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Nato-Gipfel in Vilnius: Für Russland wird die Einheit der Nato zum großen Problem

Der Nato-Gipfel in Vilnius hat der Ukraine nicht das gebracht, was sich das Land erhofft hatte. Dennoch sind die Ergebnisse sehenswert. Ein Gastbeitrag.

US-Präsident Joe Biden und Nato-Generalsekratär Jens Stoltenberg begrüßen Wolodymyr Selenskyj (v.l.) auf dem Nato-Gipfel in Vilnius.
US-Präsident Joe Biden und Nato-Generalsekratär Jens Stoltenberg begrüßen Wolodymyr Selenskyj (v.l.) auf dem Nato-Gipfel in Vilnius.Kay Nietfeld/dpa

Der diesjährige Nato-Gipfel fand vom 11. bis 12. Juli in der litauischen Hauptstadt Vilnius statt. Nach dem historischen Gipfeltreffen in Madrid im vergangenen Jahr, auf dem die Nato ihr neues strategisches Konzept bekannt gab, ging es auf dem diesjährigen Treffen in Litauen um die gewaltigsten Herausforderungen, vor denen das Bündnis steht, darunter die Stärkung der Nato-Verteidigung und die der Abschreckung, außerdem um die sich entwickelnde internationale Rolle des Bündnisses und auch um die Beitrittspolitik, insbesondere im Hinblick auf die mögliche Mitgliedschaft der Ukraine.

Einen Tag vor dem offiziellen Beginn des Nato-Gipfels in Vilnius wurde eine große Neuigkeit verkündet: Der Nato-Generalsekretär, der türkische Staatspräsident und der schwedische Premierminister haben eine Einigung mit Blick auf die Nato-Mitgliedschaft Schwedens erzielt. Da Recep Tayyip Erdoğan zustimmte, sein Veto gegen den schwedischen Antrag auf den Nato-Beitritt fallen zu lassen, und versprach, die Ratifizierung des schwedischen Beitritts dem türkischen Parlament „so bald wie möglich“ vorzulegen, ist Stockholm einer Vollmitgliedschaft im Bündnis so nahe wie nie zuvor, seit es sich (zusammen mit Finnland) im Mai 2022 um die Mitgliedschaft beworben hat.

Wichtiger weiterer Schritt in der Nato-Strategie

Der Beitritt Schwedens (und der bereits vollzogene Beitritt Finnlands) in die Nato ist eine geostrategische Weichenstellung für die Nato und die euro-atlantische Sicherheit. Doch der Gipfel von Vilnius wird nicht nur wegen dieser Ankündigung in Erinnerung bleiben. Immerhin einigten sich die Nato-Mitgliedstaaten auf eine robustere und ehrgeizigere Verteidigungshaltung (einschließlich einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben) und erklärten sich bereit, die Ukraine einzuladen, künftig Mitglied des Bündnisses zu werden. Darüber hinaus hat die Nato über ihre Rolle in der sich verändernden Sicherheitslandschaft nachgedacht.

Es scheint fast unmöglich zu sein, die von der Nato in Vilnius gefassten Beschlüsse zu reflektieren, ohne die kolossale Bedeutung des letzten Nato-Gipfels zu verstehen, der im Juni 2022 in Madrid stattfand. Während des Treffens in Spanien kündigte die Nato eine neue Strategie bzw. das sogenannte „Strategische Konzept“ an, das als Kompass für das Bündnis dient und das Hauptziel und die grundlegenden Aufgaben der Nato aufzeigt. Das „Strategische Konzept“ der Nato bietet politische Orientierungshilfen und Leitlinien, auf die sich das Bündnis in den kommenden Jahren stützen wird oder sollte. In diesem Zusammenhang könnte der Gipfel von Vilnius als logischer nächster Schritt bei der Umsetzung einer wichtigen Änderung der Nato-Strategie angesehen werden, die vor über einem Jahr in Madrid angekündigt wurde.

