Neue Studie

„Es geht um Bewegung, nicht um Leistung“: Wie Sport bei Krebs helfen kann

Mehr als 15.000 Berliner erkranken jährlich an Krebs. Bewegung kann ihnen guttun, die Charité bietet dafür ein Programm an. Eine Teilnehmerin berichtet.

Der Mauerweg in Lichtenrade ist ein guter Ort, um in Bewegung zu kommen.
Der Mauerweg in Lichtenrade ist ein guter Ort, um in Bewegung zu kommen.Emmanuele Contini

Hier hört die Metropole endgültig auf, hier stehen die letzten Häuser, beginnt das „Wäldchen“. So nennen sie in Lichtenrade den Grünzug, hinter dem sich das Brandenburger Ackerland im Nirgendwo verliert. Dazwischen liegt der Mauerweg, wo heute Grenzerfahrungen nur noch im Laufdress oder auf dem Fahrrad gemacht werden. Es ist ein guter Ort, um in Bewegung zu kommen.

Petra Sommer kommt regelmäßig hierher. Sie trägt dann einen Tracker an ihrem Handgelenk. „Diese kleine, hässliche Uhr sorgt dafür, dass ich mich diszipliniere“, sagt die 58-Jährige. Sie lacht, denn kann sie inzwischen wieder: lachen. Der Tracker hat damit zu tun. Er misst, wie aktiv sie ist, zählt ihre Schritte, erfasst ihren Pulsschlag, registriert jede Trainingseinheit. Er gibt den Takt vor in ihrem Leben nach dem Krebs.

Petra Sommer hatte Brustkrebs. Ihre Geschichte ist typisch, einerseits. Andererseits aber auch nicht. Mehr als 70.000 Frauen erhalten im Jahr in Deutschland diese Diagnose. Es handelt sich um die häufigste Tumorerkrankung bei Frauen. Doch die Idee, dass Sport bei der Heilung helfen kann, bei Brustkrebs, bei Krebs generell, setzt sich erst zögerlich durch. Ärzte und Wissenschaftler der Charité wollen das ändern. Unter anderem mit einer Studie, die „Sport nach Krebs“ heißt.

Untersucht wird, ob sich Sport nach einer Akuttherapie auch digital anleiten lässt. Die AOK Nordost finanziert das Modellprojekt. Sie stellt zum Beispiel die Tracker, von denen Petra Sommer einen bei sich trägt. Wie viele andere Probandinnen ist sie über die Krankenkasse auf die Studie aufmerksam geworden. 31 von ihnen betreiben Reha-Sport auf klassische Art, in einer Gruppe. 61 gehen den digital gestützten Weg. Wie Petra Sommer. Denn die klassische Art war nichts für sie.

Mehr als 15.000 Berliner erkranken jährlich an Krebs

Reine Krebssportgruppen sind in Deutschland selten. Nicht nur in der Provinz, auf dem Dorf, sondern sogar in der Hauptstadt. Es kommt zu einer paradoxen Situation: Mehr als 15.000 Berliner erkranken im Jahr an einem Tumor. Die Nachfrage dürfte daher groß sein, das Angebot ist es jedoch nicht. Die Reha-Sportvereine der Stadt verfügen kaum über Gruppen, die sich rein an die besonderen Bedürfnisse von Krebspatienten anpassen. Für sich selbst hat Petra Sommer festgestellt: „Das, was bei uns im Süden angeboten wird, ist nicht okay.“

Sie hat schon vor der einschneidenden Diagnose Sport gemacht, mal mehr, mal weniger. Vor 2014, als der Befund Brustkrebs ihr Leben auf den Kopf stellte und die Akuttherapie ihre Tage bestimmte. Und ihre Verfassung. Die Bestrahlungen machten ihr zu schaffen. Die Chemotherapie setzte ihr zu. Die Nebenwirkungen waren oft nur schwer zu ertragen. Eines der Medikamente verursachte Depressionen. „Mir fiel es schwer, mich zu konzentrieren. Außerdem wurden meine Füße taub. An Sport war für mich in dieser Zeit überhaupt nicht zu denken“, erzählt Petra Sommer.

Wie ihr geht es den meisten Krebspatienten. Depressive Angststörungen kommen häufig vor. Seele und Körper sind enormen Belastungen ausgesetzt. Eine Chemotherapie greift nicht nur das Tumorgewebe an, auch Nerven und Knochen können in Mitleidenschaft gezogen werden. Rund 90 Prozent der so behandelten Patienten klagen über chronische Erschöpfung, über Fatigue.

