Es ist nicht Fußball-WM, aber es scheint fast so an der Heerstraße in Charlottenburg. Ein Auto fährt mit heruntergekurbelten Fenstern an einer Schlange von Wartenden vorbei. Die Menschen stehen an vor dem Tor des türkischen Generalkonsulats, um ihre Stimme für die türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai abzugeben. Die Boxen im Auto vibrieren. Es läuft türkische Popmusik. Eine Frau mit Kopftuch lehnt sich aus dem Fenster des Autos. Sie schwenkt eine türkische Flagge. Einige der Wartenden pfeifen und klatschen.
Die rote Flagge mit Halbmond und Stern hängt auch am Zaun vor dem Konsulat. Zwei junge Frauen machen ein Selfie vor der Fahne. Eine Gruppe junger Männer steht etwas abseits der Flagge. Einer der jungen Männer hat eine Erklärung dafür, warum so viele Berliner mit türkischem Pass an einem Werktag abends Schlange stehen, um zu wählen. Der Islam in der Türkei stehe auf dem Spiel. „Entweder gewinnen die Gläubigen oder die Ungläubigen“, sagt er.
Der junge Wähler trägt eine Baseball-Cap verkehrt herum auf dem Kopf. Ein Button mit den türkischen Nationalfarben klebt auf seinem Joggingoverall. Was er über jene denkt, die anders abstimmen haben als er, klingt wenig sportlich. Er wäre „ziemlich enttäuscht“, wenn die Wahlen anders ausgingen als von ihm erhofft. „Dann würde ich nicht mehr in die Türkei reisen“, sagt er.
Die Studentin Elif steuert die Schlange vor dem Konsulat mit einer türkischen Flagge auf den Schultern und einer Zigarette in der Hand an. Sie trägt ihre Haarmähne offen. Sie lacht, als sie von der Äußerung des jungen Berliners hört. „Mit den Ungläubigen meint der Typ wohl mich“, sagt Elif auf Englisch.
Elif trägt Flagge für eine Türkei ohne Erdogan
Elif ist noch nicht lange in Deutschland. Sie studiert Wirtschaft in Berlin und will ihren vollen Namen nicht nennen. Es gebe in Berlin zu viele Anhänger der AKP, erklärt sie. Und ihr Auftreten vor dem Generalkonsulat mit der türkischen Flagge um den Hals geknotet setzt ein Signal: Seht her, ich rauche in der Sonne mit offenem Haar. Und die Türkei, das ist mein Land.
Sie redet von gläubigen Muslimen in der Türkei, als wären sie eine Minderheit, mit der sich Menschen wie sie notgedrungen arrangierten müssten. Die Opposition müsse die Religiösen nach dem Sieg integrieren, sagt Elif. Sollten die AKP und Recep Tayyip Erdogan gewinnen, verlöre sie ihre Heimat. Und ihr Land, betont sie, sei das schönste der Welt. „Da bin ich etwas voreingenommen“, sagt Elif.

Die Türken sind sich uneins über die Identität ihres Landes
Die Argumente klingen altbekannt. Die Türken lieben ihr Land. Wer aber einen Türken fragt, was die Türkei eigentlich ist – ein europäisches Land, ein islamisches Land, irgendetwas dazwischen –, kann mit erstaunlich vielfältigen Antworten rechnen. Die Frage nach der Identität der Türkei hat sich immer wieder in Eruptionen entladen: in Massendemonstrationen „für die Republik“ und gegen die AKP 2007, in landesweiten Protesten gegen die Abholzung des Geziparks in Istanbul 2013, im Streit um das Verfassungsreferendum über eine Präsidialrepublik 2017.
Zwei gesellschaftliche Blöcke standen sich bei diesen Auseinandersetzungen immer gegenüber. Das islamisch-konservative Lager war dabei bisher knapp vorn. Türkische Demoskopen sagen nun vorher, dass das Pendel 100 Jahre nach der Gründung der modernen Türkei 1923 in die andere Richtung ausschlagen könnte. Die Inflation in der Türkei galoppiert, die Wirtschaft läuft schlecht. In der Präsidialrepublik Türkei bestimmt nur ein Mann, und das ist Recep Tayyip Erdogan.
