Essay

Hobbyhistoriker Wladimir Putin: Er will für Ukrainer eine Art Nürnberger Prozess

Der russische Präsident Wladimir Putin hat sich mit russischen Menschenrechtsexperten getroffen. Dabei ging es allein um Propaganda für sich und gegen den Westen. Ein Kommentar.

Wladimir Putin: ein Bild vom Dezember 2022.
Wladimir Putin: ein Bild vom Dezember 2022.imago/Pavel Bednyakov

Am 7. Dezember 2022 traf sich Wladimir Putin mit den Mitgliedern des Präsidialrates für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte. Dieser von Wladimir Putin am 6. November 2004 gegründeten Institution kommt eine beratende Funktion zu. Die Hauptaufgabe des Menschenrechtsrates besteht in der Ausarbeitung von Vorschlägen zur Verbesserung des Schutzes der Rechte und Freiheiten der Bürger und der Koordination der Tätigkeit von Nichtregierungsorganisationen. 

Die Themenfelder derartiger Treffen sind im Wesentlichen vorhersehbar und problemlos austauschbar: Erfolge im Bereich des Menschenrechtsschutzes, Gesetzgebungsmaßnahmen zur Unterstützung der Nichtregierungsorganisationen, Kritik an den „ins Absurde verkommenen“ Werten des Westens, Leugnung der Universalität der Menschenrechte unter Hinweis auf historische, religiöse und kulturelle Besonderheiten usw.

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Zum Autor
Dr. Alexander Dubowy ist Politik- und Risikoanalyst sowie Forscher zu internationalen Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum. Er ist Mitarbeiter der Berliner Zeitung am Wochenende.

Gleiches hätte auch für die Inhalte des jüngsten Treffens gelten sollen, doch neben den allzu bekannten Themen gewährte der russische Präsident Einblick in die Untiefen seines Geschichtsverständnisses sowie sein Selbstbild und ermöglichte auf diese Weise, seine Motivation im Hinblick auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine besser zu verstehen.

Souveränität als Grundvoraussetzung des politischen Überlebens

In seinen Ausführungen zeigte sich Wladimir Putin zum wiederholten Male der Überzeugung, dass in der zunehmend komplexer werdenden Welt die Staatssouveränität das absolut entscheidende Kriterium für das staatliche Überleben darstelle. Die Doktrin der Menschenrechte werde vom Westen dazu instrumentalisiert, um die Souveränität der Staaten zu untergraben, um die eigene politische, finanzielle, wirtschaftliche und ideologische Vorherrschaft zu rechtfertigen, so Putin. Die Unfähigkeit, souveräne Entscheidungen zu treffen, gehe mit dem Statusverlust und dem Abdriften in ein de facto koloniales Abhängigkeitsverhältnis einher, so Putin. Letzteres meint der russische Präsident auch als eine kaum verdeckte zynische Spitze in Richtung der EU, die der Kreml in einem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis gegenüber den USA gefangen sieht.

Der gesellschaftspolitischen Souveränität kommt den Ausführungen des russischen Staatschefs zufolge für das Überleben der Gemeinschaft die zentrale Bedeutung zu. Damit meint Putin die Konsolidierungsfähigkeit einer Gesellschaft zur Lösung gesamtnationaler Aufgaben. Als einen der zentralen Bereiche für die Konsolidierungsfähigkeit Russlands bezeichnet Wladimir Putin neben den Fragen der Bildung und Erziehung den Bereich der Kultur.

Menschenrechtsrat als ideologischer Vorkämpfer

Seinen handverlesenen Menschenrechtsrat lobte Putin für die klare Haltung mit Blick auf die sogenannte Spezialmilitäroperation. Die Mitglieder des Rates haben die „wahren Gründe für die Notwendigkeit der Spezialmilitäroperation“ erkannt und kämpfen seitdem gegen „unverhohlenen Rassismus, aggressive Russophobie“ sowie „dreiste und abscheuliche Lügen“, die „von ausländischen Medien und anderen Propagandaquellen“ verbreitet werden, fasste Russlands Präsident die eigentlichen Aufgaben des Menschenrechtsrates in aller gebotenen Kürze zusammen.

Nürnberger Prozesse 2.0

Die russischen Ermittlungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen auf ukrainischer Seite können nach Ansicht Wladimir Putins durch eine neue Staatskommission zentral koordiniert werden. Die Ergebnisse dieser Ermittlungsverfahren werden gegebenenfalls als Grundlage für ein den Nürnberger Prozessen gegen die Nazis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nachempfundenes Kriegsverbrechertribunal dienen.

Diese Überlegungen des russischen Staatschefs deuten sehr klar darauf hin, dass der Kreml selbst die umstrittenste und absurdeste Zielsetzung der sogenannten Spezialmilitäroperation – Entnazifizierung der Ukraine – keinesfalls aufzugeben bereit ist.