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Foto: Privat
Zur Person
Wojciech Michnik ist derzeit Juniorprofessor für Internationale Beziehungen und Sicherheitsstudien an der Jagiellonen-Universität in Krakau. Er ist Transatlantischer Projektkoordinator des Mittel- und Südosteuropaprogramms an der LSE IDEAS an der Jagiellonen-Universität und Mitherausgeber von New Eastern Europe. Er ist ehemaliger Eisenhower Defense Fellow am Nato Defense College in Rom und Fulbright Visiting Scholar am Harriman Institute der Columbia University in New York City. Er promovierte an der Jagiellonen-Universität in Krakau.

Das Zögern der Türkei

Da die Nato in ihrem „Strategischen Konzept“ 2022 feststellte, dass ihre Mitglieder „heute mit tiefgreifenderen Sicherheitsbedrohungen und Herausforderungen konfrontiert sind als jemals zuvor seit dem Ende des Kalten Krieges“, dürfte es kaum überraschen, dass die Nato in Vilnius einen weiteren Schritt zur Sicherung der Verteidigung und Abschreckung des Bündnisses unternommen hat. Zu diesen Beschlüssen gehörten die Aufstellung einer neuen Generation regionaler Verteidigungspläne, um für eine kollektive Verteidigung mit hoher Intensität und in mehreren Bereichen gerüstet zu sein, die Aufrechterhaltung der Verpflichtung zur Stationierung zusätzlicher robuster, kampfbereiter Streitkräfte an der Ostflanke der Nato und die weitere Modernisierung der nuklearen Fähigkeiten der Nato.

Auf dem Madrider Gipfel erhielten Finnland und Schweden eine offizielle Einladung zum Nato-Beitritt. Finnland wurde im April 2023 das 31. Mitglied des Bündnisses, doch Schwedens Weg zum Beitritt wurde durch die türkische Zurückhaltung bei der Durchführung des Ratifizierungsverfahrens blockiert. Dieses Zögern begründete Ankara mit der Tatsache, dass Schweden „Kämpfer der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)“ Unterschlupf bietet, einer Organisation, die in der Türkei, den Vereinigten Staaten und Europa als terroristische Vereinigung eingestuft wird, wie die türkische Regierung erklärte.

Beitritt Schwedens und Finnlands in die Nato

Monatelang geriet das Land in eine diplomatische Sackgasse, da weder der Präsident der Vereinigten Staaten noch der Generalsekretär der Nato die harte Haltung der türkischen Regierung gegenüber Schweden zu beeinflussen schienen. Die Situation wurde auch dadurch nicht besser, dass die Beziehungen zwischen Washington und Ankara durch den türkischen Konflikt mit den kurdischen Kämpfern in Syrien, die von den USA im Kampf gegen die Terroristen des Islamischen Staates unterstützt werden, und durch die Weigerung der USA, F-16-Kampfjets an Ankara zu verkaufen, belastet wurden. Was auch immer am 10. Juli 2023 vereinbart wurde, es ist zu früh, um über die Einzelheiten zu spekulieren.

Aus der Sicht des Ostseeraums und der Sicherheit Mittel- und Osteuropas wird der Beitritt Schwedens und Finnlands in die Nato für alle verbündeten Staaten in der Region eine historische und enorme Veränderung zum Guten bedeuten. Diese geostrategische Entwicklung ist insbesondere für die so genannten Frontstaaten von Bedeutung, d.h. für die Nato-Mitgliedstaaten, die zu Land und/oder zu Wasser an Russland grenzen, nämlich Estland, Finnland, Lettland, Litauen und Polen.

Historische Entwicklung für die Nato

Dies wird eine neue Qualität für das Bündnis einläuten und seine Nord- und Ostflanke wesentlich sicherer machen als bisher. Damit wird nicht nur die regionale Sicherheit gestärkt, sondern auch das gesamte transatlantische Band, denn Finnland und Schweden waren eines der wenigen „fehlenden Teile“ in der Verteidigungsstrategie der Nato. Der Beitritt dieser beiden nordischen Staaten zur Nato ist wahrscheinlich eines der am wenigsten erwarteten Ergebnisse aus der Sicht Russlands.

