbuler Oberbürgermeister, dem Kilicdaroglu zwar nicht den Vortritt als Präsidentschaftskandidat ließ, immerhin war er aber weitsichtig genug, Imamoglu als Wingman einzusetzen.

Erdogan hingegen traf den Nerv vieler Wähler zuletzt nur damit, in dem er auf den rasanten Aufstieg der heimischen Rüstungsindustrie hinwies. Panzer, Drohnen, Kriegsschiffe „made in Türkiye“: Ist das Grund genug, um über die schiere Wirtschaftskrise und die hohe Arbeitslosigkeit im Land hinwegzusehen? Über diese Frage wird der sozialdemokratische CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu noch bis zum 28. Mai nachdenken.

Es ist der Tag, an dem er gegen Erdogan zur Stichwahl antreten muss. Es ist seine letzte Chance, Erdogan zu besiegen.

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