Raub, Körperverletzung, Einbruch oder sexuelle Übergriffe: Etwa 70.000 Gewalttaten registriert die Berliner Polizei in jedem Jahr. Aufmerksamkeit erregen meist nur spektakuläre Kriminalfälle, viele „kleine“ Fälle sind allenfalls eine Kurzmeldung im Polizeibericht. Doch wie geht es den Betroffenen alltäglicher Kriminalität? Was machen diese Erfahrungen mit ihnen? Die Berliner Zeitung am Wochenende hat mit Menschen gesprochen, die ihr unter anderem von der Opferhilfeorganisation Weißer Ring vermittelt wurden. Die Serie: Die vergessenen Fälle.
Mohammed A. hat sein drittes Leben. Er wurde in Bangladesch geboren, und bei politischen Unruhen bekam er als Zwölfjähriger einen Streifschuss am Kopf ab. Ein Foto hat er aufbewahrt, das ihn mit Kopfverband und blutüberströmtem Hemd zeigt. Er überlebte nur knapp. Und es begann, wie er sagt, sein zweites Leben.
Dieses zweite Leben endete am 28. Oktober vergangenen Jahres in Berlin-Tegel, als er wieder nur durch einen großen Zufall überlebte.
Bis dahin arbeitete der heute 39-Jährige aus Neukölln als Taxifahrer. Er hatte sich im Jahr 2019 selbständig gemacht und eine Unternehmerlizenz erhalten. Kaufte sich einen Mercedes E-Klasse und zahlte regelmäßig die Raten von 450 Euro, zuzüglich Versicherung und Benzin. Von den Einnahmen konnte er leben und seine Frau, seine fünf Töchter und den Sohn ernähren. „Ich genoss die Freiheit und konnte arbeiten, wann ich wollte“, sagt er.
An jenem verhängnisvollen 28. Oktober hatte er zufällig mehr Geldscheine dabei als sonst. Er musste Reifen wechseln und im Landesamt für Mess- und Eichwesen sein Taxameter abgleichen lassen. Sicherheitshalber nahm er mehrere Hundert Euro im Portemonnaie mit, die er aber nicht brauchte. Denn beide Male konnte er mit Karte zahlen.
Auch der Umsatz war an dem Tag gut. Er beschloss, bis zum späten Abend weiterzufahren. Um 19 Uhr machte er Pause in einem Café. Noch immer war er nicht müde. Mal sehen, was der Tag noch bringt. Von der Zentrale kam ein Auftrag nach dem anderen.
Um 1.23 Uhr setzte er einen Kunden am Potsdamer Platz ab. Als er sein Portemonnaie in der Hand hielt und den Fahrgast abkassierte, klopfte ein Mann an der Beifahrerseite. Er muss auch das viele Geld im Portemonnaie gesehen haben.
Sein Fahrgast war ausgestiegen und Mohammed beschloss, doch noch eine Tour zu fahren, obwohl er eigentlich Feierabend machen wollte. Der Mann wollte erst vorn einsteigen, aber der Fahrer bat ihn, hinten Platz zu nehmen. Der neue Kunde wollte nach Tegel in den Kamener Weg. Es war ein schmaler Mann, russischer Akzent. „Er wirkte wie ein Erzieher. Oder wie ein Sozialarbeiter“, sagt Mohammed.
Im Kamener Weg zeigte der Kunde nach rechts, und der Fahrer bog nach rechts ab. Dann wieder links, rechts, links, dann wieder Kamener Weg. Mohammed fragte nach der Hausnummer, der Mann hinter ihm sagte eine Zahl. Mohammed googelte. Die Nummer gab es nicht. Wo der Fahrgast angeblich hinwollte, war nur Wald. Sie standen plötzlich in einer Sackgasse.
Um die Fahrer vor dem Coronavirus zu schützen, sind die Vordersitze der Taxis durch Plastikfolie vom hinteren Teil des Fahrgastraums getrennt. Nur ein Loch zum Gelddurchreichen bleibt. Durch dieses steckte der Fahrgast allerdings kein Geld, sondern seinen Arm durch.
Er stach Mohammed mit einem Messer in den Hals. Der Mann auf der Rückbank war ruhig und sagte nichts, während die Klinge in die Haut des Fahrers schnitt. Mohammed versuchte, das Messer von seinem Hals wegzudrücken.
