Essay

Reichsbürger, Querdenker und andere Spinner sind keine Gefahr für die Demokratie

Die Medien regen sich gerne auf. Vor allem bei Straßenprotesten und Stürmen auf Parlamente. Doch richtig putschen will gelernt sein. Ein Einführungskurs.

Demonstranten besetzen die Stufen vor dem Bundestag, schwängen Reichsflaggen und rufen eine vermeintliche Revolution aus. Ein Foto von 2020.
Demonstranten besetzen die Stufen vor dem Bundestag, schwängen Reichsflaggen und rufen eine vermeintliche Revolution aus. Ein Foto von 2020.Imago/Jean-Marc Wiesner

Am 30. August 2020 lagen die Nerven blank. Mehrere Hundert Teilnehmer einer Demonstration gegen Corona-Maßnahmen zogen vor den Reichstag, durchbrachen eine Absperrung und „stürmten die Treppe hoch“, von wo sie von mutigen Polizisten, die hoffnungslos in der Unterzahl waren, wieder vertrieben wurden. In manchen Medien wurde das zu einem „Versuch, den Reichstag zu stürmen“.

Niemand konnte ahnen, dass so etwas einige Monate später tatsächlich geschehen würde – allerdings nicht im Reichstag in Berlin, sondern im Capitol in Washington. Für Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, das sei ihm zugutegehalten, war das eine „rechtsextreme Pöbelei“ und ein „Angriff auf das Herz unserer Demokratie“, nicht auf die Demokratie selbst. Der Sturm aufs Capitol dagegen wurde zum Putschversuch, es gab ja immerhin Tote und Randalierer in kuriosem Outfit stürmten bewaffnet und auf der Suche nach Parlamentariern durch die Gänge.

Sind Länder wie Russland und China nicht tief gespalten?

Nun geschah etwas Ähnliches in Brasilia, wo praktischerweise alle zentralen Institutionen der brasilianischen Demokratie auf demselben Platz angeordnet sind: Parlament, Präsidentenpalast und Oberster Gerichtshof.

Liest man die Pressemeldungen, Agentur- und Onlineberichte seriöser Medien in den letzten zwei Jahren, so kommt man zum Schluss, die Demokratie ist weltweit in höchster Gefahr durch unberechenbare Mobs von der Straße, die meistens rechtsradikal sind und besonders gut gedeihen in Ländern, deren Gesellschaften „tief gespalten“ sind. Also fast überall. Denn welches Land ist heute nicht „tief gespalten“, angefangen von den USA über die Türkei, Ungarn, Venezuela, Polen, Italien, Frankreich, Post-Brexit-Großbritannien bis zu, natürlich, wie konnte ich das vergessen, der Bundesrepublik.

Nur Länder wie Russland, Belarus, China und Nordkorea sind seltsamerweise nicht tief gespalten. Obwohl die Demokratie dort selbst unter dem Mikroskop nicht mehr erkennbar ist. Sollte der Ausdruck „tief gespalten“ vielleicht nur ein anderes, sorgsam kodiertes Wort für „demokratisch“ sein?

Gehen wir der Sache nach: Sind Länder, die unsere Medien und Politiker für tief gespalten halten, auch wirklich tief gespalten? Ergibt sich daraus eine Gefahr für die Demokratie? Und wer macht diese Gefahr dann aus: Rechtsradikale Impfgegner, die eine Absperrung durchbrechen? Oder kommt die Gefahr vielleicht von ganz woanders …?

Von den Vorteilen „tiefer Spaltung“

Wer ein Land tief spalten will, sollte ihm eine Verfassung verpassen, nach der sein Präsident direkt vom Volk mit absoluter Mehrheit gewählt werden muss und sehr weitgehende Kompetenzen hat. Das garantiert, dass sich selbst das komplizierteste Parteiensystem vor den Wahlen in zwei unversöhnliche Lager aufspaltet, von denen ja nur eines den Präsidenten stellen kann. Und jeder Wähler nur zwei Optionen hat: den einen Kandidaten zu wählen und den anderen abzulehnen.

Ersatzweise kann man auch das britische Modell anwenden: gar kein Präsident, aber ein Wahlsystem mit Einerwahlkreisen und Mehrheitswahlrecht, das garantiert, das aus jedem Wahlkreis nur ein Kandidat ins Parlament kommt und die auf seine Gegner abgegebenen Stimmen verfallen. Die Kombination aus beidem gibt es in Frankreich, weshalb Frankreich auch ein dankbares Beispiel für alle abgibt, die tief gespaltene Länder suchen.