Die türkische Opposition hat derzeit einen Lauf
Die AKP und die mit ihr verbündeten islamisch-nationalistischen Parteien scheinen von einer Mehrheit in der Großen Nationalversammlung, dem türkischen Parlament, weit entfernt. Kemal Kilicdaroglu, der sozialdemokratische Kandidat der größten Oppositionspartei CHP für das Präsidentenamt, liegt Umfragen zufolge mehrere Prozentpunkte vor Erdogan. Der Vorname des Politikers steht dabei durchaus für die Hoffnungen kemalistischer Türken. Sie wünschen die Rückkehr zu den Prinzipien des Staatsgründers Kemal Atatürk. Er trieb das Land auch mit der Faust in eine verwestlichte Moderne. Andersdenkende hatten sich unterzuordnen.
Erdogan opponierte zu Beginn des Jahrtausends gegen den Erziehungsauftrag für ganze Bevölkerungsschichten und versprach Demokratie. Er stellte aber bald das Land vom Fuß auf den Kopf und ersetzte die alte Elite durch eine auf ihn ausgerichtete andere. Sein populistischer Furor machte aus Menschen anderer Weltanschauung Landes- oder gar Gottesfeinde. Was das Land noch eint, scheint auch für viele Türken kaum noch erkennbar zu sein.
Die türkischen Welten prallen in Berlin aufeinander
Etwas Seltsames ist in Berlin in den vergangenen Jahren geschehen. Hunderttausende Türken leben seit den 1960er-Jahren in der deutschen Hauptstadt. Sie kamen als sogenannte Gastarbeiter aus ländlichen Regionen der Türkei, in denen nur die Armut florierte. Zum auch „Reis“, also Anführer, genannten Präsidenten entwickelten viele dieser Deutsch-Türken eine zärtliche Anhängerschaft.
Nach dem gescheiterten Putschversuch gegen Erdogan 2016 setzte eine neue Welle der türkischen Migration nach Berlin ein. Dieses Mal verließen die Türken nicht aus wirtschaftlicher Not ihr Land. Intellektuelle und Journalisten fürchteten staatliche Verfolgung. Gut ausgebildete Türken sahen ihren westlichen Lebensstil bedroht. Berlin zog sowohl die politischen Emigranten als auch die Lifestyle-Exilanten aus der Türkei an. Ganze Szeneviertel Istanbuls schienen mit ihren Barbesitzern und DJs nach Berlin überzusiedeln.
In Deutschland geborene Erdogan-Fans und aus der Türkei ausgewanderte Gegner der Regierung leben nun in denselben Kiezen. Sie sprechen dieselbe Sprache und haben sich wenig zu sagen.
Ein Unternehmer erklärt die Sympathie vieler Deutsch-Türken für die AKP
Der Unternehmer Yusuf Bayrak hat sich in Berlin eine Existenz aufgebaut. Seine beiden Söhne leiten den von ihm gegründeten Betrieb, der mit Haushaltswaren unter anderem aus der Türkei handelt. Bayrak wurde 1963 in der Region am Schwarzen Meer geboren. Er war Kandidat der Migrantenpartei Big in Neukölln und ist Mitglied des islamisch-konservativen Unternehmerverbands Müsiad. Der versteht sich als Mittelstandsvereinigung, die sich mit ihrer Nähe zur AKP vom Großindustriellen-Verband Tüsiad abgrenzt.
Bayrak hat eine Theorie, warum Berliner Türken Tag für Tag Schlange stehen, um für eine Wahl in einem Land abzustimmen, das viele von ihnen nur aus dem Urlaub kennen. Türken, die keinen deutschen Pass besitzen, dürften anders als EU-Ausländer nicht einmal bei Kommunalwahlen mit abstimmen, selbst wenn sie schon seit den 60er-Jahren in Berlin lebten. Erdogan habe erkannt, sagt Bayrak, dass vielen Deutsch-Türken das Zugehörigkeitsgefühl zur deutschen Gesellschaft fehle. „Er lässt sie wählen. Und ich gehe davon aus, dass Erdogans Allianz hier 60 bis 70 Prozent der Stimmen holen wird“, sagt Bayrak.
Dem Unternehmer zufolge treibt das deutsche Zögern bei der Integration Türkischstämmige in die Arme der AKP. Er scheint das aber nicht schlecht zu finden. Bei den Wahlen entscheide sich, ob die Türkei selbstständig bleibe oder eine „europäische Kolonie“ werde. Bayrak muss nicht erst den Namen des Kandidaten nennen, der das verhindern kann. Präsident Erdogans verbale Spitzen gegen die Nato-Verbündeten der Türkei sind ungezählt. Die Türken sollten aber nach der Wahl wieder zu mehr Einheit finden, findet er. Er empfiehlt gerechtes Teilen. „Jeder sollte sich an den Tisch setzen und essen, was er will“, meint Bayrak. Es klingt nach Müdigkeit angesichts einer Konfrontation, bei der beide Seiten immer wieder den ganzen Kuchen für sich verlangen.