Doch sogar für sie könne eine aktive Reha in Betracht kommen, sagt Bernd Wolfarth. „Viele verbinden mit Sport Leistung. Doch darum geht es nicht. Es geht grundsätzlich um Bewegung“, erklärt der Professor. Er leitet an der Charité die Abteilung Sportmedizin, dort ist die Studie angesiedelt. „Am besten untersucht ist ein moderates Ausdauertraining“, sagt Wolfarth. Er sitzt in seinem Büro und scrollt auf dem Smartphone noch einmal den Zeitplan des Deutschen Krebskongresses in Berlin durch, die größte Tagung ihrer Art weltweit, mit mehr als 10.000 Teilnehmern. Sie beginnt an diesem Sonntag. Das Thema Sport und Bewegung wird am Mittwoch behandelt.

Charité-Professor: Sport kann Symptome von Fatigue lindern

„Bei Fatigue zum Beispiel ist eine Kombination von Kraft- und Ausdauertraining empfehlenswert“, sagt Internist Wolfarth, der auch den deutschen Olympia-Kader medizinisch betreut und dem Ärzteteam des 1. FC Union vorsteht. Dreimal pro Woche 30 Minuten Ausdauertraining bei 65 Prozent der maximalen Herzfrequenz, das ist die allgemeine Empfehlung bei diesem Krankheitsbild. Dazu trainieren die Patienten zweimal Kraft, wobei die großen Muskelgruppen angesprochen werden. „Die Übungen sind auf den ganzen Körper ausgerichtet“, sagt der Mediziner. „Eine bessere Grundleistungsfähigkeit wirkt der Erschöpfung bei alltäglichen Tätigkeiten entgegen und sorgt dafür, dass sich Fatigue mit der Zeit auflösen kann.“

Dass Sport eine Krebstherapie effektiv unterstützt, ist seit Langem wissenschaftlich sehr gut belegt. Ebenso kann Sport verhindern, dass die Krankheit wieder zurückkehrt. Studien zufolge sinkt das Risiko eines solchen Rezidivs um bis zu 42 Prozent. Erwiesen ist zudem, dass Mechanismen greifen, die aus dem Training von Leistungssportlern bekannt sind, etwa im Stoffwechsel. „Man kann sich die Summe der positiven Auswirkungen zunutze machen“, sagt Wolfarth. Jeweils angepasst an den Zustand der Patienten, an die Nebenwirkungen der Akuttherapie, an die Vorgeschichte. „Die Herausforderung besteht darin, alle mitzunehmen.“

Ein Jogger auf dem ehemaligen Grenzstreifen zwischen Lichtenrade und Brandenburg
Ein Jogger auf dem ehemaligen Grenzstreifen zwischen Lichtenrade und BrandenburgEmmanuele Contini

Verena Krell stellt sich tagtäglich dieser Herausforderung. Die Sportwissenschaftlerin leitet die Studie „Sport nach Krebs“. Sie sagt: „Wir schauen uns genau an, welcher Sport bei welchem Patienten passt, und erstellen individuelle Trainingsempfehlungen.“ Krell hat gerade einen Blick in ein Zimmer geworfen, in dem sie in der sportmedizinischen Hochschulambulanz die Lungenfunktion überprüfen. Ein gläserner Kasten steht darin, der entfernt an eine Duschkabine erinnert. Jetzt betätigt sie im Nachbarraum einen Wandschalter; Deckenleuchten vertreiben den herbstlichen Dämmer, werfen ihr Licht auf zwei große Laufbänder. An der langen Stirnwand hängt ein Poster. Es zeigt einen Langstreckenläufer, eine Startnummer prangt auf dem Trikot, er befindet sich im Wettkampf.

Hier unterziehen sich austrainierte Athleten regelmäßig einem Leistungstest. Hier haben Petra Sommer und die übrigen Teilnehmer an der Studie ihren Fitnesszustand überprüfen lassen. Und hier könnten künftig auch weitere Krebspatienten einen Check-up machen. Das ist jedenfalls der Plan: Die Charité soll in Berlin zur ersten Anlaufstelle für all jene werden, die nach einer Krebstherapie Sport treiben wollen.

Kontakt für Patienten
Das OnkoAktiv-Zentrum Berlin ist per Mail unter onkoaktiv-berlin@charité zu erreichen. Ein telefonischer Kontakt ist unter 030 209 346 093  möglich. Hier kann man eine allgemeine Beratung/Sprechstunde zu Bewegung, Sport und Krebs in Anspruch nehmen, dazu sportmedizinische Untersuchungen, Abklärungen zur Sporttauglichkeit. Bei Bedarf gibt es orthopädische Sprechstunden zur Beurteilung von Knochenmetastasen.