Die ewige „Spezialmilitäroperation“ zur Heimholung russischer Gebiete

Im Zuge seiner Ausführungen über Ermittlungen zu mutmaßlichen ukrainischen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen bezeichnet Wladimir Putin die sogenannte Spezialmilitäroperation als einen lang andauernden Prozess, welcher allerdings für Russland bereits positive Ergebnisse in Form von Gebietszugewinnen zeige. So sei das Asowsche Meer zu einem russischen Binnenmeer geworden. Denn bereits Peter der Große habe um den Zugang zum Asowschen Meer gekämpft, so Putin.

Wladimir der ganz Große?

Der Vergleich seines eigenen Wirkens mit den Errungenschaften der zaristischen Epoche und insbesondere mit der Person Peter des Großen ist für Wladimir Putin keinesfalls neu oder überraschend. So hat Putin beispielsweise bei einem Gespräch mit jungen russischen Unternehmern, Ingenieuren und Wissenschaftlern am 9. Juni 2022 im Vorfeld des Sankt Petersburger Internationalen Wirtschaftsforums bereits ähnliche historische Parallelen gezogen.

Damals wechselte Wladimir Putin ganz ohne Vorwarnung das Thema und erinnerte seine Zuhörerschaft an den 21 Jahre andauernden Großen Nordischen Krieg Peter des Großen gegen Schweden. Nach Meinung Putins habe sich seit der Epoche Peter des Großen nichts geändert. Denn auch damals habe der russische Herrscher keine Gebiete erobert, sondern lediglich die verlorenen Ländereien des altostslawischen Staates Rus heimgeholt.

Als die neue Hauptstadt Russlands, Sankt Petersburg, in den von Schweden befreiten Regionen gegründet wurde, wollte kein Staat Europas dieses Gebiet als Teil Russlands anerkennen. Dabei habe Zar Peter nichts weiter getan, als die historisch russischen Gebiete – darunter auch die heute estnische Stadt Narwa – heimgeholt und verteidigt, so Putin.

Auch das Schicksal des modernen russischen Staates bestehe wohl darin, „heimzuholen und zu verteidigen“. Die Verpflichtung zur Heimholung und Verteidigung bilde die Grundwerte und damit das Fundament der Existenz der Russischen Föderation. Um die Herausforderungen erfolgreich meistern zu können, gelte es, diese Pflicht zu akzeptieren. Mit diesem Schlusssatz legte Wladimir Putin seine pseudofatalistische Grundhaltung offen und zeigte eindrucksvoll, dass er in die Annalen der Geschichte seines Landes als einer der zentralen Herrscher Russlands aufgenommen zu werden trachtet.

Der jüngste Hinweis auf die militärisch-historischen Errungenschaften der Petrinischen Epoche war allerdings insofern spannend, als Wladimir Putin sich diesmal nicht nur mit Peter dem Großen gleichsetzte, sondern erstmals sein eigenes Wirken im unmittelbaren Vergleich als höherwertig einstufte.

Putins transzendentes Geschichtsverständnis

Das im Verhältnis zur historischen Faktenlage transzendente Geschichtsbild des Hobbyhistorikers Wladimir Putin sowie insbesondere aber die schamlose Gleichsetzung seiner Person mit Peter dem Großen lassen einen zum wiederholten Male staunend zurück. Darin tritt deutlich die Überzeugung des russischen Präsidenten vom Gedanken des historischen Auserwähltseins zutage. In diese Missionsidee vertieft, krönt sich Putin – darin Napoleon Bonaparte gleichend – gleichsam selbst zum rechtmäßigen quasi-monarchischen Herrscher ganz Russlands.

Wirklich überraschend ist Putins Besessenheit mit dem imperialen Traum vom Russischen Reich im zehnten Monat des brutalen Angriffskrieges gegen die Ukraine freilich nicht. Im Grunde genommen lieferte bereits der in seinen Ausmaßen überraschende Überfall auf die Ukraine sehr klare Indizien für das wohl letzte imperiale Aufbäumen Russlands.

Nato-Osterweiterung war niemals das Hauptproblem

Nunmehr sollte es allen westlichen – und hoffentlich darunter auch deutschen – Politikern, Diplomaten und Intellektuellen endgültig klar werden, dass die Osterweiterung der Nato vom Kreml zu keinem Zeitpunkt als das Hauptproblem bewertet wurde und mit absoluter Sicherheit nicht als eine ernst zu nehmende Begründung oder gar als der eigentliche Auslöser des Angriffskrieges gegen die Ukraine gelten darf.

Aus den gleichen Gründen bleibt die, unter anderem vom französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron vorgeschlagene, Suche nach einer für Wladimir Putin gesichtswahrenden Exitstrategie – abseits des zweifelhaften selbsttherapeutischen Effektes – sinn- und zwecklos.

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