Onkologe über Missverständnisse

Bei Gesprächen mit Krebspatienten sollte niemand „Das wird nichts mehr“ sagen

Jan Stöhlmacher ist Onkologe, Spezialist für Krebs. Nachdem er selbst zwei Brüder an Krebs verliert, sortiert er sein Leben neu und schreibt ein Buch.

Jan Stöhlmacher, 50, Experte für Krebs und dafür, wie man über diese Krankheit mit Patienten und ihren Angehörigen sprechen sollte. Er kennt beide Seiten.
Jan Stöhlmacher, 50, Experte für Krebs und dafür, wie man über diese Krankheit mit Patienten und ihren Angehörigen sprechen sollte. Er kennt beide Seiten.Berliner Zeitung/Markus Wächter

Am Anfang war dieses Fremdwort, das groß und schwer im Raum stand: Prostata-Karzinom. Ausgesprochen hat es eine Urologin und das Wort traf den Patienten wie ein Schlag. Er schwieg erst einmal, und auch später schwieg er, als die Ärztin ihm noch erklärte, was das bedeutete. Doch zum Glück saß sein Bruder neben ihm im Sprechzimmer, der bat darum, sich zu vertagen, um über die Diagnose und ihre Tragweite Klarheit zu gewinnen.

Jan Stöhlmacher war der Bruder des Patienten, Frank, 48 Jahre alt. Das Gespräch fand im Jahr 2013 statt. Frank starb schließlich an dem bösartigen Tumor. Jan Stöhlmacher hat diese Situation geschildert, aufgeschrieben in einem Buch. Der Titel: „Damit Vertrauen im Sprechzimmer gelingt“, Untertitel: „Ein persönlicher Wegweiser für Patienten und ihre Angehörigen“.

Das war der Anfang vom Ende einer erfolgreichen Karriere, die noch weiter nach oben hätte führen sollen. Der Karriere des Jan Stöhlmacher, 50, Doktor der Medizin, Wohnort Berlin, geboren in Rostock. Er hat in Kiel studiert, ging später nach Los Angeles, ausgerechnet mit einem Stipendium der Mildred-Scheel-Stiftung. Scheel war die Ehefrau des Bundespräsidenten Walter Scheel. Sie war Ärztin und Gründerin der Deutschen Krebshilfe. Sie wollte das Thema vom Tabu befreien.

Seine erste Stelle als Onkologe hatte Stöhlmacher am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf, bevor er als Professor an die Universität Dresden wechselte. Internist und Hämato-Onkologe – Stöhlmacher ist ein Fachmann für Krebs des blutbildenden Systems, auch Leukämie genannt. Doch diesen Beruf hat er aufgegeben, weil er ihn nicht mehr als seine Berufung empfindet.

Vier Jahre nach Franks Tod nämlich erlag der zweite Bruder einem Lungen-Karzinom, Ralph. Stöhlmacher begann zu zweifeln, ob er weiter am Patienten arbeiten wolle, ob er das überhaupt noch könne. „Die Ironie war ja, dass ich als Krebsspezialist bei meinen beiden Brüdern danebenstand und kaum mehr tun konnte, als gute Worte zu finden.“ Stöhlmacher spricht ruhig, berichtet in sachlichem Tonfall über diese Zeit. Wie sehr sie ihn heute noch beschäftigt, verraten seine Augen. Zum Beispiel, als er von jener Ohnmacht erzählt.

„Es ist mir sehr schwer gefallen, meinen Job weiterzumachen“, sagt Stöhlmacher. „Gut, ich hatte jeden Tag mit vergleichbaren Situationen zu tun, aber natürlich ist es etwas anderes, wenn es einen sehr nahen Verwandten betrifft.“ Drei Jahre nach dem Verlust des zweiten Bruders zog er sich zurück, behandelte immer weniger Patienten selbst. Derzeit nimmt der Professor nur noch Prüfungen von Studierenden ab, kommenden Monat ist er deshalb wieder in Dresden. Es könnte ein fließender Übergang werden in ein neues Berufsleben.

Chronisch Kranke und ihre Odyssee durch Sprechzimmer

Nicht immer verläuft eine Krankheit derart dramatisch wie bei Stöhlmachers Geschwistern, wenn auch laut Statistischem Bundesamt allein im Jahr 2020 knapp 340.000 Menschen hierzulande an Krebs verstarben. Die Diagnose ist niederschmetternd, für Patienten, aber auch ihre Angehörigen. Für Patienten gibt es Spezialisten, Psycho-Onkologen, die helfen, mit der Krankheit umzugehen. Für Angehörige gibt es die nicht, und so wird Krebs zu einer Herausforderung für ganze Familien, zu einer Zerreißprobe.