Mit dem erfolgreichen Beitritt Schwedens zum Bündnis wird die Ostsee praktisch zu einem Nato-Meer, was gleichzeitig die Verteidigungsmöglichkeiten der baltischen Staaten erheblich verbessert. Dies wird Russland dazu veranlassen, seine aggressiven Manöver sowohl in der Ostseeregion als auch an der Ostflanke des Bündnisses zweimal zu überdenken. Da sowohl Helsinki als auch Stockholm auf eine lange militärische Zusammenarbeit mit der Nato zurückblicken können, dürfte ihre Integration in das Bündnis rasch erfolgen. Insgesamt wird dies eine wirklich historische Entwicklung für die Nato sein, die über die Sicherheit des Ostseeraums hinausgeht.

Die Ukraine ist in der Falle

In einer weiteren ironischen Wendung der Ereignisse begründete Präsident Putin die Einleitung der so genannten „besonderen Militäroperationen“ gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 offiziell mit den ukrainischen Bemühungen um eine Annäherung an die westlichen Institutionen, die Europäische Union und die Nato. Mit dem Einmarsch in die Ukraine und der Entfesselung eines umfassenden Krieges gegen sie hat Russland diesen Prozess beschleunigt. Die Ukraine hat sich (nicht nur moralisch) ihren Platz in der Nato verdient, und die Mitgliedschaft im Bündnis scheint näher zu sein als vor Februar 2022. Zur Enttäuschung der ukrainischen Beamten wurde auf dem Nato-Gipfel jedoch kein klarer Zeitplan für die ukrainische Mitgliedschaft festgelegt.

Obwohl diese Logik aus Sicht der Nato und ihrer Mitglieder durchaus vertretbar ist, befindet sich die Ukraine in einem komplexen Paradoxon. Einerseits wird die Nato die Ukraine nicht in das Bündnis aufnehmen, solange auf ukrainischem Gebiet ein Krieg tobt. Das ist aus Sicht der Nato verständlich, da sie befürchtet, dass im Falle eines Nato-Beitritts der Ukraine vor Beendigung des Krieges automatisch die gesamte Nato in den Kriegszustand mit Russland versetzt wird. Außerdem haben einige Verbündete Angst vor einem „entrapment“ – ein Konzept, das beschreibt, wie Staaten ihre Verbündeten in unerwünschte militärische Konflikte hineinziehen können.

Indem die Nato offen erklärt, dass die Ukraine dem Bündnis erst nach Beendigung des Krieges beitreten kann, unterstützt sie andererseits Russlands Strategie, einen langwierigen Krieg auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Schließlich genügt es, einen bestimmten Teil des ukrainischen Hoheitsgebiets zu bombardieren oder Raketen auf eine seiner Provinzen zu richten (wie es Russland seit 2014 im Donbass getan hat), um die Ukraine nicht nur an den Rand des Abgrunds zu bringen, sondern auch um sie auf Jahre hinaus von einer Nato-Mitgliedschaft fernzuhalten. Russland scheint hier ein Druckmittel zu haben, da es den Konflikt einfrieren und wieder auftauen kann, um den ukrainischen Weg zu Stabilität und Frieden zu unterbrechen. Im Hinblick auf die Nato-Mitgliedschaft befindet sich die Ukraine also in einer Falle.

Engagement für die Unterstützung der Ukraine

Unter anderem deshalb sprachen sich einige Politiker und Experten vor und während des Gipfels in Vilnius dafür aus, dass der Ukraine anstelle einer vollen Nato-Mitgliedschaft einige „Sicherheitsgarantien“ angeboten werden sollten, ähnlich denen, die Israel von den Vereinigten Staaten erhielt. Selbst Präsident Biden erwähnte eine solche Möglichkeit in seinem CNN-Interview zwei Tage vor dem Vilnius-Gipfel: „Die Vereinigten Staaten wären bereit, Sicherheit zu bieten, wie wir sie Israel bieten, indem sie die Waffen und die Fähigkeit zur Selbstverteidigung bereitstellen (...)“.

Das Problem bei diesem Vorschlag ist ein zweifaches. Erstens geht es der Ukraine nicht um „Sicherheitsgarantien“ (dafür ist es zu spät), sondern um eine systematische militärische Unterstützung; zweitens befindet sich die Ukraine, die von einer Atommacht angegriffen wurde, natürlich nicht in der Situation Israels, das übrigens angeblich selbst über Atomwaffen verfügt und eines der modernsten Militärs der Welt hat.

