Gesundheit

Deshalb sind Engpässe bei Medikamenten für Krebspatienten besonders gefährlich

Kassen-Rabatte, Lieferketten, Abhängigkeit von Fernost – immer wieder wird Arznei in Deutschland knapp. Vor allem altbewährte Generika sind betroffen.

Mammografie bei einer Frau: Ein Lieferengpass beim Medikament Tamoxifen hat Brustkrebs-Patientinnen verunsichert.
Mammografie bei einer Frau: Ein Lieferengpass beim Medikament Tamoxifen hat Brustkrebs-Patientinnen verunsichert.dpa/Michael Hanschke

Eine Geschichte, die sich so oder so ähnlich in Deutschland zutragen kann: Eine Frau leidet an Brustkrebs, einem sogenannten Mammakarzinom. Sie nimmt seit längerem ein bestimmtes Medikament und wird dies vermutlich noch einige Jahre tun müssen. Es wirkt gut, die Prognose ist vielversprechend. Doch plötzlich ist diese Standard-Arznei nicht mehr lieferbar. Die Frau muss auf ein anderes Präparat ausweichen. Sie verträgt es nicht gut. Starke Nebenwirkungen machen ihr zu schaffen. Sie bricht die Therapie ab, ihre Chancen auf Heilung verschlechtern sich dramatisch.

Matthias Beckmann von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe hat jetzt über solche Fälle berichtet. Der Professor der Uniklinik Erlangen sprach über Versorgungsengpässe bei Krebsmedikamenten, die lebensgefährlich werden können. Dass bestimmte Präparate zeitweise nicht zur Verfügung stehen, ist nicht neu. Zuletzt beschäftigte das Thema die Öffentlichkeit besonders intensiv, weil Fiebersäfte und Antibiotika für Kinder schwer erhältlich waren, weil eine Welle von Infekten und leere Regale in den Apotheken in einer prekären Lage gipfelten. Fachverbände wie die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie (DGHO) warnen schon seit Jahren vor den gefährlichen Folgen fehlender Arznei. Sie tun dies im Sinne von Millionen Krebspatienten hierzulande.

Rund 500.000 Menschen erhalten in Deutschland pro Jahr die Diagnose Krebs, mit circa 72.000 Neuerkrankungen ist das Mammakarzinom die häufigste onkologische Erkrankung bei Frauen. „Es gibt zwar  keine Engpässe bei innovativen Medikamenten“, sagt Beckmann. „Probleme bestehen aber bei langjährig verwendeten Medikamenten.“ Solche, bei denen die Patentrechte ausgelaufen sind, sogenannte Generika. Sie machen rund die Hälfte der 210 in Deutschland zugelassenen Medikamente zur Krebstherapie aus. Für sie bekommt die Pharmaindustrie weniger Geld als für patentrechtlich geschützte Neuheiten. Tamoxifen ist ein solches Generikum. Es hemmt das hormonabhängige Wachstum von Tumorzellen und wird zur Nachsorge eingesetzt, meist über mehrere Jahre, oft mit Erfolg.

Seit einem halben Jahrhundert befindet sich Tamoxifen auf dem Markt, 1962 wurde es eingeführt. Es existiert bisher kein Präparat, das es gleichwertig ersetzen könnte. Anfang des vergangenen Jahres war das Medikament nicht zu bekommen. Es fehlten Inhaltsstoffe, weil immer mehr Zulieferer deren Produktion eingestellt hatten. „Von ehemals acht Herstellern blieben zwischenzeitlich nur zwei übrig“, sagt Karl Broich, Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).

Packungen mit dem Brustkrebsmittel Tamoxifen
Packungen mit dem Brustkrebsmittel Tamoxifendpa/Hannibal Hanschke

An Tamoxifen lassen sich die Ursachen dafür erkennen, dass Medikamente immer mal wieder für eine Weile vom Markt verschwinden. Deutschland, sagt Broich, sei von Lieferketten und internationalen Herstellern abhängig, die überwiegend in Indien oder China beheimatet seien. Stockt die Produktion, wegen grassierender Corona-Infektionen in China derzeit zum Beispiel oder wegen eines möglichen Chemie-Unfalls in Indien, bekommen das die hiesigen Patienten zu spüren. Manche reagieren auf den Mangel mit Hamsterkäufen und verschärfen die Krise dadurch. „Wir haben teilweise die Situation, dass bestimmte Regionen gut versorgt sind, während anderswo Mangel herrscht“, sagt Broich.

Engpass bei Immunglobulinen: Gefahr bei Immundefekt

Der Markt befindet sich mal mehr, mal weniger in Schieflage. 2017 fehlten lediglich zwei, 2022 dagegen zehn Medikamente. „Versorgungskritisch“, so nennt Bernhard Wörmann das. Der medizinische Leiter der DGHO sieht Engpässe aktuell nicht nur bei Krebsmedikamenten, sondern zum Beispiel auch bei Harnsäure-Senkern. Seit einigen Monaten sind Immunglobuline knapp, aus Blutplasma gewonnen, die Menschen mit Immundefekt benötigen. Die Situation spitzte sich zu, als das Unternehmen Octapharma sein Produkt Cutaquig bis auf weiteres nicht mehr auslieferte. Es warf dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) vor, unrechtmäßig Rabatte für Cutaquig zu fordern, das 2020 ein anderes Medikament abgelöst hatte.

Krankenkassen können solche Preisnachlässe mit Herstellern vereinbaren. Sie erstatten dann die Kosten nur  für deren Medikamente. Produzenten gleichwertiger Präparate setzen weniger ab. Ohnehin sind die Beträge für Arznei festgelegt, für die gesetzliche Kassen aufkommen. Liegt der Verkaufspreis höher, müssen Kunden die Differenz selbst bezahlen oder auf ein vergleichbares, günstigeres Produkt ausweichen. Deshalb kauft die Industrie Wirkstoffe tendenziell dort ein, wo sie billig sind: in China eben oder Indien.

Diese Abhängigkeit zu durchbrechen, die Produktion nach Europa zurückzuholen, kostet Geld und Zeit. Immerhin ein Register für knappe Arznei gibt es schon, es herrscht Meldepflicht. Doch Wörmann geht das nicht weit genug: Er fordert eine Art Frühwarnsystem, das bereits dann anschlägt, wenn ein Mangel droht, und nicht erst, wenn er eingetreten ist. Außerdem solle die Industrie mit den Krankenkassen verpflichtende Lieferungen vereinbaren, sagt er, Vorräte seien anzulegen, „für acht Wochen oder drei Monate“.

Die EU hat inzwischen eine Taskforce eingerichtet, darauf verweist Thomas Seufferlein, Vorstand der Deutschen Krebsgesellschaft. „Auch der Markt hat erkannt, dass es Verbesserungen geben muss“, sagt er. Und: „Es handelt sich um ein internationales Problem.“ Die USA zum Beispiel schlagen sich ebenfalls damit herum. Krebspatienten in Deutschland dürfte das allerdings wenig trösten.