Neulich hat Jochen Wenzel eine Nachricht aus der Ukraine erhalten. Es waren Worte der Erleichterung, der Freude, adressiert an den Verein Apotheker ohne Grenzen (AoG), dessen Vorsitzender der Mecklenburger ist. Es ging um Verbandsmaterial, 34 Paletten, eine ganze Lkw-Ladung, von Deutschland ins Herz der Ukraine transportiert und schließlich an umkämpfte Gebiete verteilt: Bachmut und Cherson. „Die Empfänger der Lieferung waren extrem dankbar“, sagt Wenzel. „Sie haben uns eingeladen. Wir sollen sie besuchen, wenn der Krieg vorbei ist, sie wollen mit uns feiern.“
Es ist eine Episode aus dem Alltag der Hilfsorganisation. Sie erzählt von einer humanitären Katastrophe, aus einer Perspektive, die in den Nachrichten hierzulande sonst kaum eine Rolle spielt. Sie erzählt von Menschen in Not und Menschen, die diese Not durch ihren ehrenamtlichen Einsatz lindern wollen. Seit 23 Jahren engagiert sich AoG nun schon in Projekten weltweit. Etwa ein Dutzend davon sind langfristig angelegt, laufen über einige Jahre in Afrika, Asien oder Europa, in Haiti, Mexiko, aber auch in Deutschland.
Immer wieder aber kommt es zum Einsatz in einer akuten Krisenregion, der die Apotheker herausfordert. Rund 2300 arbeiten mittlerweile für den Verein. An diesem Sonnabend treffen sie sich in Berlin zur Mitgliederversammlung. Es wird um den Ukraine-Krieg gehen. Und um die Türkei, den Norden Syriens, um Folgen der schweren Erdbeben, die AoG ebenfalls abfedern will.
Die Strategie ist stets ähnlich. „Wir realisieren unsere Projekte im Ausland immer gemeinsam mit Partnern vor Ort“, sagt Wenzel. „Dadurch stellen wir sicher, dass die Hilfslieferungen dorthin gelangen, wo sie gebraucht werden.“ Meist sind es Vereine oder Privatinitiativen, die AoG kontaktieren, die um Medikamente oder Verbandsmaterial nachsuchen. „Auch schicken uns Krankenhäuser Listen mit ihrem Bedarf.“

In die Ukraine gingen inzwischen an die 180 Lieferungen. Oft werden die Hilfsgüter über Rumänien eingeführt und an der Grenze von ukrainischen Logistikunternehmen übernommen. Teilweise gelangen die Transporte nonstop von Berlin aus ans Ziel. Alle Projekte finanziert AoG über Spenden, auch die Akutversorgung der ukrainischen Bevölkerung. Wenzel erklärt: „Die Spendenbereitschaft entwickelt sich parallel zur Nachrichtenlage in Deutschland. Am Anfang erreicht sie immer einen Höhepunkt, flacht dann aber relativ schnell wieder ab. Um Weihnachten nimmt sie noch einmal zu.“
Apotheker schicken 180 Hilfstransporte in die Ukraine
Nach dem Angriff Russlands hielt die Solidarität hierzulande relativ lange an. Im März und April kam sehr viel Geld zusammen, so viel wie sonst in einem Jahr. „Wir haben damals ein ganz neues finanzielles Niveau erreicht“, sagt Wenzel. Doch auch wenn das Interesse offenbar abnimmt, der Bedarf ist weiterhin groß. „Im Akutfall werden zuerst vor allem Antibiotika, Schmerzmittel und Verbandsstoffe benötigt.“ Da die Versorgung mit Arznei insgesamt zum Erliegen gekommen ist, wird bei den deutschen Apothekern das gesamte Spektrum an Medikamenten nachgefragt. Präparate für chronisch Kranke vor allem, Mittel gegen Diabetes, Bluthochdruck, zur Behandlung von Krebs – für Patienten, die mit ihrer Therapie nicht einfach aussetzen können.