Ungeachtet der anfänglichen Enttäuschung der Ukrainer markierte der Nato-Gipfel in Vilnius einen weiteren wichtigen Meilenstein auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft der Ukraine in der Nato. Die Verbündeten bekräftigten und verstärkten ihr Engagement für die Unterstützung der Ukraine und deren Aufnahme in die Nato. Dem Gipfelkommuniqué zufolge wird das Bündnis „die Ukraine (...) auf ihrem Weg zu einer künftigen Mitgliedschaft unterstützen“, da die Nato „in der Lage sein wird, eine Einladung an die Ukraine zum Beitritt in das Bündnis auszusprechen, wenn die Bündnispartner zustimmen und die Bedingungen erfüllt sind“. 

Es wurden wichtige Weichen gestellt

Vielen Ukrainern, darunter auch Präsident Zelensky selbst, war diese Formulierung zu vage, da sie keinen konkreten Zeitplan für die ukrainische Mitgliedschaft in der Nato enthielt. Dies war jedoch eindeutig nicht verhandelbar, da es innerhalb des Bündnisses keinen Konsens über die Festlegung eines Beitrittsdatums für die Ukraine gibt, solange das Land vom Krieg heimgesucht wird. Was den Ukrainern das Schlucken dieser bitteren Pille etwas erleichtern dürfte, ist die feste Zusage der Nato, die Ukraine politisch zu unterstützen und ihr im Rahmen des „Umfassenden Unterstützungspakets“ nicht-tödliche Mittel für die Verteidigung der Ukraine zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus kündigten die Verbündeten an, die Beziehungen zu Kiew von der bestehenden Nato-Ukraine-Kommission auf einen neuen Nato-Ukraine-Rat umzustellen. Dieser Rat wird als Plattform für Konsultationen, Entscheidungsfindung und Krisensitzungen dienen.

Auf dem Nato-Gipfel in Vilnius haben die Mitgliedstaaten nicht nur die notwendigen Schritte zur Umsetzung der im letzten Jahr in Madrid gefassten Beschlüsse unternommen, sondern es ist ihnen auch gelungen, sich mit den bestehenden externen und internen Herausforderungen zu befassen, mit denen 31 (bald 32) Nato-Mitglieder konfrontiert sind. Außerdem wurden die Weichen für das Gipfeltreffen in Washington im nächsten Jahr gestellt, auf dem das 75-jährige Bestehen der Nato gefeiert wird.

Die Nato wird für eine lange Zeit da sein

In Bezug auf die Ukraine zeigte die Nato Engagement und erinnerte alle daran, dass das Bündnis eine auf Konsens basierende Organisation von Staaten ist, die sich nicht immer in allen wichtigen Fragen einig sind, einschließlich der Einzelheiten der künftigen Mitgliedschaft der Ukraine. Eine zweideutige Formulierung des Kommuniqués, die einige Kontroversen zwischen den Ukrainern und ihren entschiedensten Befürwortern innerhalb des Bündnisses auslöste, könnte ein Hinweis auf diese Tendenz gewesen sein.

Da der Krieg Russlands in der Ukraine jedoch weitergeht, ist es für die Nato und ihre Mitglieder wichtig, geduldig zu bleiben und den ukrainischen Sieg im Auge zu behalten. Wie der Nato-Generalsekretär in seinem Essay für Foreign Affairs (10. Juli 2023) schrieb, würde ein falscher Frieden Moskau nur Zeit geben, sich neu zu formieren, aufzurüsten und erneut anzugreifen. Daher müsse die Nato „den Kreislauf der russischen Aggression durchbrechen, und der beste Weg, morgen einen dauerhaften Frieden zu erreichen, ist die Unterstützung der Ukraine, damit sie sich jetzt als souveräne Nation durchsetzt“. Während das diplomatische Geschwätz des Gipfels abklingt und die Stimmen der Kommentatoren verstummen, ist vielleicht die obige Erinnerung daran, dass die Nato für eine lange Zeit hier ist, die wichtigste Erkenntnis aus der Tagung des Bündnisses in Vilnius.

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