Solche Wahlsysteme bringen mit ziemlicher Sicherheit immer die eine Hälfte der Wähler gegen die andere Hälfte auf, jedenfalls solange der Wahlkampf dauert. In manchen führt das sogar dazu, dass die Anhänger des einen Kandidaten versuchen, die Anhänger des anderen umzubringen. So geschehen 2007 in Kenia. Danach einigten sich beide Kandidaten aber auf die Bildung einer gemeinsamen Koalitionsregierung, die erstaunlicherweise sogar hielt und für Ruhe sorgte, die bis heute anhält. Ist Kenia also ein tief gespaltenes Land?

Warum sollte Deutschland tief gespalten sein?

In der Bundesrepublik haben wir nichts von alledem. Der Bundespräsident wird von der Bundesversammlung gewählt, manchmal sogar ganz ohne aussichtsreiche Gegenkandidaten, der Bundestag wird nach einem komplizierten Misch-System gewählt, das dafür Sorge trägt, das möglichst wenige Stimmen unberücksichtigt bleiben. Nur wer seine Stimme einer jener Parteien gibt, deren Werte in den Umfragen unter „andere“ abgehandelt werden oder die sich um die Fünf-Prozent-Hürde bewegen, geht das Risiko ein, seine Stimme zu verschwenden.

Aus den drei Parteien der Bonner Republik sind inzwischen sechs geworden, aber kein Präsidentschaftswahlkampf zwingt sie, sich in zwei feindliche Lager zu spalten. Anders als in den Niederlanden, die seit jeher so ein System haben, gibt es nicht einmal Volksabstimmungen, die die eine Hälfte des Volkes gegen die andere aufbringen könnten.

Warum also sollte Deutschland tief gespalten sein? Weil die Leute unterschiedlicher Ansicht sind, weil manche sich impfen ließen und andere nicht, weil circa 85 Prozent der Erwachsenen die AfD ablehnen und 15 Prozent nicht? Weil es die AfD überhaupt gibt? Erinnert sich noch jemand daran, wie es war, als die AfD noch linksradikal war und PDS hieß?

Damals war das Land wirklich gespalten, in Ost und West, mit unterschiedlich hohen Renten, Löhnen, Grundstückspreisen, Ersparnissen und Vermögensverhältnissen. Vielleicht sollte man für solche Verhältnisse einen neuen Begriff einführen: ein zu allertiefst gespaltenes Land? Selbst so eines kann aber demokratisch sein und bleiben. Und selbst eine Allertiefstspaltung führt seltsamerweise nicht dazu, dass Leute mit Reichsfahnen und Aluhüten die Demokratie in Gefahr bringen, indem sie auf den Reichstag zutorkeln.

Nein, davon geht vielleicht eine Gefahr für die öffentliche Ordnung aus, aber nicht für die Demokratie. Das erkennt man, nimmt man diese Befürchtung ernst und rechnet sich aus, was denn geschehen wäre, wenn die Demonstranten im August 2020 in den Reichstag ein- statt nur zu ihm vorgedrungen wären, was geschehen wäre, wenn der Mob in Washington das Capitol dauerhaft besetzt hätte und wie die Randalier-Orgie in Brasilia hätte aussehen müssen, um ein richtiger Putsch zu werden, also etwa so, wie der fehlgeschlagene Militärputsch in der Türkei 2016. Das lässt dann auch den jüngsten sogenannten Putschversuch, in dessen Mittelpunkt ein verwirrter Adliger, ein ehemaliger KSK-Offizier und eine ehemalige AfD-Abgeordnete standen, in einem etwas anderen Licht erscheinen.

Ein Putsch, direkt von der Straße?

