Die Wahlen in der Türkei haben begonnen. Seit Donnerstag können im Ausland lebende Türken ihre Stimme abgeben. Sie stellen etwa fünf Prozent der Wähler dar – und könnten bei einem knappen Rennen darüber entscheiden, ob der von Joe Biden als „Autokrat“ bezeichnete Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan weiter an der Spitze des wichtigen Nato-Landes steht. Die Hälfte der ausländischen Wähler kommt aus Deutschland. Die 1,5 Millionen türkische Staatsbürger, die in Deutschland leben, haben bei der vergangenen Wahl überdurchschnittlich für Erdogan gestimmt. 2018 erreichte Erdogan in Deutschland 64,8 Prozent der Stimmen, während in der Türkei 52,6 Prozent für ihn stimmten. Deutschland ist auch eine Ausnahme im internationalen Vergleich: Bei derselben Wahl erreichte Erdogan nur 17 Prozent der Stimmen der Türken in den USA, 21 Prozent in Großbritannien, 35 Prozent im Iran und 29 Prozent in Katar. Die deutschen Türken sind eher konservativ, viele aus der älteren Generation haben zwar im Zuge der Gastarbeiter-Abkommen signifikanten Anteil am deutschen Wirtschaftswunder, blieben jedoch kulturell und sprachlich unter sich. Sie bildeten ihre eigenen Gemeinschaften, mit eigenem Kulturleben, weshalb die meisten sich in Deutschland so zu Hause fühlten, dass sie nicht mehr in die Türkei zurückkehren wollten. Sie sehen in Erdogan einen Staatsmann, der der Nation ihren Stolz wiedergegeben hat. Auch über die Religion gibt es eine starke Bindung an die Heimat: Die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (Ditib), in der die türkischen Moscheen organisiert sind, ist direkt dem türkischen Präsidialamt unterstellt. Die Ditib entsendet die in der Türkei ausgebildeten Imame nach Deutschland, wo sie ihren Dienst in den Moscheen faktisch als Beamte des türkischen Staates versehen. Diese Autonomie wird immer wieder problematisiert, zuletzt sagte Innenministerin Nancy Faser im Dezember, sie wolle die Einsätze der türkischen Imame „schrittweise reduzieren, mit dem Ziel, sie zu beenden“.
Doch die alten Muster werden auch in der deutschen Community in Frage gestellt: Vor allem die Deutsch-Türken der zweiten und dritten Generation sowie die zahlreichen Immigranten, von denen Tausende in Deutschland als begehrte Programmierer in der Technologie-Branche arbeiten, sehen in Erdogan keinen Helden, sondern einen Politiker von gestern. Nicht nur die religiöse Folklore der regierenden AKP ist ihnen fremd. Auch der antiamerikanische Nationalismus stößt sie ab. Vor allem aber hadern sie mit der unorthodoxen Wirtschaftspolitik, die viele von ihnen faktisch außer Landes getrieben hat: Eine obszön hohe Inflation und eine geringe Zahl an attraktiven Arbeitsplätzen sind Fakten, die auch die politische Rhetorik der Erdogan-Partei nicht übertönen können. In vielen Familien halten die Jungen mit ihrer Kritik an Erdogan nicht hinterm Berg – während die Alten oft schweigen. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass sich die Eltern und Großeltern von den Sorgen der jungen Leute beeindrucken lassen und sie schließlich ihre Stimme dann doch nicht Erdogan geben werden. Jüngste Umfragen zeigen laut dem Middle East Eye, dass Kilicdaroglu in einer Stichwahl 50,3 Prozent erreichen könnte, während Erdogan auf etwa 49,7 Prozent käme. Kilicdaroglu führt eine säkulare Koalition an, die unter anderem von den Amerikanern unterstützt wird. Auch der deutsche Landwirtschaftsminister Cem Özdemir sagte laut deutschen Medien, ein Sieg von Kilicdaroglu würde der Türkei den Weg zur Rückkehr in die Demokratie ebnen.
Auch die kurdische Partei HDP rief am Freitag ihre Anhänger offiziell auf, bei der Wahl am 14. Mai für Kilicdaroglu zu stimmen. HDP-Chef Mithat Sancar sagte in einem Interview mit der Zeitung Sözcü: „Um das Land aus dieser Dunkelheit zu führen, müssen wir dieses Regime loswerden, das von einem einzigen Mann dominiert wird.“ Angesichts des historisch einzigartig breiten Widerstands gegen Erdogan setzen seine Wahlkampftruppen auf antiamerikanische Parolen. So schrieb die regierungsnahe Zeitung Sabah dieser Tage, die Biden-Regierung wolle gemeinsam mit George Soros einen Umsturz im Land herbeiführen. Dies sei den Amerikanern zwar in der Ukraine gelungen, doch die Türkei werde das tun, „was das ungarische Volk getan hat: auf dem Weg der totalen Unabhängigkeit zu bestehen“.

