Die Krisen der Gegenwart dominierten auch den Abschlusstag des Berlin Global Dialogue, der neuen deutschen Plattform für den Austausch zwischen Nord und Süd. Der US–Amerikaner Larry Fink, Chef des weltweit größten Vermögensverwalters Blackrock, bezeichnete die „strukturelle Inflation“ als verantwortlich für die rezessiven Trends der Weltwirtschaft. Es sei die erste Inflation dieser Art seit mehr als 30 Jahren – und als solche eine unmittelbare Folge des De-Risking und De-Coupling in den Ost-West-Beziehungen.
Drei Jahrzehnte lang sei China der günstigste Produktionsstandort und Russland der günstigste Energielieferant gewesen. Doch angesichts neuer geopolitischer Spannungen nehme man diese Lieferketten als gefährliche Abhängigkeiten wahr. Ihre Ablösung und der Aufbau alternativer – teurerer – Lieferketten verliehen der globalen Inflation erst das eigentliche Momentum.
„Wir leben in einer multipolaren Welt“
Die Globalisierung sei nicht tot, so Fink, sie werde aber umgebaut, gewissermaßen neu erfunden. Er sieht ein weiteres Problem unserer Gegenwart, ein mentales: der Mangel an Optimismus. Kapitalismus lebe vom Vertrauen. Ohne Vertrauen in die Stabilität der jeweils vor uns liegenden 30 Jahre würden wir weder sparen noch investieren; das gelte quer durch alle Volkswirtschaften. Dieses Vertrauen sieht Fink als global beschädigt an. Auslöser seien die Pandemie, der russische Krieg in der Ukraine und der Klimawandel. Entscheidend sei jetzt, dass die Führungskräfte in den Unternehmen und der Politik Hoffnung vermittelten.
Das Wort Geopolitik, jahrzehntelang als überholt erachtet, durchzog sämtliche Diskussionen: Geopolitik auf dem westlichen Balkan, Geopolitik und neue Weltwirtschaftsordnung, die Geopolitik kritischer Rohstoffe, geopolitische Risiken und die Privatwirtschaft. Eine neue Rivalität, die sich an den Polen USA und China festmacht, beherrscht die Weltsicht im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Für Deutschland und Europa, auch das zeigte der Berlin Global Dialogue, ergeben sich durchaus unterschiedliche Optionen. Eine ist, die Bedeutung der sino-amerikanischen Rivalität nicht zu überschätzen. Ihr neigt der Bundeskanzler zu, der überraschend klar bekannte: „Wir leben in einer multipolaren Welt.“
Ägypten, Saudi Arabien und die Emirate öffnen sich in Richtung China
Eine andere Option ist die Wahrnehmung der Welt als bipolar, kombiniert mit kompromissloser Parteinahme zur Verteidigung westlicher Dominanz. Als ihr Vertreter erwies sich Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner, der den Kanzler aus dem Publikum heraus mit der Frage konfrontierte, warum die USA, die EU, Indien und Afrika nicht viel stärker als gemeinsame Front gegen China aufträten. Döpfner sprach im Kontext der chinesischen CO2-Emissionen, doch die Stoßrichtung seines Arguments war offensichtlich.
Dabei bestimmt nicht der Westen, inwieweit die Welt bipolar oder multipolar sein wird. Die Chinesen bestimmen es auch nicht. Schon die globalen Reaktionen auf den russischen Angriffskrieg haben deutlich gemacht, dass die übrige Welt sich nicht mehr vereinnahmen lässt. Die Afrikaner werden sich nicht an der Seite des Westens gegen China positionieren; ebenso werden sie sich hüten, ihre Abhängigkeit von China zu vergrößern. Ein anderes Beispiel ist der Nahe und Mittlere Osten. Ägypten, Saudi Arabien und die Emirate öffnen sich in Richtung China und Brics, ohne die Kontakte zum Westen zu vernachlässigen.
Die Neue Seidenstraße der Chinesen ist kein anti-westliches Projekt
Mit Blick auf die Schwergewichte USA einerseits und China andererseits kann zwar von technologisch-ökonomischer Bipolarität die Rede sein. Doch anders als im Kalten Krieg vor 1990 sind die Pole heute nicht in der Lage, die übrige Welt zur Parteinahme zu bewegen. Verglichen mit damals ist die Welt des 21. Jahrhunderts ungleich komplexer.
Unser mediales und politisches Denken verharrt derweil in etablierten Schwarzweiß-Mustern. So werden die Brics oder die Shanghaier Sicherheitsorganisation SCO gern als „anti-westliche“ Konstrukte dargestellt. Dabei sind sie das von ihrem Selbstverständnis her genauso wenig wie die G-7 ein anti-chinesisches Format.
Das gleiche gilt für die globale Infrastruktur. Die Neue Seidenstraße der Chinesen ist kein anti-westliches Projekt, so wie auch das kürzlich vorgestellte, vornehmlich aus dem Westen finanzierte eurasisch-atlantische Infrastrukturpaket nicht anti-chinesisch ist. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Teilnahme der Saudis und Inder an diesem Paket zeigt die wachsende Bereitschaft, von der sino-amerikanischen Rivalität zu profitieren.
Die Bedeutung Zentralasiens ist ohnehin im Aufschwung
Dass chinesische und westliche Investitionen kompatibel sein können, zeigt der sogenannte Mittlere Korridor durch Zentralasien und den Kaukasus. Mit dem Ukrainekrieg ist das Interesse an Ost–West–Verbindungen außerhalb des russischen Territoriums allseits gestiegen. Seit 2022 wird die CKU-Eisenbahn von China über Kirgisistan nach Usbekistan realisiert. Zeitgleich holt man transkaspische Projekte aus der Schublade: Gaspipelines und Fährverbindungen für Eisenbahnen quer über das Kaspische Meer nach Aserbaidschan. Am Mittleren Korridor sind Europa, China und die Anrainerstaaten gleichermaßen interessiert.
Die Bedeutung Zentralasiens ist ohnehin im Aufschwung. Parallel zum Berlin Global Dialogue trafen die fünf Präsidenten aus Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan den Bundeskanzler zum ersten C5+1-Dialog mit einem europäischen Regierungschef. Im gleichen Format waren sie in der Vorwoche bei US-Präsident Joe Biden in New York.
Zentralasiatisch-deutsche Regionalpartnerschaft
Geschwächt durch ihren Krieg in der Ukraine verlieren die Russen nicht nur im Kaukasus an Autorität. In Zentralasien stärkt das den Einfluss der ohnehin mächtigen Chinesen. Ende 2019 betrug der chinesische Anteil an den ausländischen Direktinvestitionen in Usbekistan über ein Viertel. An zweiter und dritter Stelle folgten Russland und die Türkei, danach Deutschland mit 3,3 Prozent. Waren zu den Hochzeiten der deutsch-russischen Beziehungen rund 6000 deutsche Unternehmen in Russland aktiv, sind es im 36-Millionen-Markt Usbekistan gerade eine Handvoll.
Bei einem am Freitag vom Ost-Ausschuss organisierten Treffen mit dem usbekischen Präsidenten waren die Chefs von Siemens Energy und Knauf Gips anwesend, ebenso Vertreter der GP Günter Papenburg, Linde Gas, anderer Unternehmen und diverser Finanzinstitute. Mit im Saal waren auch Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt und der Wirtschaftsstaatssekretär Udo Philipp.
Noch geht die Berliner Politik das zentralasiatische Terrain mit seiner fremden Kultur und Gesellschaftsordnung in vorsichtigen Schritten an. Nach Informationen der Berliner Zeitung drehte sich das Gespräch der Präsidenten mit dem Bundeskanzler um wirtschaftliche Zusammenarbeit, Energieversorgung, Klima- und Umweltschutz, Nachhaltigkeit und zwischenmenschliche Kontakte. Dem Klima- und Umweltschutz soll auch die Wiederholung im kommenden Jahr gewidmet sein. Vereinbart wurde zudem eine strategische zentralasiatisch-deutsche Regionalpartnerschaft.
Freund-Feind-Schemata funktionieren nicht
Implizit lautet die Frage aus Taschkent, Astana und den anderen Hauptstädten: Wo sehen Deutschland und Europa ihre Rolle in dem sich verändernden geopolitischen Kraftfeld des Riesenkontinents Eurasien? Darin liegt auch eine Herausforderung. Multipolarität bedingt Augenhöhe; das schließt solche Pole ein, deren Wert- und Ordnungsvorstellungen nicht eben deckungsgleich sind.
Das C5+1-Gespräch und der Berlin Global Dialogue haben gezeigt, dass der Bundeskanzler die Alternativlosigkeit (und die Potenziale) des multipolaren Neben- und Miteinanders erkennt. Es wird dem Westen nicht gelingen, Afrika, Zentralasien oder andere in bipolare Fronten einzureihen. Das zeigt bereits der rechtlich und moralisch vergleichsweise klare Fall Russland nach dem Februar 2022. Die Mehrheit der Weltbevölkerung verweigert sich bipolaren Rivalitäten ebenso wie simplistischen Mustern: scharz oder weiß, Gut oder Böse, Demokratien oder Autokratien und so fort.












