Es dauert nicht lange und die Fische beißen zu. Fuat Tokat zieht seine Angel behutsam aus dem Wasser und packt drei Stöcker in eine Dose. Immerhin, ein halbes Kilogramm hat er. „Wie viel ich fange, ist mir egal, ich bin nur hier, um den Kopf freizukriegen“, sagt er.
Tokat steht auf der 500 Meter langen Galata-Brücke, die eine wichtige Rolle in der Stadtgeschichte Istanbuls spielte. Vor ihm ist der blaue Bosporus zu sehen, hinter ihm erstreckt sich eine hornförmige Bucht, bekannt als das Goldene Horn. Zu sehen ist auch der Galataturm, zu hören Dutzende Möwen, die Interesse an den Fischen haben.
Doch all diese Eindrücke interessieren Tokat an diesem Mittwoch nicht besonders. „Nur noch ein paar Tage, dann ist unser diktatorischer Präsident endlich weg“, sagt er. Der 40-Jährige heißt in Wirklichkeit anders, doch weil er Lehrer ist, fürchtet er, seinen Job zu verlieren. Die Sorge ist berechtigt: Wer Beamter ist und Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan öffentlich kritisiert, kann in der Türkei seine Arbeit schnell los sein.
Tokat wartet auf die Parlaments- und Präsidentschaftswahl, die am 14. Mai stattfindet. Erwartet wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Erdogan und seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu. Geht es weiter mit Erdogan als Staatspräsidenten, heißt das Motto: „Weiter so“.
Unter ihm und seiner islamisch-nationalistischen AKP erlebte die Türkei zeitweise einen wirtschaftlichen Boom, geopolitisch spielt die Türkei heute eine viel größere Rolle, demokratische Grundrechte wurden aber zum Teil massiv beschnitten. Wer Erdogans Kurs kritisierte, landete nicht selten im Gefängnis. „Was bringen Flugzeugträger und Brücken, wenn keine Harmonie im Land herrscht?“, fragt Tokat.

AKP-Fan: „Das Ausland schickt ständig Agenten in unser Land“
Alles anders machen will Herausforderer Kilicdaroglu, der für die säkulare Mitte-Links-Partei CHP antritt. Er verspricht nichts weniger als einen kompletten Neuanfang. Er will zur Demokratie zurückkehren und das System der Ein-Mann-Herrschaft durchbrechen. Aber wollen das auch die Türken?
Als diese Frage in Karaköy, auf der anderen Seite der Galata-Brücke, gestellt wird, eskaliert die Situation fast. Ein Fischverkäufer, Mittfünfziger, offenbar Anhänger der AKP, reagiert zunächst irritiert. Die Türkei werde auf Kurs bleiben, sagt er und fragt zurück, warum sich Deutschland für die Wahl interessiere. „Das Ausland schickt ständig Agenten in unser Land, Journalisten sind auch Agenten, jeder kann eine Presseakkreditierung bekommen“, wirft er schließlich dem Reporter vor. „Was geht euch das an? Das Ausland kann uns nicht aufhalten!“, schiebt er hinterher. Seine Stimme hebt sich, sein Gesichtsausdruck wird unfreundlich, er nähert sich. Es ist Zeit, Karaköy zu verlassen.
Erdogan gibt sich unbesiegbar, ist aber so schwach wie nie zuvor
Bleibt das Land aber wirklich auf Erdogans Kurs, wie der Mann behauptet? Zwar gibt sich Erdogan im Wahlkampf wie immer: unbesiegbar. Tatsächlich ist er aber so schwach wie nie zuvor. Viele Umfragen sehen seinen Rivalen Kilicdaroglu vorne, die Opposition mobilisiert landesweit große Menschenmassen. Vielen Türken wird plötzlich klar: Erdogan, der ewige Machthaber, ist besiegbar.
Lange Zeit hatte das fromme Staatsoberhaupt ein Gefühl für die Sorgen der Menschen. Nach 20 Jahren an der Spitze der Nation sind aber meistens nur noch Phrasen zu hören, die sich wiederholen. Ohne ihn könne die heimische Rüstungsindustrie nicht wachsen, ohne ihn sei die Türkei geschwächt gegenüber dem Ausland, so die Botschaft des Präsidenten. Und die Opposition? Nicht mehr als ein Haufen von „Terrorunterstützern“. „Kemal, du bist der verlängerte Arm der Terroristen!“, rief er jüngst wieder einmal in Richtung seines Herausforderers.
