Antibiotika-Säfte für Kinder sind momentan Mangelware. Eine Scharlach-Welle und andere Infektionen stellen das anfällige System der Arznei-Versorgung vor eine Zerreißprobe. Im Interview schildert der Berliner Apotheker Steffen Reinholz den täglichen Wahnsinn. Er sagt: „Solange das Gesundheitssystem unter Kostendruck steht, wird sich nichts ändern.“
Herr Reinholz, wie kritisch ist die Versorgungslage im Moment?
Bei Antibiotika-Säften ist die Nachfrage extrem. Bei der kleinen Packungsgröße von Amoxicillin zum Beispiel haben wir den Vorjahresumsatz bereits übertroffen, bei der nächstgrößeren Packung schon jetzt den Umsatz des gesamten Vorjahres mehr als verdoppelt.
Welche Präparate sind noch rar?
Bei Penicillin-Säften gibt es Probleme. Die kleinste Flaschengröße wurde früher fast nie nachgefragt. Jetzt haben wir in unserer Apotheke schon an die 160 Flaschen verkauft. In letzter Zeit immer wieder schwierig zu bekommen sind Augentropfen, die Antibiotika enthalten. Mir berichtete neulich ein Kinderarzt, dass sich bei ihm Patienten teilweise schon zum zweiten Mal mit Scharlach vorgestellt haben. Es ist ein Wahnsinn, was da gerade los ist.
Scharlach?
Das war eine der größeren Krankheitswellen in diesem Jahr. Mitte Januar ging das spürbar los und erstreckte sich über mehrere Wochen.
Apotheker: „Manche Präparate erst 2024 erhältlich“
Bewältigen Sie den Ansturm?
Unsere Apotheke kommt bisher relativ gut durch die Krise, weil ich bei den Herstellern ständig nachfrage, wann sie bestimmte Medikamente liefern können. Und wenn ein Präparat nicht vorrätig ist, reserviere ich so viel, dass damit ein möglicher Bedarf gedeckt werden kann. Sollte es dann zu viel sein, kann ich immer noch Ware zurückschicken. Manche Präparate sind allerdings erst 2024 wieder erhältlich.
Im kommenden Jahr? Wie können Sie da planen?
Das ist sehr kompliziert. Man muss sich ja auch mit den Ärzten der Kunden abstimmen. Wobei manche darauf bestehen, dass es ein ganz bestimmtes Antibiotikum sein soll.
Und dann klappern die Leute eine Apotheke nach der anderen ab?
Genau. Inzwischen kommen auch viele Kunden aus dem Brandenburger Umland zu uns und erkundigen sich, ob irgendwo noch ein bestimmter Antibiotika-Saft verfügbar ist. Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass man solche Säfte nicht immer einfach austauschen kann, weil eventuell eine Resistenz vorliegt. In manchen Fällen frage ich mich aber, ob die verschreibenden Ärzte oder Ärztinnen mitbekommen haben, was hier momentan los ist. Eine arme, leidende Familie durch ganz Berlin zu jagen, ist schon krass.

Wie oft müssen Sie Patienten fortschicken?
Bei lebenswichtigen Medikamenten wie Antibiotika kann ich mich nicht erinnern, dass dies der Fall war. Doch, Moment – bei Amoxicillin war ich kurzzeitig dazu gezwungen.
Sie arbeiten in einem Verbund von mehreren Filialen, aber wie sieht es bei kleineren Kiez-Apotheken aus?
Ich habe zum Beispiel befreundete Kollegen in Koblenz, für die ist es aussichtslos, Antibiotika-Säfte vorzubestellen. Ich finde es problematisch, dass sich bestimmte Apotheken bevorraten können, während andere komplett leer ausgehen. In Zeiten des Mangels, in denen jeder versucht, seinen Patientinnen und Patienten die größtmögliche Versorgungssicherheit zu bieten, ist das System sehr unfair.
Welchen Aufwand müssen Sie betreiben?
Man bräuchte eine Person, die sich nur mit Lieferschwierigkeiten befasst. Ich weiß nicht, warum die Hersteller diese Arbeit nicht übernehmen und eine Webseite installieren, auf der sie geplante Verfügbarkeiten verzeichnen.