Nehmen wir also nicht nur an, die Demonstranten von 2020 wären tatsächlich in den Reichstag eingedrungen und die angeblichen Putschisten aus dem vergangenen Jahr wären sogar unter ihnen gewesen. Und sie hätten unter den Abgeordneten Geiseln genommen, um die Sicherheitskräfte auf Abstand zu halten. Was dann? Was tun, wenn die Vorräte im Lampenladen, der Kantine und dem Käfer-Roof-Top aufgebraucht sind, sich draußen die SEK häuslich eingerichtet hat, alle Fernsehanstalten es ablehnen, die Forderungen der Besetzer zu senden, und die sich nicht einigen können, was sie überhaupt fordern sollen: den sofortigen Abschuss aller Chemtrails über dem Berliner Himmel, den Rücktritt Steinmeiers und Merkels, die Einsetzung eines Prinzen als Reichsverweser und Konkursverwalter der Deutschland GmbH oder die Wiedereinsetzung von Kaiser Wilhelm II., der zur Zeit nicht vorzeigbar ist, weil er seit 1933 in den Niederlanden vor sich hin modert? Die sofortige Abschaffung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht, weil es eine allgemeine Impfpflicht, deren Abschaffung man fordern könnte, ja gar nicht gibt?

Weil keine Regierung solche Forderungen erfüllen würde, selbst wenn sie es könnte, müsste man damit rechnen, dass die Besetzer etwas unwirsch werden und beginnen, die eine oder andere Geisel zu misshandeln oder sogar umzubringen. Worauf der Reichstag ein zweites Mal, dafür aber professionell, gestürmt wird und die überlebenden Reichsbürger und Chemtrail- und Impfgegner für einige Jahre hinter Gitter wandern.

Ein gelungener Putschversuch führt selten zu Strafen

In Washington war die Lage da etwas angespannter, denn niemand weiß, wie sich Donald Trump in so einer Lage verhalten hätte. Immerhin war die alte Regierung noch im Amt und Trumps Innen- und Verteidigungsminister hätten auch einfach Anweisung geben können, abzuwarten, ob die Metropolitan Police mit den Besetzern fertig wird. Daran – und an den Ereignissen in Brasilia – sieht man: Es spielt nicht wirklich eine Rolle, wie radikal ein Mob randaliert und was er in Trümmer legen will, entscheidend ist, wie gut er organisiert ist, wie sich die Institutionen verhalten: die Polizei, die Armee, die Regierung, die Medien.

Die Chance, dass eine mehr oder weniger zufällige Meute eine funktionierende demokratische Regierung stürzt, ist gleich null. Wo das gelungen ist, waren die Proteste nicht spontan, sondern von Teilen des politischen Establishments organisiert, wie bei der Orangenen Revolution in der Ukraine, während des Arabischen Frühlings und während des Euromaidan in der Ukraine 2014. In diesen Fällen hielten sich die Sicherheitskräfte zurück, stellten sich gar auf die Seite der Protestierenden oder sie waren gespalten, wie 2016 in der Türkei, wo eine Minderheit in der Militärführung gegen die Mehrheit putschte.

Auch der angebliche Putschversuch in Brasilia hätte Erfolg haben können, wenn er gut vorbereitet gewesen wäre, die Armee ihn unterstützt hätte und Javier Bolsonaro rechtzeitig aus Florida zurückgekommen wäre, um sich an die Spitze des Aufstands zu stellen. Dann allerdings hätte es die Randalierer gar nicht gebraucht – sondern nur eine entschlossene und einige Militärführung wie 1973 in Ruanda, 1999 in Pakistan und 2006 in Thailand, wo die Machtverhältnisse nach dem Putsch so eindeutig waren, dass es gar keine Unruhen gab, die das Militär hätte unterdrücken können.

Straßenrandale sieht bedrohlich aus, liefert jede Menge Fernsehbilder und Material für Aufregung und Panik in den sozialen Medien, aber sie ist keine Gefahr für die Demokratie. Juristisch ist das übrigens irrelevant: Der seltsame Prinz und der Mann im Bison-Kostüm im Kapitol sind nicht deshalb unschuldig, weil ihr Putschversuch keine Chance auf Erfolg hatte. Das macht sie zu lächerlichen Figuren, aber nicht zu Unschuldslämmern, denn der Versuch des Umsturzes ist strafbar, nicht das Gelingen. Das Gelingen eines Putsches ist für die Putschisten in den seltensten Fällen strafbar.

Die Gefahr kommt aus den Institutionen

Das bedeutet nicht, dass die Demokratie nicht in Gefahr ist. Seit Jahren geht die Zahl der demokratischen Staaten weltweit zurück und in vielen demokratischen Staaten geht die Demokratie langsam, aber sicher vor die Hunde. Da genügt ein Blick auf die Entwicklung in Venezuela, der Türkei, Ungarn, Polen. Dort wird die Demokratie nicht von Straßenmobs, sondern vom politischen Establishment selbst ausgehöhlt, in der Regel, weil die Herrschenden nicht an die Macht, sondern von der Macht, die sie haben, immer mehr wollen.