Erdogan wird seit Jahren vorgeworfen, die Justiz zu lenken, politische Gegner einzusperren und die Pressefreiheit massiv zu unterdrücken. Dennoch, das Umfragetief hat vor allem mit der Wirtschaftskrise zu tun. Die Türkei steckt seit zwei Jahren in einer Inflationsspirale, die Lira wird immer wertloser. Aktuell ist ein Euro mehr als 21 Lira wert. Zum Vergleich: Im Mai 2021 lag der Wechselkurs noch bei 1:10.
Für ein von Importen abhängiges Land wie die Türkei ist das fatal, weil auf dem internationalen Markt nicht in Lira, sondern Dollar bezahlt wird. Bis Ende 2022 stiegen die Verbraucherpreise sogar um bis zu 85 Prozent, die Energie- und Lebensmittelpreise explodierten. Die Inflation ist inzwischen schwächer, doch die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch und wer bereits Rentner ist, kommt kaum über die Runden. Und dann ist da noch ein anderer Grund, der die Erdogan-Ära beerben könnte: Kemal Kilicdaroglu.

Herausforderer Kilicdaroglu meldet sich aus seiner Küche
Der 74-Jährige ist die Überraschung des Jahres, obwohl er gar kein Unbekannter ist. Seit gut 13 Jahren ist er Vorsitzender der republikanischen CHP, der Partei des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. Unter seiner Führung hat die CHP bisher alle Wahlen gegen Erdogan verloren. Bis vor kurzem ist er nicht einmal besonders beliebt gewesen. Seine ruhige und besonnene Art galt lange als aussichtslos, um es mit einem offensiven Politiker wie Erdogan aufzunehmen. Doch er wurde unterschätzt.
Kilicdaroglu zeigt sich als Versöhner, als Friedensstifter, als einer, der diese tief gespaltene Gesellschaft einen möchte. Auf der Bühne wirbt er für Pressefreiheit, Grundrechte, unabhängige Gerichte. „Ich verspreche euch: Wenn ich Präsident bin, dürft ihr mich immer kritisieren, ohne Folgen zu befürchten“, sagt er in einem seiner Werbevideos.
Kilicdaroglu ist gut fünf Jahre älter als Erdogan, doch der Mann ist fit und er weiß zu überraschen. Das zeigte er, als er 2017 den „Marsch der Gerechtigkeit“ startete. In drei Wochen legte er zu Fuß von Ankara nach Istanbul 420 Kilometer zurück. Auf dem Weg begleiteten ihn Zehntausende Menschen.
Aktuell postet er regelmäßig Videos aus seiner einfach eingerichteten Küche. Ein Teekocher, ein Herd, ein paar Hängeschränke sind zu sehen. Die Botschaft: Schaut her, ich lebe nicht in einem Palast mit 1000 Zimmern wie Erdogan. Überrascht hat Kilicdaroglu auch mit einem Video, das bereits 115 Millionen Mal gesehen wurde. „Ich bin Alevit. Und ich bin ein aufrichtiger Moslem“, sagt er darin. Das Video bewerteten Beobachter als Tabubruch. Denn Aleviten sind eine religiöse Minderheit in der mehrheitlich sunnitischen Türkei.
Opposition so geeint wie nie zuvor
Kilicdaroglu geht aber auch auf die streng religiösen Schichten im Land zu – Menschen, die eigentlich Erdogan wählen. Er verspricht ihnen, dass unter seiner Führung die CHP nie wieder Frauen, die in öffentlichen Ämtern arbeiten, verbieten wird, ein Kopftuch zu tragen. An der säkularen CHP klebt noch immer der Ruf, eine laizistische Elitenpartei zu sein, die fromme Muslime aus der Öffentlichkeit verbannen möchte. Tatsächlich wurden vor allem Frauen mit Kopftüchern lange Zeit diskriminiert, wenn sie im Staatswesen präsent sein wollten. Erst Erdogan gelang es, das Kopftuchverbot an Universitäten und im Polizeidienst aufzuheben.