Der Täter erbeutete 600 Euro
In dem Café, in dem wir uns zum Gespräch treffen, zeigt er seine Narben: die am rechten Zeige- und Mittelfinger von den Schnittwunden, die er sich beim Versuch zugezogen hatte, das Messer wegzudrücken. Und die acht Zentimeter lange senkrechte Narbe an seinem Hals, die von dem Messer stammt. „Ich merkte, dass Blut aus meinem Hals kommt und hatte Todesangst. Ich bin schnell raus aus dem Auto, bin weggerannt. Zum Glück war hinten links die Kindersicherung an der Tür. Die Fahrgäste dürfen nur rechts aussteigen. Das hat mir Zeit verschafft.“
Mohammed ließ die Fahrertür auf, rannte zur nächsten Kreuzung. Der Mann hinten stieg aus, ging um das Taxi herum und griff sich, ganz ohne Eile, durch die offene Fahrertür das Portemonnaie. Dann ging er weg.
Blutüberströmt rannte Mohammed zurück zum Auto und informierte die Taxizentrale. Der Mann in der Zentrale blieb dran. „Warten Sie, legen Sie nicht auf, beruhigen Sie sich, Feuerwehr und Polizei sind unterwegs.“
Der Täter hatte ungefähr 600 Euro erbeutet: das Geld vom Reifenwechsel, vom Taxameter-Eichen, das Wechselgeld, die Einnahmen. An normalen Tagen fuhr Mohammed sonst nur mit etwa 200 Euro herum.
Als er vom Notarzt ins Virchow-Klinikum eingeliefert wurde, waren die Vorbereitungen für die Not-OP schon getroffen. Seine Sachen wurden aufgeschnitten. Die Polizei benachrichtigte seine Familie.
Überall war Blut und Rußpulver
„Als ich aufwachte, war ich froh, dass ich die Sonne noch sehe“, erinnert er sich. „Ich hatte tausende Gedanken im Kopf. Was wäre, wenn ich nicht mehr da wäre? Jedes Mal, wenn ich meine Kinder sehe, bin ich froh, dass ich noch lebe.“ Der Arzt sagte ihm, dass das Messer die Halsschlagader um einen Millimeter verfehlte. Vor ihm auf dem Café-Tisch liegt das Foto, das ihn als blutüberströmten Zwölfjährigen zeigt. „Ja. Und jetzt bin ich im dritten Leben.“
Den Tatverdächtigen ermittelte die Mordkommission schon nach einer Woche. Der 45-jährige Georgi R. sitzt nun in Untersuchungshaft. Am Mittwoch begann vor dem Berliner Landgericht der Prozess gegen ihn. Die Polizei hatte per Funkzellenabfrage festgestellt, wer sich zur Tatzeit in der Gegend aufhielt, sie hatte reichlich Spuren vom Täter gesichert: Fingerabdrücke, DNA, Fasern von seiner Bekleidung.
Sie hatte die Videoüberwachung vom Potsdamer Platz ausgewertet. Die Figur des Tatverdächtigen, seine Bewegungen – alles passte zu den Aufzeichnungen vom Potsdamer Platz, die zeigen, wie der Täter erst vorn einsteigen wollte, aber vom Fahrer nach hinten verwiesen wurde. Das passte zu den Taxameter-Aufzeichnungen, die auf 1.24 Uhr standen, als der Täter einstieg.
Bei der Mordkommission im Landeskriminalamt ist eine Beamtin für die Opferbetreuung zuständig. Sie setzte sich mit der Opferhilfe-Organisation Weißer Ring in Verbindung. Nachdem die Spurensicherung das Taxi freigab, übernahm der Weiße Ring die Kosten für die Reinigung des Autos. Denn überall waren Blut und Rußpulver, das die Spurensicherung mit ihren Zephyr-Pinseln hinterlassen hatte. Der Weiße Ring kam auch für die Erstberatung durch einen Rechtsanwalt auf, zahlte 300 Euro Soforthilfe und in den ersten beiden Monaten die Einkommensausfälle.