„In meinem Buch habe ich aber bewusst auch andere Erkrankungen thematisiert“, sagt Stöhlmacher. Schließlich sind rund 40 Prozent der Bevölkerung in Deutschland chronisch krank, 30 Prozent leben 20 Jahre oder länger mit einem Befund wie Rheuma, Immundefekt oder Depression. Manche haben eine wahre Odyssee durch Sprechzimmer hinter sich. Oft erweist sich dabei die Verständigung mit den Medizinern als schwierig. „Ich glaube“, sagt Stöhlmacher, „das viele chronisch Kranke, die regelmäßig einen Arzt aufsuchen müssen, mit der Kommunikation unzufrieden sind.“

Diesen Patienten und ihren Angehörigen will sich der Professor zuwenden. Für sie hat er das Buch geschrieben. Ihnen schildert er darin typische Situationen. Stöhlmacher kennt schließlich beide Seiten: die des Arztes und die eines Angehörigen von Patienten. Er hat die Situationen so oder ähnlich selbst erlebt. Einige Episoden hat er sich dagegen erzählen lassen von guten Bekannten, die er mittels Fragebogen zu ihren Erfahrungen interviewte. Entstanden sind sehr persönliche Einblicke.

Manchmal wirken sie verstörend, wie etwa die Geschichte einer Krebspatientin, der ein junger Arzt eröffnet: „Das wird hier nichts mehr.“ Schließlich teilt er der konsternierten Frau mit: „Machen Sie sich eine schöne Zeit, denn es wird nicht mehr lange dauern.“

Manchmal wiederum mögen Ärzte sich gezwungen sehen, eine ungestüme Tochter für eine Weile des Raumes zu verweisen, wie das Stöhlmacher in einem anderen Kapitel beschreibt. Vielleicht aus Argwohn gegenüber dem Onkologen, vielleicht wegen innerer Anspannung hatte es die junge Dame mit ihrer permanenten und penetranten Fragerei übertrieben. „In solchen Situationen gelange ich als Arzt an meine Grenzen“, sagt Stöhlmacher. „Dann ist es schwierig, in der Sache weiterzukommen.“

Manchmal widersprechen sich die Ärzte wie im Fall einer Onkologin, die sagt: „Alles halb so schlimm.“ Ihre Gesten und Mimik jedoch lassen in der Begleiterin der Patientin den Verdacht aufkommen, dass dies nicht stimmt. Die Frau reagiert richtig: Sie bohrt nach. Ein Vater, dessen Kind auf einer Intensivstation behandelt wird, stellt an anderer Stelle des Buches fest: Wenn man etwas nicht verstehe, müsse man fragen.

Stöhlmachers Rat: Patienten sollten selbst Verantwortung übernehmen

Die meisten schweigen stattdessen, das ist Stöhlmachers Erfahrung. Sein Rat: „Patienten und Angehörige sollten sich überlegen, was sie aus einem Arztgespräch erfahren wollen. Sie sollten selbst Verantwortung übernehmen, müssen notfalls mehrfach nachfragen, dürfen davor keine Angst haben.“ Sie haben allerdings auch das Recht zu schweigen. Wie Stöhlmachers Bruder im Sprechzimmer der Urologin.

Der Verlust gleich beider Geschwister durch Krebs hat die Perspektive des Mediziners verändert. „Es ging mir plötzlich selbst so, dass ich aus dem Sprechzimmer kam und irgendwie unsicher war“, sagt er. „Ich bin mit einem schlechten Gefühl rausgegangen, nicht immer, aber häufig.“ Dass er keine Patienten mehr behandeln möchte, will er nicht als Flucht verstanden wissen. „Klar, es gibt Kollegen, die sagen, ich solle mich nicht so anstellen. Das, was mir passiert sei, passiere eben.“

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Jan Stöhlmacher: „Damit Vertrauen im Sprechzimmer gelingt“
Das Buch
Prof. Dr. med. Jan Stöhlmacher:
„Damit Vertrauen im Sprechzimmer gelingt.
Ein persönlicher Wegweiser für Patienten und ihre Angehörigen“,
KVM – Der Medizinverlag,
204 Seiten,
14,90 Euro.

Sicher, er hätte anders reagieren können, meint Stöhlmacher. „Ich hätte zu dem Schluss kommen können, dass ich mich jetzt erst recht noch mehr anstrengen muss.“ Tatsächlich macht er dies nun auch. Allerdings auf eine andere Weise und einem anderen Gebiet: der Kommunikation. Er hält Vorträge vor Selbsthilfegruppen, berät Organisationen, die Patienten vertreten, schreibt Beiträge in Fachzeitschriften. „Künftig will ich mich noch stärker aufs Schreiben verlegen.“

Es gebe für einen Arzt Situationen, in denen es schwerfalle, das Richtige zu sagen, den richtigen Ton zu treffen, sagt Stöhlmacher und es klingt wie ein Zwischenfazit seines bisherigen Berufslebens. „In solchen Momenten können Patienten und Angehörige dem Arzt helfen.“ Damit Vertrauen im Sprechzimmer gelingt.