Geht man in Berlin derzeit in eine Apotheke, kann es sein, dass man Glück hat. Wenn man das passende Leiden hat, ist das Mittel zur Bekämpfung auf Lager.
Doch immer mehr Menschen haben offenbar die falschen Krankheiten: Krebs gehört dazu. Bluthochdruck ebenfalls. Schilddrüsenprobleme. Oder noch schlimmer: als Kind einen Atemwegsinfekt, für den es Antibiotika braucht.
Leider haben allerdings Millionen von Deutschen, ob nun Groß oder Klein, genau diese Krankheiten, sie gehören zu den sogenannten Volksleiden. Wie kann es also sein, dass die Medikamente für genau jene Leiden so knapp sind, dass Apotheker, Ärzte und Funktionäre Alarm schlagen?
Der Apothekerverband drängt auf eine nationale Antibiotika-Reserve. Angesichts der Medikamentenknappheit, aktuell vor allem bei Antibiotika, müsse der Staat – wie beim Impfstoff – feste Abnahmemengen zusagen, um den Versorgungsmangel zu beseitigen.
Das sagte der Chef des Apothekerverbands Nordrhein, Thomas Preis, der Rheinischen Post am Mittwoch. Vergangene Woche hatte der Bund offiziell einen Mangel an Antibiotika speziell für Kinder ausgerufen. Das ebnete den Weg für die Bundesländer, das potenziell lebensrettende Medikament in größeren Mengen aus dem Ausland zu importieren.
Doch auch in anderen EU-Ländern seien die Medikamente knapp, betonte Preis. Wegen der akuten Notlage dürfen deutsche Apotheker nun schon selbst Antibiotika-Säfte für Kinder anrühren. Die dafür benötigten Rohstoffe seien aber ebenfalls Mangelware.
Neben Bayern, Bremen, NRW, Baden-Württemberg und Brandenburg nutzt nun auch Berlin die neu geschaffene Möglichkeit der Abweichung vom Arzneimittelgesetz und erlaubt vorübergehenden den Import nicht zugelassener Antibiotika-Säfte für Kinder. Das erklärte die Senatsgesundheitsverwaltung auf Nachfrage der Berliner Morgenpost. Das ist nötig, weil sonst die Nachfrage nicht mehr bewältigt und die kleinen Patienten nicht mehr versorgt werden können. In Grenznähe fahren Patienten schon längst ins Nachbarland, wo sie die benötigten Medikamente teils im Supermarkt kaufen können, etwa in den Niederlanden.
Da darf man sich getrost fragen: Was funktioniert eigentlich noch problemlos in diesem Land? Im Gesundheitssystem jedenfalls immer weniger.
Dabei ist es nicht Corona, wie viele meinen, das für diese Zustände verantwortlich ist, im Gegenteil: Die Pandemie hat vor allem aufgezeigt, wie hanebüchen schon vor der Krise mit unserem höchsten Gut umgegangen wurde, der Gesundheit.
Zwar mussten unter anderem durch diverse Lockdowns weltweit Kapazitäten und Produktionen heruntergefahren werden, was nun in der Folge mit zu diesem Mangel führt, nicht nur bei Rohstoffen für Medizin, auch bei Verpackungsmaterial.
Ruinöser Preiskampf und übersteigerte Ökonomisierung
Doch es gibt schon seit Jahren bei allen möglichen Medikamenten immer wieder Lieferengpässe und der Mangel spitzt sich immer weiter zu. Waren es 2015 laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) noch 40 Meldungen über nicht lieferbare Medizinprodukte, so gab es 2019 schon über 250 solcher Meldungen. Und zwar nicht etwa zu Nischenprodukten, sondern zu Arzneien, die Millionen Patienten in Deutschland täglich dringend benötigen: u.a. Blutdrucksenker, Krebsmittel, Narkosemittel, Cortison-Präparate, Schmerzmittel, Schilddrüsenmedikamente, auch Impfstoffe, Antidepressiva und eben Antibiotika. Aktuell gibt es bei 467 Medikamenten Engpässe.
Dass nun Kinderärzte Alarm schlagen, liegt nicht nur am aktuellen Antibiotika-Mangel, sondern auch daran, dass sie sich vor dem nächsten Herbst sorgen – wenn die Erkältungssaison wieder beginnt und die Politik bis dahin nichts weiter als kurzfristige Notlösungen geschaffen haben wird.
All dieses Elend liegt vor allem daran, dass die Arzneimittelproduktion aus Kostengründen ins Ausland verlagert wurde und Indien und China sich nun aussuchen können, an wen sie überhaupt noch wann und wie viel liefern. Die deutschen Krankenkassen mit ihrer rigiden Preispolitik sind dabei zunehmend nicht die erste Wahl.
Und auch die Apotheker selbst gehen nach eigenen Angaben auf dem Zahnfleisch, zumindest was die bürokratischen Anforderungen an ihre Arbeit angeht, die ständig zunehmen würden, beklagen immer mehr Betroffene. Allein zehn Prozent ihrer Arbeitszeit gingen dafür drauf, bei Medikamenten-Engpässen mit Ärzten, Großhändlern und Patienten nach Lösungen zu suchen, beklagte zuletzt der Apotheker-Dachverband ABDA. In den vergangenen zehn Jahren mussten zudem bundesweit 3000 Apotheken schließen.
Was macht eigentlich Karl Lauterbach? Während der Corona-Krise noch gern gesehener Gast auf allen Kanälen, vor allem des nachts in TV-Studios, ist es in letzter Zeit ruhiger um den Gesundheitsminister geworden. Auch auf seinem eigenen Twitter-Account, wo er kaum noch Studien postet, sondern eher Fotos von sich mit dem blauhaarigen Rezo, von sich mit dem Klavierspieler Igor Levit, von sich beim Gewerkschaftsbund, Neues von der Wärmepumpen-Front oder von der Cannabis-Legalisierung.
Fairerweise muss man attestieren, dass den SPD-Gesundheitspolitiker nicht die Schuld in diesen Fragen trifft, sondern dass das Thema Medikamentenproduktion schon seine Vorgänger Jens Spahn, Hermann Gröhe (beide CDU), Daniel Bahr und Philipp Rösler (beide FDP) nicht angefasst haben. Nachdem Lauterbachs SPD-Vorgängerin Ulla Schmidt einst das sogenannte Beitragssicherungsgesetz einführte, das seit 2003 den Krankenkassen ermöglicht, Rabattvereinbarungen über Arzneimittel mit Pharmaunternehmen abzuschließen. Dadurch erhalten die Anbieter den Zuschlag, die den günstigsten Preis bieten. Was sich nun eben als Falle herausgestellt hat, da es weitaus weniger Angebot als Nachfrage gibt. Experten sprechen schon lange von einem ruinösen Preiskampf.