Viele Türken verließen in den vergangenen Jahren ihr Land
Ortswechsel nach Charlottenburg. Der Mathematiklehrer Gokcen Ceylan sammelt Spielfiguren und stellt sie einem Hängeregal in seinem Wohnzimmer auf. Der 45-Jährige trägt einen Ohrring und einen schwarzen Hoodie. Es sind Äußerlichkeiten, mit denen er in Neukölln oder Kreuzberg auffallen würde als Repräsentant der „Neuen Welle“.
Ceylan verließ Istanbul mit seiner Frau vor fünf Jahren. Sie hätten die Spannungen in der Gesellschaft nicht mehr ausgehalten. Gokcen Ceylan macht nicht nur die AKP für das vergiftete Klima in der Türkei verantwortlich. Erdogan sei nur das Ergebnis eines Systems, in dem sich Teile der türkischen Gesellschaft gegenseitig abwerteten. „Ich glaube nicht, dass sich durch den Wahlsieg der Opposition daran etwas ändern würde. Dazu bräuchte es einen Wandel in der Gesellschaft“, sagt der Lehrer.
Die Erdbebenkatastrophe vom Februar habe die Attacken nur kurzfristig überlagert. Damals strömten auch in Berlin Türkeistämmige jeder Weltanschauung zu den provisorischen Spendenzentren, um gemeinsam Pakete mit Kleidung und Lebensmitteln zu stapeln. Das Entsetzen überlagerte für einen Moment politische Vorlieben. „Inzwischen sehen alle die Katastrophe wieder durch ihre Brille. Die einen loben die Hilfe der Regierung, die anderen machen sie für alles verantwortlich“, sagt Ceylan.

Die Verehrung von Atatürk trägt Züge einer Ersatzreligion
Beide Lager verhielten sich seinem Eindruck nach bigott. Ceylan erzählt von Bekannten, die ein Porträt des Staatsgründers Atatürk auf den Nachttisch ihrer fünfjährigen Tochter gestellt haben. „Ich habe mich gefragt: Was hat das in einem Kinderzimmer zu suchen?“, sagt der Lehrer.
Die Spaltung in der Türkei setze sich auch zwischen Türken im Ausland fort. Er habe lange kaum Begegnungen mit Deutsch-Türken gehabt. An einer der beiden Schulen, an denen er unterrichtet, gebe es Referendare mit türkischen Wurzeln. „Sie sprechen aber Deutsch mit mir. Ich glaube, sie genieren sich für ihren Akzent, weil ich aus Istanbul komme“, sagt Ceylan.
Die Politik-und Sozialwissenschaftlerin Gülistan Gürbey bestätigt, dass sich mit den verschiedenen Migrationswellen die Pole der türkischen Gesellschaft in Berlin wiederfinden. Gleichzeitig täuschten sich türkische Neueinwanderer, aber auch die deutsche Mehrheitsgesellschaft in ihrem Bild von einer homogenen deutsch-türkischen Gemeinde, die nun geeint der AKP die Stange halte. Allerdings seien sowohl Deutsch-Türken als auch die Türken in der Türkei mehrheitlich konservativ und vor allem nationalistisch eingestellt. Diese Werte bediene Erdogan, indem er sich als starker Führer eines einflussreichen Landes inszeniere. „Das trifft auf fruchtbaren Boden in der Türkei als auch in Deutschland“, erklärt Gürbey.
Viele Deutsch-Türken gehen nicht wählen
Gülistan Gürbey verweist auf Wahlergebnisse der Vergangenheit, die weniger eindeutig seien als sie erschienen. 2018 haben knapp 65 Prozent der türkischen Wähler in Deutschland für die AKP gestimmt, aber nur 46 Prozent sind zu den Wahlen gegangen. In diesem Jahr könnte die Euphorie in der Türkei über einen möglichen Machtwechsel mehr Wähler aus beiden Lagern an die Urnen locken, mutmaßt die Wissenschaftlerin.
Die AKP habe durch die staatlichen Verbindungen der in der Ditib vereinten türkischen Moscheegemeinden zum türkischen Staat einen Standortvorteil bei der Mobilisierung von Anhängern. Die AKP und die mit ihr verbündete Nationalisten-Partei MHP seien in Deutschland auch im türkischen Vereinswesen stark präsent. Die Wahlkampagne laufe bereits seit einem Jahr hinter verschlossenen Türen, ohne die Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit zu erregen.