Seit zwei Jahren ist die Abteilung Sportmedizin „zertifiziertes regionales Zentrum des Netzwerks OnkoAktiv“, gegründet am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg. Der Standort Berlin ist auf kurzem Dienstweg per Mail zu erreichen (siehe Kasten). „Eine Nachricht mit den Kontaktdaten reicht“, sagt Verena Krell. „Wir rufen dann an und vereinbaren einen Termin für ein Beratungsgespräch.“ Das dauert etwa eine Stunde. Mediziner und Sportwissenschaftler sitzen mit am Tisch, falls nötig kommen Fachleute aus der Orthopädie, der Kardiologie, der Ernährungsberatung oder der Psychoonkologie dazu. „Das ist der große Vorteil der Charité, dass sie über diese Expertise verfügt“, sagt Krell.

Deutschlands größte Uniklinik muss nicht erst ein Netzwerk aufbauen. Knapp 5000 Wissenschaftler und Ärzte arbeiten hier an mehr als 1000 Forschungsprojekten. Zu den Schwerpunkten gehören unter anderem die Onkologie und natürliche Heilungsprozesse, sogenannte regenerative Therapien.

Studie: Senkt eine Kombination aus Sport und Diät das Krebsrisiko?

Dorothee Speiser ist Teil dieses Netzwerks. Die Professorin steht dem Zentrum Familiärer Brust- und Eierstockkrebs vor. „Wir sprechen jede Patientin an und versuchen sie dazu zu bewegen, sich in der Sportmedizin vorzustellen.“ Sie tauscht sich mit ihrem Kollegen Bernd Wolfarth regelmäßig aus.

Speisers Institut arbeitet außerdem eng mit Selbsthilfegruppen in der Stadt zusammen, profitiert von der Perspektive der Betroffenen. Wie gut diese Verbindung funktioniert, zeigt sich bei einer Studie, die derzeit an 23 Standorten deutschlandweit läuft. Sie soll Antworten auf die Frage geben, ob Sport in Verbindung mit einer mediterranen Diät das Risiko bei erblich vorbelasteten Frauen senkt, an Krebs zu erkranken. „Wir in Berlin hatten so viel Zulauf, dass unser Studienanteil schon ausrekrutiert ist“, sagt Dorothee Speiser.

Ihre Patientinnen erfassen schnell die Vorteile von körperlicher Aktivität, sogar während einer Akutbehandlung und auch für die Psyche. „In therapeutischen Gesprächen wird mir oft die Frage gestellt: ,Was kann ich tun?‘ Durch Sport, durch die Beschäftigung mit dem eigenen Körper, haben die Frauen ihr Wohlbefinden mit in der Hand.“

In der niedergelassenen Kollegenschaft könnte das Bewusstsein für die heilsamen Seiten des Sports durchaus noch stärker ausgeprägt sein. Dorothee Speiser formuliert das diplomatisch so: „Ich glaube, dass die Konzentration oft auf der Therapie liegt und dabei ergänzende Strategien aus dem Blick geraten.“

OnkoAktiv-Zentrum macht sich bei Berlins Ärzten bekannt

Das glaubt Verena Krell auch. Deshalb schreiben sie und ihr Team gerade niedergelassene Onkologen in Berlin an, verschicken Informationsmaterial. „Sie sollen wissen, dass es unser OnkoAktiv-Zentrum gibt und dass sie ihre Patienten zu uns schicken können.“ Ihre bisherige Erfahrung: „Behandelnde Ärzte nehmen dieses Angebot dankend an.“

Petra Sommer kann nur allen dazu raten, die an Krebs erkranken. Sie selbst hat ein Jahr lang von der Studie profitiert. Sie hat alle sechs Wochen mit Verena Krell am Telefon gesprochen, über Fortschritte und Rückschläge. Sie führte Buch über ihr tägliches Programm, den Puls, die Art der Bewegung, laufend, radelnd, beim Krafttraining im Fitnessstudio oder auf dem Crosstrainer zu Hause. Sie hat acht Kilogramm abgenommen, hat ihr inneres Gleichgewicht wiedergefunden. Sie sagt: „Ich mache Sport, um in meinen Gedanken zu sein. Viele Dinge bekommen erst ein Gesicht, wenn sie ausgesprochen werden, und Gedanken können ja auch sprechen.“

Im Juni fand ihre Abschlussuntersuchung statt. Petra Sommer kann sich aber weiter an Sportwissenschaftlerin Krell wenden. Wenn sie Fragen hat, macht sie das auch. Den Tracker durfte sie behalten, diese „kleine, hässliche Uhr“, deren Daten nun nicht mehr die Charité auswertet. „Jetzt habe ich eine Vereinbarung mit meinem Sohn. Jetzt sagt er: ,Hey Mama, da hast du aber ganz schön nachgelassen!‘“

Dann steigt Petra Sommer auf ihren Hometrainer. Oder sie macht sich auf ins Wäldchen, diesen Ort zwischen der Metropole und dem Nirgendwo. Es ist ein guter Ort, um in Bewegung zu bleiben.