Das beste Beispiel dieser Tage kommt aus Israel und es hat kaum etwas damit zu tun, dass dort nun die seit 1948 rechtsradikalste, religiös fanatischste und gleichzeitig nationalistischste Koalition an die Macht gekommen ist. Es hat dagegen alles damit zu tun, dass diese nun darangeht, die Gewaltenteilung auszuhebeln, um ihre Macht zu erweitern. Früher jagten Politiker mit diktatorischen Ambitionen Parlamente auseinander oder zerschossen sie sogar, sie sperrten Abgeordnete und politische Gegner ein und ermordeten sie. Das sind alles spektakuläre Aktionen, die das Ausland aufbringen, das Risiko bergen, neutrale Bürger zu erbosen und die Opposition zu mobilisieren.

Sie schrecken Touristen und Investoren ab, jagen die Zinsen in die Höhe, drücken die Börsenwerte und den Kurs der Landeswährung in den Keller und erschweren es, das Land mithilfe von ausländischen Krediten wieder ruhigzustellen. Will man das vermeiden, attackiert man eine Macht, die sich nicht wehren kann: die Justiz. Deren Angehörige sind darauf trainiert, apolitisch bis zur Selbstverleugnung zu sein. Man kann sie politisch, medial und sogar körperlich angreifen und dabei sicher sein: Sie werden sich nur juristisch dagegen wehren.

Man kann sogar die Öffentlichkeit auf die eigene Seite ziehen, indem man ihr – wie seit 2016 in Polen, seit 2010 in Ungarn und jetzt in Israel – einredet, Richter usurpierten ihre Macht, weil sie ja niemand demokratisch gewählt hat. Und dann wechselt man Richter, Staatsanwälte und Polizeioffiziere aus, bis Recht und Ordnung mit dem übereinstimmen, was die Regierung will. Danach kann man einfache Gesetze erlassen, die gegen die Verfassung verstoßen und die das ausgewechselte Verfassungsgericht dann für verfassungskonform erklärt – das ist die polnische Version dieser Art von „Demokratie“.

Die israelische ist, das Parlament den Obersten Gerichtshof einfach überstimmen zu lassen, wie es das in Polen früher auch gab – in der Verfassung der kommunistischen Volksrepublik. Man kann natürlich auch – das ist die ungarische Variante – mit einer entsprechenden Parlamentsmehrheit einfach die Verfassung so ändern, dass sie anschließend nicht mehr demokratisch ist, dann entgeht man dem Problem, etwas Undemokratisches zu tun, das gegen die Verfassung verstößt. Und man kann, das ist die Maduro-Methode, einfach ein Gegenparlament wählen lassen, wenn einem die Zusammensetzung des bestehenden Parlaments nicht passt und man Grund zur Vermutung hat, dass die nach Neuwahlen auch nicht besser wird.

Spinner sind keine Gefahr für die Demokratie

Das alles sind Methoden, die langfristig zur Erosion und Abschaffung der Demokratie führen, aber das Risiko minimieren, das Ausland auf die Palme und die eigene Bevölkerung auf die Straße zu treiben. Wobei Letzteres noch das kleinste Übel ist, denn, wie man jetzt ja weiß: Ein Mob kann noch so wütend sein, er kann die Regierung nicht stürzen, solange sie einigermaßen funktioniert und Armee und Polizei bei der Stange bleiben.

Das letzte Mal, als man das in einem zutiefst, ja sogar zu allertiefst gespaltenen Land beobachten konnte, war während der Gelbwestenproteste in Frankreich 2018, in denen manche Kommentatoren schon die Vorboten einer neuen französischen Revolution sahen. Aber ob die Wutbürger auf der Straße rechts- oder linksradikal, Reichsbürger, Impfgegner, QAnon-Anhänger oder Linksradikale sind, ob sie Aluhüte oder gelbe Westen tragen, spielt eigentlich keine Rolle.

Wichtig ist nur: Wie gut sind sie organisiert, und können sie damit rechnen, dass wenigstens ein großer Teil von Polizei, Justiz, Armee und Öffentlichkeit mit ihnen sympathisiert? Wenn nicht, sind sie vielleicht im juristischen Sinne staatsgefährdend, aber trotzdem keine Gefahr für den Staat oder die Demokratie.

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