Bisher konnte die regierungsnahe Presse Kilicdaroglu kaum schaden. Die Biografie des CHP-Chefs ist fast schon zu langweilig, um etwas Skandalöses zu finden. Kilicdaroglu wuchs gemeinsam mit seinen sechs Geschwistern unter einfachen Verhältnissen in einem Dorf in der ostanatolischen Provinz Tunceli auf. Als Beamter machte er erst Karriere im Finanzministerium und dann in der größten Sozialversicherungsanstalt des Landes.
Vielleicht war es seine bürokratisch-besonnene Art, die ihm zu einem Kunststück verhalf. Heute ist er nicht nur CHP-Chef, sondern auch Anführer eines Oppositionsbündnisses mit insgesamt sechs Parteien. Darunter ist die Iyi-Partei, die sich an nationalkonservative Wähler richtet. Auch religiöse Ex-Weggefährten Erdogans sind in dem „Sechsertisch“ mit ihren Kleinparteien vertreten. Erstmals hat sich die Opposition in einem solchen Format zusammengeschlossen. „Er hat diese Allianz trotz aller Probleme bis zum Ende am Leben gehalten, das ist eine große Leistung“, sagt der Wahlforscher Ali Carkoglu von der Istanbuler Koc-Universität im Gespräch mit der Berliner Zeitung.
Zeitgleich konnte Kilicdaroglu die pro-kurdische HDP umgarnen, obwohl sie nicht Teil des Bündnisses ist. Das Bündnis will so vermeiden, dass die türkische Regierung sie als Terrorunterstützer labelt. Erdogan, aber auch große Teile der Bevölkerung werfen der HDP vor, politischer Arm der verbotenen PKK zu sein. Dass die HDP dennoch zu Kilicdaroglu hält, verleiht ihr die Rolle als Königsmacher. Die pro-kurdische Partei holte bei der letzten Parlamentswahl rund zwölf Prozent der Stimmen. „Andererseits könnte die Unterstützung auch Nationalisten aus den eigenen Reihen abschrecken“, sagt Carkoglu.

Mehr als 50 Prozent – oder es geht in die Stichwahl
Reicht das, um Erdogan zu besiegen? Selbst drei Tage vor der Wahl wagt kein Experte eine Prognose abzugeben. Erdogans Stammwähler, vor allem in Zentralanatolien und auf dem Land, werden größtenteils weiterhin zu ihm halten. Die entscheidende Frage wird eher sein: Wie wählen die fünf Millionen Erstwähler, die etwa acht Prozent aller Wahlberechtigten ausmachen? Wahlforscher wie Carkoglu glauben, dass sie mehrheitlich der Opposition zugewandt sind.
Wer am 14. Mai die Präsidentschaftswahl gewinnen möchte, muss auf mehr als 50 Prozent der Stimmen kommen – schafft das niemand, findet in zwei Wochen eine Stichwahl statt. Kein unrealistisches Szenario, da viele Umfragen Kilicdaroglu bei knapp 50 Prozent sehen. Neben Erdogan und Kilicdaroglu gibt es zwei weitere Kandidaten – allerdings zog einer von ihnen, Muharren Ince, am Donnerstag seine Kandidatur zurück. Ince war früher in der CHP, sein Rückzug könnte sich für die Opposition als Vorteil erweisen.
Würde Erdogan eine Niederlage akzeptieren?
Die Türken selbst hegen keine großen Zweifel daran, dass die Wahlen ordnungsgemäß ablaufen werden. Die Opposition stellt nach eigenen Angaben landesweit 250.000 freiwillige Wahlbeobachter, eine Fälschung der Ergebnisse sei nicht möglich. Aber würde Erdogan eine Wahlniederlage akzeptieren? Immerhin war es der türkische Innenminister Süleyman Soylu, ein Hardliner in der türkischen Regierung, der zuletzt Spekulationen darüber entfachte. Die Wahl am 14. Mai bezeichnete er als „politischen Putschversuch des Westens“.