Ein hochgefährlicher Killer
Beim Prozessauftakt im Berliner Landgericht saß am Mittwoch ein schmaler, dunkelhaariger Mann auf der Anklagebank. Georgi R. stammt aus Georgien, war erst kurz vor der Tat nach Deutschland eingereist und lebte in einem Asylbewerberheim. Er trug Kopfhörer, durch die er die Simultan-Übersetzung der Dolmetscherin hörte, während die Staatsanwältin die Anklage verlas. Am 19. Mai sollen dann erste Zeugen gehört werden.
Der Verteidiger sagte, dass sich sein Mandant nicht äußern werde. Auf die Frage des Richters antwortete Georgi R., er sei ledig und habe keinen Beruf. Seine Augen gingen hin und her, sie wirkten ängstlich.
Doch wahrscheinlich ist dieser Mann hochgefährlich, vermutet Mohammed. Er beschreibt noch einmal die Ruhe, mit der der Täter ihn angegriffen habe. „Das war kein Anfänger, der herumschreit. So handelt nur ein eiskalter Profikiller.“
Ob er den Prozess in Gänze verfolgen werde, von den Zuschauerplätzen aus oder vielleicht nur per Übertragung aus einem Nebenraum, weiß Mohammed noch nicht. Seine Frau hat vor, an allen Verhandlungstagen an dem Prozess teilzunehmen. Sie sitzt an diesem ersten Tag im Zuschauerraum, begleitet von einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin des Weißen Rings, die auch Mohammed bei seinem Weg durch die Ämter begleiten wird. Denn auf ihn kommt viel Bürokratie zu.
Fahrgäste, die die PIN ihrer Karte „vergessen“ – oder auch wegrennen
Er ist arbeitsunfähig krankgeschrieben und in Psychotherapie, hat Angst, Taxi zu fahren. Und jetzt, da die Sache vor Gericht ist, tun die grauenhaften Erinnerungen umso mehr weh. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass überhaupt mal wieder eine fremde Person in meinem Auto sitzt. Ich bin ja ganz allein im Auto“, sagt er. „Entweder steigt eine nette Person ein - oder auch ein Killer.“
Er hatte schon einen Fahrgast, der beim Bezahlen die PIN seiner Geldkarte nicht wusste. Als Mohammed die Polizei hinzurief, fiel sie ihm plötzlich wieder ein. Er hatte nette junge Leute im Auto, und als sie am Ziel waren, rannten sie weg. Er erlebte schon viele Betrügereien, doch der 28. Oktober hat sein Leben verändert.
Für ihn besteht die Frage, welche finanziellen Folgen der Überfall noch haben wird. Etliche Gutachten müssen geschrieben werden, bis vielleicht das Landesamt für Gesundheit und Soziales nach dem Opferentschädigungsgesetz eine Opferrente zahlt, weil er nicht arbeiten kann. Denn zunächst will die Behörde prüfen, was es bei der Berufsgenossenschaft zu holen gibt oder ob der Täter in Haftung genommen werden kann, was bei dem Georgier wohl nicht der Fall sein dürfte. Einen Bescheid wird er wohl frühestens im nächsten Jahr bekommen.
Mohammeds Ehefrau ist von Beruf Buchhalterin und hat vor kurzem eine Stelle gefunden. Sie muss jetzt die Familie versorgen. 780 Euro Warmmiete müssen sie jeden Monat für die Drei-Zimmer-Wohnung, in der das Ehepaar und die sechs Kinder leben, aufbringen. Mohammed bekommt noch etwas Geld von der Berufsgenossenschaft, auch die Ersparnisse muss die Familie jetzt angreifen. Das Häuschen in Brandenburg, das sie sich schon ausgesucht hatten, ist nur noch ein Traum. Als stolzer Vater konnte er seinen Kindern viele Wünsche erfüllen. Ein neues Handy, neue Turnschuhe, ein neues Kleid bekamen sie letztes Jahr zum Zuckerfest. In diesem Jahr gab es nichts. Und er konnte es ihnen nur schwer erklären. Er habe keine Kraft mehr, sagt er.
Den Streifschuss, den er als Kind abbekam, konnte er noch seelisch gut verarbeiten: Er verließ 1996 Bangladesch – und kam ins sichere Deutschland.
Lesen Sie weitere Teile der Serie „Die vergessenen Fälle“ hier:








