Tagung

Olaf Scholz in der ESMT in Berlin: „Die Welt ist bereits multipolar“

In Berlin-Mitte findet erstmals der Berlin Global Dialogue statt. Es sind auch Repräsentanten aus China da. Aber nicht aus Russland. Ein Bericht.

Olaf Scholz im Gespräch mit der afrikanischen Allianz–Chefin Delphine Traoré (l.)
Olaf Scholz im Gespräch mit der afrikanischen Allianz–Chefin Delphine Traoré (l.)AFP

Bis zuletzt war die Premiere des Berlin Global Dialogue in Nebel der Geheimhaltung gehüllt. Selbst das Programm wurde den akkreditierten Medienvertretern erst am Vortag zugestellt. Unter der Rubrik Teilnehmer listete die Veranstaltungs-Webseite gerade einmal 34 Namen. Immerhin waren es veritable VIP: Präsidenten, Premiers und Kanzler, Minister, Großunternehmer, Vorstandsvorsitzende und Topmanager.

Aufklärung kam gegen Mitternacht vor Veranstaltungsbeginn. 650 registrierte Teilnehmer aus insgesamt 73 Staaten. Rund 400 erschienen zum Auftakt-Panel unter dem Dach der European School for Management and Technology (ESMT) im einstigen DDR-Staatsratsgebäude. Die zweitägige Konferenz am Donnerstag und Freitag dieser Woche steht im Zeichen des Wandels: hin zu einer neuen Weltwirtschaftsordnung, hin zu CO2-freien Technologien, hin zu einer gerechteren Gesellschaft.

Die Welt entwickele sich zunehmend in Richtung Multipolarität

Initiator des Berlin Global Dialogue ist Lars-Hendrik Röller, Wirtschaftsprofessor an der ESMT und zuvor zehn Jahre lang Wirtschaftsberater von Angela Merkel. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung sagte er, Berlin und Deutschland könnten stolz sein, mit der neuen, künftig alljährlich geplanten Plattform eine Begegnungsstätte für den globalen Austausch zu besitzen. Röller betont die gleichwertige Bedeutung der drei Namensbestandteile Berlin, global und Dialog. Berlin sei ein Symbol überwundener Spaltung; die multiplen Krisen der Gegenwart seien globaler Natur, egal ob Erderwärmung, Migration oder Inflation; der drohenden neuen Blockbildung könne man nur auf dem Weg des Dialogs begegnen.

Die Welt, so Röller, entwickele sich zunehmend in Richtung Multipolarität – Bundeskanzler Olaf Scholz wird später am selben Ort sagen: „Die Welt ist bereits multipolar.“ In diesem Umfeld versteht Röller den Berlin Global Dialogue als Beitrag zur Moderation. Er erinnert zudem an die Risiken. Wenn Multipolarität zu wachsender Konfrontation und Polarisierung führe, seien die ökonomischen Errungenschaften der Globalisierung unmittelbar bedroht: die Nutzung komparativer Kostenvorteile, die Optimierung von Lieferketten, der Abbau von Protektionismus und die Vereinheitlichung von Werten und Standards.

Die Chinesen sind unterrepräsentiert

Zu seinen Zielen zählt Röller das Gespräch über neue Blockgrenzen hinweg. Streng genommen würde das bedeuten, dass auch Gäste aus Russland oder dem Iran anwesend sein müssten. Das Fehlen iranischer Teilnehmer sei in der Tat bedauerlich, doch aus Russland habe man des Angriffskriegs in der Ukraine wegen bewusst niemanden eingeladen.

Auch die Chinesen sind unterrepräsentiert. Von den über 120 Panel-Teilnehmern kommen nur drei aus der Volksrepublik. Ein Pekinger Minister steht exklusiv für einen Kreis eingeladener Teilnehmer zur Verfügung. Röller sieht allein darin einen Erfolg. Es sei schwer genug gewesen, chinesische Repräsentanten überhaupt nach Berlin zu bewegen.

Der Globale Süden wird an fossilen Energieträgern festhalten

Im Eröffnungspanel am Donnerstagmorgen ging es um die Frage, wie Privatkapital für die globale Transition hin zu einer CO2-freien Energieerzeugung mobilisiert werden kann. Auf dem Podium saßen der Vorsitzende des Europäischen Rats, die indonesische Finanzministerin und führende Unternehmensvertreter aus den USA, Deutschland und Indien.

Rasch wurde deutlich, aus welchen Gründen der Süden noch Jahrzehnte an der fossilen Energieerzeugung festhalten wird. Das verbreitete Bevölkerungswachstum, der Nachholbedarf bei der Industrialisierung und Schwierigkeiten bei der Finanzierung zwingen die Staaten, weiterhin auf billigen Kohlestrom zu setzen.

Das Beispiel Kasachstan

Eine Teilnehmerin aus Südafrika illustrierte das Dilemma am Beispiel ihrer Heimat. Der südafrikanische Stromversorger Eskom versuche seit Jahren vergeblich, die dringend erforderlichen zusätzlichen Kapazitäten zu finanzieren. Erneuerbare Energien scheiterten an mangelnder Rentabilität, fossile Erzeugung sei für die Banken politisch unattraktiv, außerdem störten die viel zu hohen Zinsen.

Dass ehrgeizige Transitionsziele auch den Schwellenländern geläufig sind, bezeugte der Präsident von Kasachstan, Qassym-Schomart Toqajew. Sein an Russland und China grenzendes Land, etwa so groß wie Westeuropa, gewinnt derzeit 70 Prozent seiner Energie aus Kohle – und will dennoch bis 2060 klimaneutral sein. Zumindest ist Kasachstan in der Lage, die eigene Energiewende zu finanzieren. Laut Weltbank-Daten, so Toqajew, haben die kasachischen Rohstoffreserven (darunter große Mengen sogenannte Batterierohstoffe) einen Wert von 46 Billionen US-Dollar. Aktiv warb er für ein größeres Engagement westlicher Unternehmen bei ihrer Ausbeutung und Verarbeitung.

Scholz erteilt dem Revisionismus eine Absage

Bundeskanzler Scholz teilte das Podium mit der afrikanischen Allianz-Chefin Delphine Traoré. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass Afrika an Selbstbewusstsein gewonnen hat. Mit Nachdruck forderte sie mehr Investitionen für ihren Kontinent. Zum Thema Entwicklungshilfe sagte sie: „Immer wenn ich das Wort Hilfe höre, sehne ich den Tag herbei, an dem davon keine Rede mehr sein wird.“

Der Kanzler gab zu bedenken, dass am Ende private Investoren die Entscheidung träfen. Und die verlangten nach den entsprechenden Rahmenbedingungen, mit anderen Worten: Rechts- und Investitionssicherheit. Ein Dämpfer, den er beim Thema Menschenrechte milder formulierte. Die multipolare Weltordnung, so Scholz, bedinge ein Miteinander von Ländern unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Ordnung. Was er anmahnte: „Einige Grundrechte“ für die jeweiligen Bevölkerungen und die Absage an jede Form von Revisionismus (ergänzt um den Hinweis auf den russischen Krieg in der Ukraine).

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