Könnten die Produzenten von Arznei das System gerechter gestalten?
Die Hersteller schauen ja, wie viel sie produzieren, wie viel sie einlagern können, orientieren sich am normalen Umsatz. So etwas wie ein rascher Anstieg von Scharlach-Fällen lässt sich allerdings nicht einplanen. Die Firmen können ihre Produktion nicht so schnell hochfahren, um zeitnah Ware bereitzustellen. Bei Antibiotika-Säften kommt hinzu, dass sie in Glasflaschen abgefüllt werden.
Wo liegt das Problem?
Es gab zwischenzeitlich einen Mangel an Glasflaschen, denn wegen der stark gestiegenen Energiepreise wurde die Herstellung teurer. Und wenn wir schon bei höheren Kosten sind: Eine dreimonatige Übergangsregelung ist ausgelaufen, nach der Krankenkassen die höheren Preise für Kinderarznei übernehmen. Eltern legen für viele Präparate drauf.
Sind nur Antibiotika-Säfte knapp?
Wie schon in den vergangenen Monaten muss man in allen Wirkstoffgruppen schauen, wo man noch etwas bekommt.
Zum Beispiel?
Cholesterin-Senker, Blutdruck-Mittel, Medikamente gegen zu viel Magensäure. Ein Kombinationsmittel gegen Infektionen mit Helicobacter namens Pylera ist im Moment sehr schwer erhältlich, ebenso Aldara, ein Wirkstoff gegen manche sexuell übertragbaren Erkrankungen. Da muss ein Patient schon bei einigen Apotheken nachfragen, bis er fündig wird. Ich versuche tendenziell immer mehr einzukaufen, weil ich ja nicht weiß, was ich in einem Monat bekommen kann. Es gibt zwar oft Hersteller, die im Notfall einspringen können, auch wenn sie nicht die Vertragspartner der Krankenkassen sind, aber planen kann man damit nicht.
Was bedeutet das für Menschen, die permanent auf Medikamente angewiesen sind?
Für manche Patienten ist es wichtig, dass es immer derselbe Hersteller ist. Ältere und demente Menschen etwa kommen sonst durcheinander, vor allem wenn sie mehrere Präparate einnehmen müssen. Eine wichtige Frage ist auch, ob eine Apotheke diese Art der Vorratshaltung finanzieren kann, man geht ja in Vorleistung. Größeren Apotheken gelingt das besser als kleineren. Nicht umsonst ist ja die Zahl der Apotheken in Deutschland unter 18.000 gefallen, auf den niedrigsten Stand seit 40 Jahren.
Berlin und Brandenburg erleichtern den Import von Antibiotika-Säften aus dem Ausland. Hilft so etwas?
Die Frage ist, wie viel Ware der europäische Markt überhaupt hergibt. Das führt zu einer weiteren Frage: Verschärft Deutschland durch den Import von Antibiotika-Säften die Versorgungslage im Ausland?
Berliner Apotheker konkurrieren auf dem Markt mit Kollegen im Ausland
Konkurrieren jetzt also Berliner und Brandenburger Apotheker mit französischen, italienischen oder polnischen Apothekern?
So muss man es wohl sehen, und es bleibt abzuwarten, wer diesen Wettbewerb am Ende gewinnt. Eine Konsequenz könnte sein, dass Behörden anderer Länder einen Exportstopp verhängen, weil sie selbst einen Engpass befürchten.
Unternimmt die deutsche Politik genug, um das System krisenfest zu machen?
Es ist löblich, dass Gesundheitsminister Karl Lauterbach mehr Produktion in Deutschland fordert. Wir brauchen Diversität, um Lieferausfälle kompensieren und die Qualität sichern zu können. Doch das muss ja irgendwie bezahlt werden. Wenn die Politik den Kostendruck nicht aus dem Gesundheitssystem nimmt, wird sich nichts ändern. Krankenkassen bevorzugen die Hersteller, die den günstigsten Preis bieten. Das ist dann im Zweifelsfall ein Hersteller, der in China oder Indien produzieren lässt. Hexal zum Beispiel stellt noch in Österreich Antibiotika her. Doch das Unternehmen hat gesagt, dass es nicht zuletzt wegen der Energiekrise überlegt, ob es daran festhält.