Schwierig ist deshalb die Lage vor allem im Westen des Landes, weil dahin viele Menschen aus jenen Regionen geflohen sind, in denen die Schlacht zwischen Invasoren und Verteidigern mit unverminderter Härte geführt wird. In den Kriegsregionen selbst wiederum fehlt es an Verbandsmaterial für die verwundeten Soldaten und verletzten Zivilisten. Wie ein kleines Wunder erschien es den Apothekern von AoG deshalb, als ihnen vor zwei Monaten eine Firma die 34 Paletten offerierte. „Das war für uns ungefähr so, als würden Ostern und Weihnachten auf einen Termin fallen“, erinnert sich Wenzel, der den Transfer damals organisierte.
Auch diese Geschichte erzählt etwas über eine Seite des Kriegs, die in den Nachrichten selten vorkommt. Sie dreht sich nicht um Waffenlieferungen, sondern um das, was mit Waffen passiert. Mehr als 14.000 ukrainische Zivilisten wurden bisher verletzt, mindestens 8500 kamen ums Leben. Die Erdbeben in der Grenzregion zwischen der Türkei und Syrien unterdessen gehören zu den verheerendsten Naturkatastrophen der zurückliegenden hundert Jahre. Mehr als 52.000 Menschen starben, mehr als hunderttausend wurden verletzt.
Die deutschen Apotheker richten ihren Fokus auf den Norden Syriens. „In der Türkei ist die Katastrophenhilfe sehr stark staatlich organisiert“, sagt Wenzel. Zwei AoG-Kräfte reisten bis an die Grenze. „In Syrien ist die Lage ja generell schwierig. Wir waren sehr froh, dass wir überhaupt erst einmal ins Land vordringen konnten“, sagt Wenzel. „Partner vor Ort haben den Bedarf für eine Handvoll Krankenhäuser in der Region ermittelt und schließlich die Logistik übernommen.“
Angespannte Lage auf dem Markt für Medikamente
Erschwert wird die Arbeit der deutschen Ehrenamtler durch die allgemein angespannte Lage auf dem Markt für Medikamente. Viele Substanzen zur Herstellung von Arznei stammen aus Indien und China, wo nicht zuletzt wegen der Corona-Pandemie die Produktion ins Stocken geriet. Nach wie vor sind etliche Präparate in Deutschland rar, kann etwa die Suche nach einem Antibiotikum für Kinder zu einem Telefon-Marathon ausarten. Den Mangel spüren die Helfer von AoG. „Wir bekommen einige Anfragen, die wir nicht bedienen können, weil die gewünschte Ware im Moment knapp ist“, sagt Wenzel. Zuerst werde geschaut, dass der deutsche Markt versorgt sei. „Wir stehen in der Lieferkette ganz am Ende, und das ist ja auch richtig so.“
Hilfe zu leisten in solchen Brennpunkten, ist einer der Gründe, warum AoG im Jahr 2000 ins Leben gerufen wurde. Als Vorbild diente Pharmaciens sans frontières in Frankreich. Der Tsunami 2004 im Indischen Ozean gab der deutschen Organisation einen Schub, brachte ihr neue Mitglieder. Einen großen Teil des ehrenamtlichen Engagements macht die Entwicklungshilfe aus. Die Apotheker reisen auch in Länder, die auf den ersten Blick nicht als hilfsbedürftig für Arzneiversorgung gehalten werden. „In Argentinien sind wir in einem Slum-Gebiet von Buenos Aires aktiv“, sagt Wenzel.
Ein solcher Einsatz geht für die Ehrenamtlichen meist über zwei Wochen. Sie nehmen dafür Urlaub, erhalten keine Aufwandsentschädigung. Wenzel selbst war schon in Nepal, um den Aufbau von Gesundheitszentren in entlegenen Ecken des Landes zu unterstützen. Spannend seien an dieser Arbeit die kulturellen Unterschiede, sagt er. In Nepal wollten sie damals zügig ihren Tagesplan durchziehen. „Unsere Partner haben daraufhin gesagt: ,Nein. Wir gehen jetzt erst einmal Tee trinken.‘ Man lernt viel, auch fürs Leben in Deutschland.“ In diesem konkreten Fall: „achtsam durch den Tag zu gehen“.




