Man kann es nicht anders beschreiben: Recep Tayyip Erdogan ist der strahlende strategische Sieger des Nato-Gipfels von Vilnius. Der türkische Präsident wird schon seit Jahren, spätestens aber seit dem Putschversuch von 2016, von der Vorstellung gepeinigt, dass man im Westen – vor allem aber in Washington – an seinem Sturz arbeitet. Diese Vorstellungswelt Erdogans, was immer man von ihm halten mag, basiert vielleicht nicht nur auf Trugbildern.
Lange Zeit war man in Washington um Zurückhaltung bemüht, die innenpolitischen Zustände in einem der wichtigsten Nato-Staaten zu kommentieren. Seit damals aber begannen die westlichen Medien, innenpolitische Ereignisse in der Türkei hochzuspielen, nicht etwa den jahrzehntelang tobenden Konflikt in den kurdischen Ostgebieten, nein, sondern die Demonstrationen zur Rettung des Gezi-Parks in Istanbul, welche zu einem Volksaufstand aufgebauscht wurden.
Die Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Ankara und Tel Aviv warf Schatten auf die Strategie der Amerikaner, welche auf das Engste mit Israel verkoppelt ist. Der Clash zwischen den USA und der Türkei gipfelte dann in der Forderung Erdogans, den ältlichen Führer und Gründer der Gülen-Bewegung auszuweisen und den türkischen Behörden zu übergeben.
Nato-Staaten am Nasenring durch die Manege gezogen
In Washington ist man sich nur allzu sehr der Tatsache bewusst, dass die Türkei – aufgrund ihrer Geografie, ihrer geopolitischen Ausgangslage, ihrer Bevölkerungszahl und militärischen Schlagkraft – zu wichtig für die Nato ist, als dass man den offenen Bruch vollziehen könnte. Eher wäre man da schon an einem Ende der Erdogan-Ära interessiert, an einer Renaissance der kemalistischen Militärs auf der politischen Bühne, die dann wie gewohnt willfährig den Vorgaben aus den USA folgen würden.
Dazu kam es bisher nicht. Im Gegenteil, dieses ist seit Vilnius deutlich, Erdogan ist sich seiner Macht bewusst, verärgert Russland, ohne die Beziehungen zu Moskau ernsthaft zu gefährden, was man im Kreml unter keinen Umständen zulassen kann und zieht die Nato-Staaten, welche angeblich westliche Werte verteidigen, wie am Nasenring durch die Manege. Erdogan, der innen- und außenpolitisch vor großen Problemen steht sowie vor noch größeren Aufgaben, flankiert von zunehmenden ökonomischen Schwierigkeiten, denn der ökonomische Aufschwung der Vergangenheit ist vorbei – der vor allem das sunnitische Kleinbürgertum, also einen Großteil der türkischen Bevölkerung zu nie gekannten Wohlstand geführt hatte, ließ sich sein Votum für eine Nato-Mitgliedschaft vergolden.
Das geopolitische Gewicht der Türkei
Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine, aber auch schon mit Beginn des Konflikts im Jahr 2014, nahm das politische Gewicht der Türkei zu.
Die Türkei ist ja auch einer der Anrainerstaaten am Schwarzen Meer. Die Türkei kontrolliert auch die Zufahrtswege des Schwarzen Meers zum Mittelmeer durch die Meerenge der Dardanellen, welche vollständig zum türkischen Staatsgebiet gehört. Außerdem ist der türkische Präsident, trotz Nato-Mitgliedschaft, in der Position eine eigene Außen- und Sicherheitspolitik zu verfolgen, was in den meisten europäischen Nato-Staaten nur sehr eingeschränkt möglich ist.
Die Nato hat keine Wahl, obwohl die Türkei innenpolitisch sicher nicht dem Märchen von der Allianz der westlichen Demokratien entspricht, welches in den transatlantischen PR-Zentralen unentwegt reproduziert wird, als Ankara gewähren zu lassen.
Der Kuhhandel von Vilnius
Was also einem Kuhhandel gleicht, wird im Nato-Jargon wahrscheinlich als „werteorientierte“ Außenpolitik vermarktet. Der türkische Präsident hat sich bereit erklärt, die Aufnahme Schwedens in die Nato zu ratifizieren. Dafür versprach Stockholm, den EU-Beitrittsprozess der Türkei engagiert zu unterstützen, obwohl das weder im Sinne der Türkei noch der EU wäre sowie das Land bei der Modernisierung der Zollunion mit der Gemeinschaft zu stärken.
Ankara hatte zuvor den Beitritt des skandinavischen Landes verweigert, mit der Begründung, dass das Land „Terroristen“ Zuflucht biete, womit vor allem Mitglieder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und Anhänger der Gülen-Bewegung gemeint sind. In den regierungsnahen Medien der Türkei wurde dieser Durchbruch als Sieg Ankaras gewürdigt, da die Türkei zahlreiche Garantien für die Bekämpfung des Terrorismus und die Unterstützung der EU-Mitgliedschaft erhalten habe.
In Washington drückte man sich nüchterner aus. Präsident Biden begrüßte die Entscheidung Erdogans, ließ aber durch seinen Assistenten für nationale Sicherheitsfragen verlautbaren, dass die Fragen der türkischen EU-Mitgliedschaft und des schwedischen Nato-Beitritts nicht miteinander verknüpft sein.
Das Oberste Gericht Schwedens stoppt Auslieferungen
Sicherlich hat die Türkei in Vilnius ihre geopolitischen Muskeln spielen lassen und ihre Macht demonstriert. Inwieweit die Vereinbarungen von Vilnius von Dauer sein werden, bleibt fraglich.
Schon hat das Oberste Gericht in Schweden die Auslieferung von zwei Menschen nach Ankara gestoppt. Laut Ankara handelt es sich um Mitglieder der Bewegung des muslimischen Predigers Gülen. Als nicht ausreichend seien die von der Türkei vorgelegten Beweise für die mutmaßliche Mitgliedschaft der beiden Männer in einer „terroristischen Vereinigung“, erklärte das Gericht heute. Außerdem wurde den beiden Beschuldigten in Schweden bereits der Flüchtlingsstatus zuerkannt.
Es ist durchaus möglich, dass diese Entscheidung den Streit über die Nato-Mitgliedschaft Schwedens neu entbrennen lassen könnte.




